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Marlon bekommen, weil es viel größer ist, und die beiden es sich teilen. Das kann ich ja noch widerwillig einsehen, aber warum landen immer Klamotten von den Jungs in meinem Schrank!? Neben meinen T-Shirts liegt ein Stapel alter Jeans von Melvin; da soll Marlon reinwachsen. Schön, aber nicht in meinem Schrank! Irgendwie fühlt sich der gerade begonnene Sonntagmorgen richtig doof an. Bedrückt schlurfe ich die Treppe hinunter.

      Yvy hat den Frühstückstisch gedeckt, draußen in der Maisonne. Alles sieht perfekt aus: Tischdecke mit passenden Servietten, Kissen und Decken auf der Gartenbank, Brötchen und Croissants – natürlich selbst gemacht – , Kakao, Saft, eine große Schale Obstsalat, Müsli, Marmeladen, Käse, Wurst. Überall dazwischen liegen paar Blumen oder Muscheln. Richtig freuen kann ich mich darüber nicht. Voll blöd, aber irgendwie bin ich immer ein bisschen neidisch. Worauf, weiß ich selbst nicht so genau.

      „Guten Morgen! Na, gut geschlafen?“ Yvy strahlt geradezu in ihrem schicken Outfit. „Ich hoffe die Jungs waren nicht so laut, Charlielein. Aber bei so einem schönen Wetter, da muss man einfach seine Energie rauslassen.“

      Ich lächle gequält. „Charlielein“ geht gar nicht! Aber was soll’s? Yvy hat recht, es ist ein wunderbarer Tag, und wenn er schon so bescheiden angefangen hat, kann er ja nur besser werden, oder? Ich lasse mich auf einen Sessel plumpsen und schütte mir Orangensaft ein. Papa kommt und gibt Yvy einen sehr langen Kuss. „Wie schön du das wieder gemacht hast. Das ist ja wie Urlaub!“

      Yvy kuschelt sich an Papa. Der Lärm nimmt zu und die Brüder kommen mit ihrem Ball um die Ecke. Melvin drängelt seinen kleinen Bruder an die Seite und holt zum Schuss aus. Der Ball fliegt mit voller Geschwindigkeit auf das Tor, prallt gegen Marlons Brust, ändert seine Flugbahn und trifft mit Wucht direkt das Glas in meiner Hand. Der Orangensaft scheint zu explodieren und schwappt über mein T-Shirt und die Hose. Blitzartig wird es kalt und unangenehm auf meiner Haut. Irgendwie gelingt es mir, das Glas festzuhalten, und für ein paar Sekunden ist es ganz still. Ich starre auf den Tisch. Plötzlich beginnen die Jungs zu lachen, laut und gemein. Ich schaue hilflos zu Papa. Er muss doch jetzt mal ausrasten! Doch der grinst nur.

      Yvy versucht die Situation zu retten. „Och, Charlielein, das ist aber jetzt echt blöd.“ Sie schaut zu Melvin und Marlon. „Jungs, ihr kommt her und entschuldigt euch. Und dann frühstücken wir, ja?“ Yvy macht eine kleine Pause und fragt mich: „Oder möchtest du dich erst umziehen, Charlie?“

      Ich suche Papas Blick. Doch der dreht sich einfach um und geht ins Haus. „Ich hol dann mal den Kaffee!“

      Die Brüder kommen angetrottet und können vor Lachen immer noch kaum ein Wort sprechen. „’tschuldigung!“, giggeln beide gleichzeitig und halten mir ihre gartenschmutzigen Hände hin.

      Ich sehe in die lachenden Gesichter, Orangensaft tropft mir aus den Haaren. Ich bin sauer auf die Jungs, enttäuscht von Papa und genervt von Yvys Dauerfreundlichkeit. Ich nehme keine der Hände an. Langsam stehe ich auf, stelle das Glas auf den Tisch, gehe an Yvy vorbei ins Haus, zu Papa in die Küche. Ich fühle mich sehr müde, als ich Papa mitteile: „Ich zieh mich um. Dann ruf ich Mama an, sie soll mich abholen.“

      Papa hebt erstaunt die Augenbrauen. „Was soll das denn, Chelsea? Wegen so eines Jungenstreichs willst du jetzt Tanjas Wochenende durcheinanderbringen? Okay, das ist dumm gelaufen. Aber wegen ein bisschen Orangensaft auf dem T-Shirt kannst du doch nicht den ganzen Sonntag ruinieren. Gib mir die Sachen, Yvy wäscht sie gleich nach dem Frühstück. Reiß dich ein bisschen zusammen. Orangensaft ist wirklich kein Drama. Los jetzt, zieh dich schnell um, wir wollen frühstücken!“ Papa dreht sich wieder zum Kaffeeautomaten und bereitet einen zweiten Cappuccino.

      Ich stehe ratlos im Raum. Was habe ich erwartet? Und was soll ich jetzt tun? Soll ich einfach mitspielen in dem Spiel „Nette Familie“? Soll ich Mama anrufen? Bestimmt kommt die sofort. Aber wahrscheinlich hat Papa recht, Mama hat ein Wochenende ohne mich geplant. Langsam gehe ich die Treppe hinauf und suche mir neue Sachen aus dem Schrank. Die Orangensaftklamotten lege ich ins Waschbecken und lasse Wasser einlaufen. In meinen Ohren hämmert immer das gleiche Wort: ungerecht!

