Скачать книгу

Kopf. „Nee, muss nicht sein. Wenn es gar nicht mehr geht, melde ich mich schon.“

      Ohne, dass ich es will, rutscht mir eine Frage heraus. „Möchtest du eine Schmerztablette?“

      Frau Menning wundert sich. „Du hast Schmerztabletten dabei?“

      Wie oft habe ich das schon erklärt: „Ich hatte vor drei Jahren einen Unfall und habe seitdem oft starke Kopfschmerzen. Meistens bekomme ich das so hin. Aber für den Notfall habe ich immer eine Tablette dabei. Die kann Charlotte gerne haben. Heute geht es mir gut! Das Medikament ist für Kinder gut verträglich!“

      Habe ich jetzt wirklich ‚Kinder‘ gesagt? Wie peinlich, wir sind fünfzehn Jahre alt.

      „Ich weiß nicht, ob wir Charlotte deine Medikamente geben sollten. Mir wäre es lieber, du würdest zum Arzt gehen oder dich abholen lassen.“ Die Lehrerin ist echt besorgt.

      Der Lärmpegel in der Klasse ist inzwischen mächtig angestiegen, Frau Menning bittet laut um Ruhe – und so ist die Unterhaltung erst einmal zu Ende.

      Erleichtert steckt Charlotte das Heft zurück in die Tasche. Ich beobachte sie aus den Augenwinkeln. Mathe scheint ihr nicht zu liegen. Sie kaut auf ihrem Stift, schreibt Zahlen und streicht sie wieder durch. Ich wende den Blick ab und konzentriere mich auf den Unterricht. Der Stoff ist mir bekannt, und es fühlt sich leichter an sich zu melden als die ganzen neuen Eindrücke zu verarbeiten. Trotzdem schaue ich immer wieder zu Charlotte rüber. Jetzt schließt sie die Augen, fasst sich an die Schläfen und stöhnt leise.

      Ich deute auf die Tablette in meinem Etui. „Kannst die wirklich haben!“

      Charlotte flüstert: „Nee, danke. Ich weiß nicht, was mir mehr wehtut: der Kopf oder quadratische Funktionen.“

      Ich muss grinsen. „Gegen die Schmerzen gilt mein Angebot mit der Tablette, und quadratische Funktionen kann ich ganz gut. Wenn du Hilfe brauchst, sprich mich an!“

      Frau Menning hat unser Gespräch bemerkt. „Ja, Charlotte, wie lautet das Ergebnis?“ Charlotte schrickt zusammen und starrt dann auf ihre leere Heftseite.

      Ich stupse sie unter dem Tisch mit dem Fuß an und schiebe mein Heft in die Mitte. Langsam unterstreiche ich mit einem Textmarker die Formel.

      Meine Banknachbarin räuspert sich und liest vorsichtig ab: „(a + b)2 = a2 + 2ab + b?“

      Die Lehrerin nickt erstaunt, und bevor sie eine weitere Aufgabe landen kann, klingelt es zur Pause.

      Charlotte dreht sich zu mir um. „Warum tust du das?“

      Ich räume meinen Rucksack ein. „Weil du die Aufgabe nicht wusstest“, antworte ich und bin irritiert.

      Charlotte funkelt mich böse an. „Das ist kein Grund! Du spazierst hier in die Klasse rein, strahlst mich an, bietest mir deine Tablette an, löst meine Aufgabe und schlägst mir noch Mathe-Nachhilfe vor. Habe ich um irgendetwas gebeten? Sehe ich aus, als ob ich in Not bin?“

      Das tut weh! Sollte ich mich doch geirrt haben bei meiner Beobachtung? Ich sehe Charlotte in die Augen und sehe immer noch diese Traurigkeit.

      „Hallo – ich wollte einfach nett sein! Das macht man so!“, sage ich und schiebe nach: „Und ob du in Not bist, weißt du wohl am besten selber.“ Verärgert stehe ich auf und gehe aus dem Raum. Ich bekomme noch mit, dass Josefine aus der ersten Reihe zu Charlotte läuft und grölt: „Hey, Mathe-Ass, wie hast du das denn hinbekommen? Und was ist mit der Neuen, zickt die rum?“

      Charlie

      „Und wenn jemand nett zu dir ist, dann freu dich einfach drüber!“

      Nach Schulschluss steige ich müde in Opas Sportwagen.

      „Na Süße, wie war dein Tag?“, fragt Opa gut gelaunt.

      Der Motor heult auf und einige Jungs gucken neidisch. Am liebsten würde ich den Jungs die Zunge rausstrecken. Was glotzen die so blöd? Die können die Kiste gerne haben, wenn ich dafür im Austausch eine komplette Familie bekomme.

