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wird schon, versuche ich mich aufzumuntern.

      Hannah kommt zurück ins Zimmer und drückt mich fest. „Betest du noch mit mir?“

      Ich nicke. Wir fassen uns an den Händen und schließen die Augen und ich beginne. „Großer Daddy im Himmel. Danke, dass wir dich überall mit hinnehmen können, dass du überall gleichzeitig bist. Schenk uns morgen einen guten Tag, und hilf uns dabei, schnell neue Freunde zu finden. Amen.“

      Hannah ergänzt: „Und mach auch, dass wir gut schlafen und schön träumen. Jesus, du hast auch ganz oft dein Zuhause gewechselt, und hattest immer viele Leute um dich rum. Ich wünsche mir eine gute Freundin. Das wär toll. Amen.“ Hannah schmeißt sich in ihren Kissenhaufen.

      Ich gehe ins Badezimmer und schaue mich im Spiegel an. Wenn ich die Haare zur Seite schiebe, kann ich die lange Narbe erkennen, die sich von meinem rechten Ohr bis zum Hinterkopf zieht. Die ist ein sichtbares Zeichen des schweren Verkehrsunfalls, den ich vor drei Jahren hatte. Die Ärzte haben meinen Eltern damals gesagt, dass ich sterben oder behindert aus dem Koma erwachen werde. Aber ich bin gesund! Immer, wenn etwas schwierig ist, schaue ich mir die Narbe an. „Das haben wir geschafft, dann schaffen wir einen Neuanfang hier auch!“ Ich zwinkere meinem Spiegelbild zu.

      Als ich aus dem Bad komme, höre ich leise Gespräche aus der Küche – meine Eltern sind zurück. Ich klopfe an die Küchentür und gehe rein.

      „Ah, Debbie, danke, dass du Aaron schon ins Bett gebracht hast“, sagt Mama. „Und Hannah schläft auch schon auf ihrem Kissenberg.“ Sie reicht mir eine Tasse mit meinem Lieblingstee. „Alles klar für morgen?“

      Ich nehme die Tasse und nicke. „Ja, ich denke schon. Es ist zwar blöd, so ein erster Tag, aber das wird schon.“

      „Ganz bestimmt“, ermutigt mich Papa. „Als ich vor drei Monaten hier angefangen habe, da waren die meisten total nett zu mir. Das wünsche ich euch auch morgen in der Schule.“ Er umarmt mich.

      Dann nehme ich meinen Tee mit ins Zimmer, sitze noch eine ganze Weile neben meiner neuen Lampe und schreibe in mein Tagebuch. Den letzten Satz betrachte ich immer wieder und verziere ihn mit Stiften aus der Geschenkbox vom Jugendkreis.

      „Und ich freu mich drauf, auf diesen Neuanfang! Ganz ehrlich!!“

      Charlie

      Vor drei Jahren war ich das einzige Kind meiner Eltern. Ich musste Mama und Papa nicht teilen.

      Die Autotür fällt laut ins Schloss. Ich lasse mich zurück in den Sitz gleiten und atme tief aus. Überstanden! Mama schaut mich mitfühlend an. Betont fröhlich fragt sie: „Wie war dein Wochenende, mein Schatz?“

      Ich starre aus dem Autofenster. „Na, wie wohl? Toll! Yvy hat alles sooo schön gemacht. Melvin und Marlon haben die ganze Zeit geschrien und Fußball gespielt, mal ist der Ball in meinem Orangensaft gelandet und mal in einer Blumenvase. Papa hat nur gelächelt. Und jetzt kommt der Hammer: Wir fahren Pfingsten nach Zeeland. Und das Schönste ist, alle kommen mit! Und ich hatte schon gedacht, Papa würde mal nur was mit mir machen.“

      Mama legt mir eine Hand auf das Knie. „War es wirklich so schlimm, oder übertreibst du ein wenig?“

      „Glaubst du mir etwa nicht? Du kannst ja mal mitkommen!“ Ich bin empört.

      Mama beschwichtigt: „Natürlich glaube ich dir. Charlotte, ich weiß, das ist alles nicht einfach. Aber bitte, lass uns doch versuchen, das Beste draus zu machen. Es muss doch irgendwie weitergehen. Hast du mit Papa darüber gesprochen, dass du gerne mit ihm alleine weg möchtest?“

      Jetzt brause ich so richtig auf: „Mit Papa sprechen? Du hast ja überhaupt gar keine Ahnung, was da abgeht! Alles ist toll da, und wehe, du sagst was anderes. Dann bist du der, der alles kaputt macht. Da kann man nicht reden!“

      „Soll ich mal mit Papa sprechen?“, versucht Mama es noch mal.

