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      Ende der 80er war ich – objektiv betrachtet – frei von Sünde.

      Meine Mutter, die versuchte, mich zu körperlicher Aktivität zu mobilisieren (mit Rugby und Skifahren hatte sie bei mir keinen Erfolg gehabt – ich ging hauptsächlich zu den Sitzungen der in der Klasse gegründeten »Nationalen Freiheitspartei« oder widmete mich dem Fernsehen, das während Gorbatschows »Reformen« wiederbelebt worden war), machte mit mir ein eigenartiges, sportlich-religiöses Experiment: Sie schickte mich für drei Tage auf den »Weg der heiligen Nino«, unter Aufsicht meiner vierzehn Jahre älteren Tante.

      Einer neuen Tradition folgend, die der Katholikos, Georgiens Patriarch, unter den Reformbedingungen eingeführt hatte, sollten die Leute, sollte die ganze neue Kirchgemeinde, jenen Weg gehen, den die christliche Missionarin der Georgier, die heilige Nino, im vierten Jahrhundert gegangen sein soll, vom Parawani-See in die alte Hauptstadt Mzcheta.

      Das war eine große Strecke, ein großes Spektakel und ein großes Abenteuer, das mir weder gefiel noch mich reizte, aber damals hatte ich offenbar noch keine Ambitionen, mich gegen meine Mutter aufzulehnen, und konnte mich daher der dreitägigen Expedition nicht entziehen, zumal sie mich bat, diesen Gang auf dem Weg der heiligen Nino als kulturell-erkenntnisbringenden Spaziergang anzusehen und keinesfalls als sportlich-religiösen (weil ich das Wort »Sport« hasste). Sie belog mich und gaukelte mir vor, ich müsste nicht viel wandern (dabei war das Wandern der eigentliche Sinn der Sache), und falls ich dennoch viel wandern müsste (die Großmütter ereiferten sich, das Kind habe Plattfüße, ihm würden die Füße wehtun), würden sie mich mit dem Auto des Beichtvaters meiner Tante zurückholen (»der Beichtvater meiner Tante« – diese Worte wirkten therapeutisch auf mich). Meine Mutter erwähnte meinen Mitschüler (kein Mitglied unserer schulischen »Nationalen Freiheitspartei«, aber dennoch ein Klassenkamerad), der von seinem mit »Sünden beladenen« Vater auf den Weg der heiligen Nino mitgenommen worden war.

      Aber es kam zur Katastrophe: Die Tante wandelte schon eine Woche lang auf dem Pfad, welchen die Heilige, zu der damaligen Zeit zwei Jahre älter als sie, gegangen war. Sie hatte sich unterwegs in Dorfschulen, Flüssen und Seen gewaschen (manchmal mit dem Wunsch oder Vorwand, sich erneut taufen zu lassen), aber dann hatte sie doch die Lust auf die heimische Dusche überkommen, sie hatte sich höflich bei ihrem Priester den Segen dafür geholt und war just in dem Moment nach Hause aufgebrochen, als ich mich – mich auf sie verlassend – zu ihr auf den Weg gemacht hatte.

      Ich kam also an und kriegte zu hören: »Deine Tante ist fort. Hier ist nur die Kirchgemeinde.«

      Ich war unter fremden Leuten und Geistlichen.

      Natürlich weinte ich. Für meine elf Jahre unverhältnismäßig viel, und ich flehte den an, der mich hergebracht hatte (ebenjenen sündenbeladenen Vater meines Mitschülers), das Auto, mit dem wir gekommen waren, solle mich wieder mitnehmen, wenn es zurückführe. Es stellte sich aber heraus, dass dieses Auto (mitsamt seinem Fahrer) kein gewöhnliches Auto war, vielmehr musste es selbst eine Strecke auf dem Weg der heiligen Nino zurücklegen und würde erst dann zurückfahren (falls es den Segen bekäme, mit mir), wenn es mindestens um die zweihundert Kilometer zusammen mit den Betenden zurückgelegt hätte.

      Aber wie sollte ich nun diese zweihundert Kilometer überleben und hinter mich bringen?

      Das Angenehme war, dass alle mich beruhigten, auch mein Klassenkamerad, der mir unerwarteterweise gleich mitgeteilt hatte, er faste schon seit einem Monat und sei – was die Hauptsache war – noch nicht einmal in die Versuchung gekommen zu masturbieren.

      Ich hatte sowieso nicht vermutet, dass er das überhaupt machte, denn ich selbst war in dieser Hinsicht vollkommen frei von Sünde. Wir waren elf, zwölf und ich hatte leichte Zweifel: War bei ihm etwa schon die Pubertät ausgebrochen? Weil ich zeichnen konnte, hatten mich meine Klassenkameraden manchmal gebeten, ich solle »Sex malen«, aber wie hätte ich denn etwas malen sollen, was ich nicht kannte? Ich versuchte es ein paarmal, aber alle bemängelten die Unglaubwürdigkeit meiner Bilder.