      Opa wartet noch auf eine Antwort, und so gebe ich mir einen Ruck: „Ich hatte Kopfschmerzen und quadratische Funktionen. Wir schreiben am Freitag ’ne Mathearbeit und ich hab keine Ahnung von Mathe. In Englisch haben wir einen Vokabeltest geschrieben und ich hatte Null gelernt. Wir haben eine Neue in der Klasse, die ist so freundlich, dass es stinkt, und in der Mensa gab es Hundefutter mit Reis. Und sonst war alles toll!“

      Opa lacht. Opa lacht immer: über die Schule, über das Familiendrama, über die Firma, über die Oma. Manchmal ist das ja ganz nett, aber oft weiß ich einfach nicht, was an dem ganzen Chaos so lustig sein soll. Jetzt auch nicht, also schweige ich.

      Dafür redet Opa nun. „Was hältst du davon, wenn wir dich in den Sommerferien mit nach Italien nehmen? Oma will eine Schulfreundin besuchen. Die lebt dort und hat eine Pension am Gardasee. Gestern hat Oma mit ihr telefoniert, und da haben sie auch über dich gesprochen. Omas Freundin hat auch Enkelkinder in deinem Alter.“

      Ich brumme: „Wie alt?“

      Opa lacht wieder. „Da musst du Oma fragen. Ich glaube, zwölf oder dreizehn oder so was.“

      Weiß Opa nicht, wie alt ich bin??

      „Oder so was? Ich bin übrigens fünfzehn. Ich weiß jetzt nicht, ob ich meine Ferien mit irgendwelchen Kindern verbringen will, die viel jünger sind als ich und kein Deutsch sprechen.“

      Opa bremst heftig, weil vor ihm ein Fahrzeug in die Straße einbiegt. „Idiot, kannst du nicht gucken?“ Er schüttelt den Kopf und redet dann weiter: „Zwölf, dreizehn, fünfzehn – ich wollte ja nur sagen, da sind auch Kinder, und du kannst gerne mit uns die Ferien verbringen.“

      Klingt wie die Neue. Ich verdrehe die Augen. „Das habe ich heute schon mal gehört.“

      Opa stutzt. „Wer will denn noch mit dir nach Italien?“

      Jetzt muss ich doch grinsen. „Niemand, aber dieses Ich-wollte-nur-nett-sein habe ich schon Mal gehört heute.“

      Opa bremst erneut und fährt rechts an den Fahrbahnrand. Er stellt das Auto aus und schaut mich an. „Genau. Charlie, es stimmt: Du bist fünfzehn Jahre alt und dein Leben läuft gerade nicht – nach Plan. Du lebst nicht in einer heilen Welt. Aber diese Welt ist eben nicht heil. Ja, wir versuchen alle, nett zu dir zu sein, und vielleicht ist das alles, was wir im Moment tun können. Aber ich finde nicht, dass das wenig ist. Ich finde es auch nicht toll, dass mein Sohn sich von seiner Frau getrennt hat und du da hin- und hergerissen wirst. Oma und ich sind immer für dich da, kutschieren dich durch die Gegend, finanzieren dir jeden Wunsch, verbringen unsere Zeit mit dir – weil wir dich lieb haben.“

      Ich sage nichts und Opa redet weiter: „Ich habe mit dreizehn keine Mutter mehr gehabt, die war tot. Ich bin mit sechzehn zu Hause rausgeflogen. Ich habe mit neunzehn deine Oma geheiratet und mit zwanzig bin ich Vater geworden. Mit fünfundzwanzig hatte ich meine eigene Firma und bin dann noch einmal Vater geworden.“

      So was in der Art hat mir Oma schon mal erzählt. Ich überlege, was ich jetzt sagen könnte, aber Opa ist schneller.

      „Zu mir war nie jemand nett, Charlie, erst, als ich es mir leisten konnte, zu anderen nett zu sein. Als ich eine Existenz hatte, waren die Leute plötzlich alle freundlich. Oma und ich haben sehr harte Zeiten erlebt. Aber wir haben gekämpft. Und das wünsche ich dir. Dein Leben ist nicht so, wie du es dir wünschst. Stimmt. Aber du bist stark, Charlie! Und du kannst kämpfen. Steh auf und mach was aus deinem Leben. Du hast Möglichkeiten. Lern Mathe und lass dir sonst helfen. Frag mich oder Papa oder geh zur Nachhilfe. Wenn dir das Mensa-Essen nicht schmeckt, dann schmier dir morgens ein Brot. Lebe mit deiner Mutter und mit deinem Vater, eben versetzt. Und wenn jemand nett zu dir ist, dann freu dich einfach drüber! Und wenn du mit nach Italien willst, dann sag uns bis nächste Woche Bescheid.“

      Opa startet den Wagen neu. Ich bin sprachlos. Wie kann Opa so etwas sagen? Hat er vielleicht recht? Ich schließe die Augen und merke, wie sich meine Gedanken verlangsamen, und dann ist es plötzlich sehr still …

      Ich

Скачать книгу