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dazu die Beiträge von Jan M. Boelmann und Lisa König, Clara von Münster- Kistner sowie Heidi Lexe). Ob das Märchen hier nun durch die Überführung in visuel le Formen des Erzählens, durch – mitunter antithetische – Umdeutungen der Figurenc harak terisie rung oder die Möglichkeit eines interaktiven Mitgestaltens einer ästhetisch zwar voll ausgeformten, in ihren inhaltlichen Aspekten aber variablen und konstruktiv erfahrbaren Welt grund legende Veränderungen erfährt, ist im Unterricht von den jeweiligen (technischen) Möglichkeiten und den Erkenntnisinteressen abhängig. Diese lassen sich auch über inhaltlich-thematische Bezüge hinausdenken und können etwa die Erzähltheorie betreffen, deren grundlegende Kate gorien sich am Märchen in seiner oft einfachen, daher »prototypischen« Struktur exemplifizieren und damit einüben lassen. Ein solcher Zugang gibt das Märchen als etwas nicht Zu fälliges und damit in seiner künst lerischen Gemachtheit zu erkennen, wobe i der Unterricht – vielleicht un er warte ter Weise – unterhaltsam und kurzweilig sein kann (siehe dazu den Beitrag von Anita Schilcher und Chris tin a Knott).

      Insbesondere in der Zusammenschau dieser Neu- und Umarbeitungen alter Märchenstoffe und traditioneller Darstellungen wird sich den Leser_innen dieses Heftes das Genre auch als etwas Wundersames insofern präsentieren, als es in den verschiedenen Beiträgen sowohl als die literarische Form der Dichotomien par excellence erkennbar wird – wo sonst gibt sich das Gute und das Böse in der Literatur noch so eindeutig zu erkennen? – als auch als ein hybrides Genre, dessen selbst geschaffene, meist unumstößlich und starr wirkende Kategorien auf allen Ebenen der Kunst mit Leichtigkeit aufgebrochen, bei Bedarf auch in ihr Gegenteil verkehrt werden können. Ob der Wolf nun gut ist oder böse, Rotkäppchen Opfer oder Täterin, letztlich ist das zu einer Frage der medialen Auswahl geworden und lässt sich ebenso auf die eine wie auf die andere Weise beantworten. Gerade hier liegt wohl auch ein größtenteils noch unentdecktes didaktisches Potenzial des Literaturunterrichts mit Märchen, der in dieser Akzentuierung des performativen Potenzials zur Etablierung eines »weiten Blicks« der Schüler_innen, auch auf ethische Fragen, beitragen kann.

      Während das Märchen in den Darstellungsformen der Graphic Novel und des Videospiels tendenziell Althergebrachtes infrage stellt, transformiert oder zumindest in neue Bezüge setzt, ist es andererseits auch das paradigmatische Genre des Bewahrens und Tradierens. In bestimmten kulturellen Ausprägungen des Märchens steht dieser Aspekt ebenso im Vordergrund wie die Fortführung einer im Westen längst nicht mehr omnipräsenten Erzählkultur (siehe dazu den Beitrag von Adams Bodomo), die sich im Unterricht aufs Neue etablieren ließe, ebenso wie eine interkulturelle Perspektive, die Verbindendes wie Unterschiedliches, mitunter auch Unvereinbares als unschätzbar wertvollen Beitrag zu einer diversen Gesellschaft umfassen kann. In diesem Sinne widersetzen sich Märchen den globalen Vereinheitlichungstendenzen, nicht zuletzt in ihren Erzählungen und in den unterschiedlichen Weisen des Erzählens.

      Beachtlich ist in diesem Zusammenhang auch, wie weit das Märchen als Erzählform und einige seiner Motive gereist sind, wie vielfältig und mitunter hochartifiziell die Formen der visuellen und narrativen Rezeption dabei waren und sind. Gerade dieser Zugang, der beispielsweise ein längst bekanntes und eventuell langweilig gewordenes Märchenmotiv in völlig andere als die gewohnten Bezüge zu setzen vermag, kann für Schüler_innen aller Altersstufen in der Sekundarstufe I und II neue und unerwartete Einsichten ermöglichen und das vielleicht schläfrig machende Dornröschen in seiner wesentlich blutrünstigeren französischen Ursprungsversion wieder zum Leben erwecken (siehe dazu den Beitrag von Karin Richter). Um derlei (Ver-)Wandlungen ermessen und eventuell in eigenen produktiven Zugängen weiterspinnen zu können, bedarf es allerdings eines soliden Grundlagenwissens, das in diesem Heft insbesondere der Beitrag von Stefan Neuhaus in verständlicher und dennoch umfassender Form vermittelt. Dieser Artikel legt die geschichtliche Bedingtheit von Märchen und ihre Entstehungszusammenhänge dar und nimmt den hin und wieder verklärt dargestellten Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm die politische Unschuld, indem er sie als ein (inter-)kulturelles Konstrukt zeigt, das heute immense urheberrechtliche Probleme aufwerfen würde und mit den Kunstmärchen, wie sie im deutschsprachigen Raum etwa Ludwig Tieck und E.T.A. Hoffmann hervorgebracht haben, nur entfernt verwandt ist. Dieses Wissen in den Unterricht miteinzubeziehen, ist aus Sicht der Herausgeber - innen unabdingbar, um eine Generation heranzuziehen, die sich der gesellschaftlichen Wirkkraft von Literatur und Kunst erst bewusst werdenmuss.