      Jedenfalls stellte sich heraus, dass mein Klassenkamerad schon seine erste Beichte abgelegt und dem Geistlichen von seiner Hauptsünde erzählt hatte. Er hatte doch nicht etwa gelogen?

      Über mangelnde Fürsorge konnte ich mich zumindest nicht beklagen – es schienen alle auf meiner Seite zu sein. Ich aß Fladenbrot, Käse und Tomaten, zeichnete Karikaturen, die mir beruhigende Aufmerksamkeit verschafften, und lauschte den fürsorglichen und rührenden Worten Vater Dawits, des Oberpriesters, was sich therapeutisch auf mein Selbstwertgefühl auswirkte. Ich war froh, dass dieser Mann, der hier die oberste Autorität darstellte, ausgesprochen viel Anteilnahme daran zeigte, dass meine Tante und ich uns so katastrophal verpasst hatten.

      Er machte mir Mut genug, dass ich auf die Idee kam, im leeren, akustisch reizvollen Lehrerzimmer der Dorfschule, die von den Pilgern provisorisch als Nachtlager genutzt wurde, so etwas wie eine Arie zu singen (aus dem kürzlich im Hof aufgeführten »Faust«). Ich fühlte mich in dieser Umgebung schließlich sicher und überwand die Angst vor der Fremde, aber dass dies kein passender Ort für Unterhaltung war, darauf wies mich sofort ein junger rothaariger, unrasierter und pausbäckiger junger Mann hin (Vikarsanwärter nennt man solche Leute), indem er die Tür des Lehrerzimmers öffnete, mich aus trüben Augen anblickte und mit einer spröden, brüchigen Stimme einen Verweis aussprach, als wäre er gerade aufgewacht oder hätte lange nicht gesprochen: »Hier wird nicht gesungen, die Leute beten.«

      Der rothaarige Mann (oder eher Junge, denn wie ein Erwachsener sah er nicht aus) hatte dunkle Augenringe, und man sah ihm an, dass er im Falle von Widerworten zu strengeren Ermahnungen fähig wäre. Genau wegen solchen »Fremden« wollte ich nicht bleiben. Scheinbar zurückhaltende, aber aggressive Unbekannte, die mich nicht zur Ruhe kommen ließen.

      Natürlich verstummte ich sofort. Der Rothaarige schloss die Tür.

      Jetzt war ich wieder unerträglich einsam und schutzlos und wollte deshalb nicht mehr im Lehrerzimmer bleiben, ich öffnete die Tür und ging auf den Flur. Überall lagen Rucksäcke herum. An der Wand lehnten, die Schuhe ausgezogen, in sich selbst versunkene oder einfach nur müde Leute.

      Unweit der Schule standen Hütten, die Dorffrauen saßen an den Zäunen und schauten mit einem Lächeln, das Unbehagen ausdrückt, zu dem Priester, der neben einem verrosteten Fußballtorpfosten hockte. Der arrogante Tonfall des Priesters schien den Provinzialismus der Frauen zu unterstreichen, salopp, aber gleichzeitig von oben herab machte er ihnen Vorwürfe: »Nun, wie oft habt ihr wohl eine Abtreibung machen lassen, habt ihr mitgezählt? Zwanzigmal? Vierzigmal?«

      Ich wusste schon, was dieses Wort bedeutete, und hielt am Pfosten inne.

      »Was gibt es da zu lachen? Ich frage euch ernsthaft!«

      Es war noch zur Zeit der Sowjetunion, die Dorffrauen wussten noch nicht, dass Priester solche Fragen zu stellen pflegten. Sie fürchteten sich noch nicht vor deren Gott, hielten sich die schwieligen Finger vor die zahnlosen oder goldzahnbestückten Münder und lachten: »Was der Irre uns für Sachen fragt!«

      Der Priester war für sie ein Verrückter.

      Aber auch der Priester lächelte – er sprach mit Dorffrauen und wusste, dass er es mit der ungebildeten Sowjetmasse zu tun hatte, noch dazu in der Provinz, in einem meßchischen Dorf; ein Priester zählte zur Elite. So sah er sich selbst, besonders ihnen gegenüber.

      »Ihr denkt, Abtreibung ist kein Mord? Marx und Engels können euch dann nicht helfen. Nun, welche von euch ist kirchlich getraut worden? Wer nur standesamtlich getraut ist, wird nicht als Ehefrau gelten, wisst ihr das nicht? So bleibt der Beischlaf sündhaft. Was, ihr glaubt, ich denke mir das aus? Was lacht ihr? Du da, hast du einen Mann?«, fragte er eine von ihnen. Die Frau lachte, winkte ab: »Mensch, lass mich doch in Ruhe.«

      »Sag, hast du einen oder nicht?«

      »Hat sie, hat sie!«, antworteten die anderen. »Sie hat zwei große Söhne.«

      »Hat sie kirchlich geheiratet? Wenn man nicht kirchlich getraut worden ist, dann ist es Hurerei und Schluss. Ich traue dich, wenn du’s noch nicht bist.«

      Die Frauen antworteten nicht mehr.

      Schon

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