      Das ist einfach ungerecht! Ich bin hier so überflüssig wie Bauchschmerzen!

      Ich lasse mir Zeit, bis ich wieder auf die Terrasse gehe. Die anderen haben schon mit dem Frühstück begonnen.

      Yvy schaut freundlich auf. „Na, alles wieder okay? Es tut mir echt leid. Nun genieß das Frühstück und sei nicht mehr traurig. Du wirst sehen, es wird ein wunderschöner Tag!“

      Ich setze mich hin und nehme mir ein Croissant. Das mit dem schönen Tag kann ich irgendwie nicht glauben.

      Debbie

      Können wir das mit dem Abschied nicht so endgültig machen, bitte?

      Mit einem lauten Knall schlägt die Tür des Umzugswagens zu. Ich blicke traurig auf die Hausfront, hinter der so lange mein Zuhause lag.

      Sanft legt sich eine Hand auf meine Schulter. „Wenn an einer Stelle eine Tür zugeht, öffnet sich eine neue – ganz bestimmt, mein Schatz!“ Papa drückt mir einen Kuss auf die Stirn.

      Ich merke, wie meine Augen feucht werden. Wie blöd! Langsam rollen ein paar Tränen über meine Wangen und ich drücke mein Gesicht tief in Papas Jacke. Mama, mein kleiner Bruder Aaron und Hannah, meine zwei Jahre jüngere Schwester, kommen die Treppe herunter.

      „Kommt, wir müssen los, sonst sind wir zu spät im Gottesdienst!“, ruft Mama und schwenkt den Autoschlüssel.

      „Geht’s wieder?“ Papa schaut mir in die Augen.

      Ich nicke tapfer. Ja, es geht. Es geht immer weiter, das weiß ich. Ich habe in meinem Leben schon oft erlebt, dass es weitergehen musste. So ein Umzug wird mich nicht aus der Bahn werfen! Ich habe vor drei Jahren einen heftigen Autounfall überlebt, sehr schwer verletzt. Als ich im Koma lag, hat niemand geglaubt, dass ich je wieder gesund werde. Nein, das stimmt nicht. Meine Familie und Freunde aus der Gemeinde haben schon daran geglaubt. Sie haben nicht aufgegeben, sondern gebetet, Geld gesammelt, während meiner langen Krankenhauszeit für meine Family Essen gekocht und meine beiden Geschwister versorgt. Ich weiß, dass ich mich auf diese Leute zu hundert Prozent verlassen kann! Und genau das macht es so schwierig, von hier wegzuziehen. Deshalb tut es so weh mit dem Neuanfang in einer anderen Stadt.

      Es gab eine Zeit in meinem Leben, da konnte ich nicht laufen und kaum sprechen, da hat mir eine total einfache Frage schon Kopfschmerzen bereitet. Aber meine Freunde und meine Gemeinde waren immer da. Jetzt kann ich wieder laufen, sogar ein wenig Sport machen. Und ich bin Klassenbeste. Aber ich kann meine Freunde und meine Gemeinde leider nicht mitnehmen an den neuen Wohnort.

      „Ja, alles klar“, sage ich und versuche zu lächeln. „Es kann losgehen. Meinen letzten Gottesdienst hier will ich auf keinen Fall verpassen!“

      Mein kleiner achtjähriger Bruder Aaron nimmt meine Hand. „Das ist nicht der letzte, Debbie! Wir kommen doch zu Besuch wieder hierher. Wir müssen nach Oma gucken, und ich will wissen, wie groß der Apfelbaum ist, den ich letztes Jahr mit Papa gepflanzt habe. Ist doch logisch!“

      Ich drücke Aarons Hand fest. „Na klar. Wie konnte ich das vergessen.“

      Aaron kichert. „Genau. Du vergisst doch nie was.“

      Zwanzig Minuten später sitzen wir im Gottesdienst. Ich entspanne bei den Liedern, die ich so gut kenne, schließe die Augen für ein stilles Gebet. ‚Weißt du, Daddy im Himmel, wie dankbar ich für die Menschen hier bin? Klar weißt du das. Du hast das ja gemacht! Bitte pass gut auf alle hier auf. Und pass auch gut auf uns auf!‘

      Die Musik ist verklungen. Unser Pastor fängt an zu reden:

      „In dieser Woche ist mir etwas besonders wichtig geworden. Jesus sagt in der Bibel zu seinen Freunden: ‚In der Welt habt ihr Angst, aber seid getröstet, ich habe die Welt überwunden.‘ Ein tröstlicher Vers! Weil Jesus hier auf der Welt gelebt hat, weiß er auch, wie wir denken und fühlen, was wir zu bewältigen haben. Und er ist stärker als alles, was uns begegnet.“

      Ein Satz aus der Predigt hakt sich besonders in mir fest: „Egal, wo wir sind, egal, was gerade unsere Lebensaufgabe

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