      Ich hebe abwehrend die Hände. „Nee, lass mal. Ich hab schon genug angerichtet, weil ich nicht in der ‚Alles toll‘-Stimmung war. Hauptsache, bei uns ist alles okay. Irgendwo muss einfach mal was bleiben, wie es ist!“

      Das Auto wird langsamer. Wir haben den Waldrand erreicht und auf der rechten Seite kommt ein Wanderparkplatz. Mama bringt das Auto dort zum Stehen. Ich bekomme ein ungutes Gefühl. „Was wollen wir denn hier?“

      „Steig mal aus, wir gehen ein Stück!“ Mama streicht mir über das Knie.

      Ich stöhne. „Och nee. Ich brauch jetzt keine Entspannungstherapie, das hat Ivy schon versucht. Das wirkt bei mir nicht. Lass uns einfach nach Hause fahren; ich glaub, ich hab noch was in Englisch auf.“

      Mama ist schon ausgestiegen. „Charlotte, ich muss mit dir reden. Ich habe verstanden: Dein Wochenende war nicht toll. Aber ich muss mit dir reden! Du bist meine Tochter, und ich muss dir etwas sagen, und möchte nicht, dass du es von irgendjemand anderem erfährst. Ich möchte es dir sagen. Steig jetzt bitte aus.“

      Eiskalt kriecht die Angst in mir hoch. Das hört sich nicht gut an. Meine Stimme ist krächzig und hört sich fremd an. „Ist was passiert? Trennst du dich von Daniel? Oder wollt ihr auch heiraten wie Papa und Yvy? Hast du keinen Job mehr?“

      Mama nimmt meine Hand. „Nun komm erst mal mit.“

      Schweigend gehen wir in den Wald hinein. Irgendwann bleibt Mama stehen und dreht sich zu mir um. Sie legt ihre Hände auf meine Schulter und schaut mir in die Augen. Ganz vorsichtig lächelt sie. „Charlotte, ich … ich bin schwanger. Wir bekommen noch ein Kind.“

      Ich kann ihre Worte hören, aber irgendwie kommen sie nicht bei mir an. Es dauert ein paar Sekunden, bis eine Stimme in meinem Kopf dröhnt: „Ein Kind. Ein Baby. Ein Kind. Meine Mama. Ein Kind.“

      Ich suche nach dem richtigen Gefühl für die Situation. Aber ich finde keins. Da ist nur ein großes Loch, und das wird immer größer. Meine Augen füllen sich mit Tränen, aber ich schlucke sie runter. Mama will mich zu sich ziehen, aber ich rühre mich nicht. Plötzlich geht ein Ruck durch meinen Körper, ich reiße mich los und renne, so schnell ich kann, in den Wald hinein. Hinter mir höre ich Mamas Schritte und ihr Rufen: „Charlotte, bleib stehen! Komm zurück!“

      Irgendwann wird die Stimme immer leiser. Ich renne, bis meine Lunge brennt. Als ich nicht mehr kann, werfe ich mich ins feuchte Gras. Regungslos bleibe ich liegen, höre mein rasendes Herz, meinen keuchenden Atem, dann wird es ruhiger. Ich nehme nur noch das Vogelzwitschern und die rauschenden Bäume wahr.

      Noch ein Kind!

      Was bedeutet das für mich? Vor drei Jahren war ich das einzige Kind meiner Eltern. Ich musste Mama und Papa nicht teilen. Jetzt teile ich Papa mit Yvy, Melvin und Marlon. Papa scheint mit seiner neuen Familie glücklicher zu sein, als mit Mama und mir. So oft habe ich das Gefühl, ich störe nur. Aber es ist doch auch mein Papa, nein, es ist eigentlich nur mein Papa! Auch Mama hat wieder einen Freund, Daniel. Daniel ist eigentlich ganz nett. Er ist ruhig, gemütlich, kann alles reparieren und hat immer ein offenes Ohr. Daniel hat viele Freunde, das ist schon cool. Oft schauen spontan Leute vorbei. Daniel kann kochen, richtig gut kochen. Papa kann noch nicht mal ein Spiegelei braten. Ja, Daniel ist in Ordnung. Und er lässt Mama und mir genug Zeit füreinander. Er drängt sich nicht in mein Leben.

      Aber ein Baby? Das würde sich dazwischendrängeln, zwischen Mama und mich. Das Baby ist ja auch Mamas Kind – und das von Daniel. Dann bin ich wieder raus, bei Papa sowieso schon – aber dann auch bei Mama. Nein, ein Baby geht gar nicht!

      Mein Blick klebt an den Bäumen, die Zeit vergeht, ohne dass ich es merke.

      Es dämmert bereits, als ich mich auf den Weg zurück mache. Mamas Auto steht noch dort. Ich öffne die Beifahrertür und steige ein.

      Mama schaut auf. „Ich habe mir Sorgen gemacht. Du warst fast zwei Stunden verschwunden …“

      „Sag jetzt einfach nichts, bitte!“ Ich fühle mich schrecklich müde.

      Schweigend fahren wir nach Hause. Schweigend gehen wir in die Wohnung. Schweigend gehe ich an Daniel und meinem Hund Jack vorbei. Schweigend gehe ich in

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