      Zu guter Letzt wird sich das Märchen den Leser_innen dieses Heftes als ein Alleskönner präsentieren und jene, die es im Unterricht seit Jahren verwenden, werden daran nichts Überraschendes entdecken können. Das Märchen kann Vieles sein, einerseits etwa die Geschichte, die sich »das Volk« erzählt bzw. die es sich erzählen lässt, und dabei die Motive und Themen aufgreift, die uns im Alltag beschäftigen und die so sehr im Alltäglichen und im Existenziellen verwurzelt sind, dass sie auf der ganzen Welt auftauchen. So kann auch der Austausch zwischen Mensch und Tier und die Lehren, die sich aus deren Interaktionen ziehen lassen, durchaus als eine kulturübergreifende Konstante des Genres betrachtet werden, die auch in Adaptionen erhalten bleibt und ihre Wirkung tut (siehe dazu den Beitrag von Polona Zajec). Das Spektrum internationaler Märchen wird durch einen Beitrag aus China ergänzt (siehe den online-Beitrag von Cao Li, https://ide.aau.at/), der dem Zusammenhang der importierten literarischen Gattung Märchen mit Vorläufern in der chinesischen Tradition nachspürt. Andererseits kann das Märchen seine Form verändern, nicht mehr Volks-, sondern Kunstmärchen sein, nicht einfach, sondern reich an Figuren, kontextuellen, philosophischen und historischen Bezügen, selbstreferenziell und dabei nicht nur die Welt außen, sondern auch das eigene Wirken reflektierend (siehe dazu den Beitrag von Viktoria Walter). Kunstmärchen à la Friedrich de la Motte Fouqué und Ludwig Tieck haben ebenso wie das in Georg Büchners Woyzeck integrierte »Antimärchen« ihren Status als klassische Lektüre im Unterricht der gymnasialen Oberstufe behaupten können. Von didaktischem Interesse sind hier nicht zuletzt die Entstehungsgeschichte (auch: des Genres selbst) und die künstlerischen Anliegen der Verfasserinnen, wobei auch die Frage im Hintergrund immer bestehen bleibt, weshalb, auch ganz unabhängig von romantischen Tendenzen, die Literatur ohne das Märchen, dessen Motive und spezielle Erzählweise nicht auskommt – und das bis heute. Dieser Frage im Unterricht Platz einzuräumen, ist ein sinnhaftes Unterfangen, das vermutlich zu einem Nachdenken über die Bedeutung des Geschichtenerzählens einlädt. Für das Volksmärchen wie für das Kunstmärchen, bebildert, aufgeführt, animiert oder nicht, gilt, dass es eine Form der Bildung ermöglicht, die imponiert, ohne zu manipulieren:

      Am ästhetischen Gebilde, und nur an ihm, haben wir gelernt, uns einer nicht-versklavenden Form von Autorität, einer nicht- repressiven Erfahrung von Rangdifferenz auszusetzen. Das Kunstwerk darf uns, den der Form Entlaufenen, noch etwas »sagen«, weil es ganz offensichtlich nicht die Absicht verkörpert, uns zu beengen. (Sloterdijk 2009, S.37)

      Besonders deutlich spricht das Märchen dann zu uns, wenn es sich auf der großen Bühne präsentiert, mit Kostümierung, Bühnenbild, Stimme und anderen Varianten körperlicher Präsenz in Erscheinung tritt. Spätestens dann wird die vielleicht weit zurückliegende Vorleseerfahrung wieder lebendig und es wird deutlich, dass uns das Märchen in allen Lebensphasen etwas zu sagen hat (siehe dazu den Beitrag von Katharina Schmölzer). Die Frage nach dem Bedeuten und der Bedeutsamkeit des Märchens wird sich im besten Unterricht nicht abschließend klären und gleicht darin allen Erkenntnismöglichkeiten, die die Literatur betreffen.

      Gewiss ist nur, es war einmal …

      Clara von Münster-Kistner bietet im Serviceteil eine bibliographische Zusammenschau relevanter Publikationen zum Thema. Grenzen und Möglichkeiten des Distance Learning kommentiert Manuela Kapelle r. Matthias Leichtfried rezensiert und empfiehlt Das Literarische Unter richtsgespräch, weitere aktuelle Publikationen stellt Ursula Esterl vor.

      Der besondere Dank der Heraus -gebe r_innen gilt der Illustratorin Renate Habinger, die uns für die Gestaltung des Covers Bilder aus dem wunderbaren Buch, gegen das kein Kraut gewachsen ist (Anger-Schmidt/Habinger 2010), zur Verfügung gestellt hat.

      NICOLA MITTERER

       Literatur

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