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dann … Anathema.«

      »Ist das euer Ernst?«, fragte jemand hinter mir.

      »Die Leute sind aufgewühlt«, war die Antwort.

       Ausschluss. Anathema. Verlorener Sohn.

      Der mit dem Dokument blickte ab und zu verlegen lächelnd zu mir auf, und ich war nicht sicher, ob ihm seine Aussagen selbst unangenehm waren oder er nur einen Tick hatte.

      Ich war zu müde und verwirrt, um mit ihm zu scherzen oder höfliche Antworten zu geben.

      »Du musst dich öffentlich entschuldigen«, wiederholte der am Tisch ironisch lächelnd und unaufgeregt, »anderenfalls sind die empörten Leute nicht mehr zu beschwichtigen. Heutzutage werden Menschen doch so leicht umgebracht …«

      1

      Geschichtsbuch. Kindheitschronik

      Meine Eltern gegen Georgien

      Meine Eltern hatten von meiner Geburt an nicht mit Lob gegeizt, war ich doch ganze dreiundzwanzig Jahre lang – objektiv betrachtet – lobenswert gewesen. Jetzt jedoch tauchten völlig fremde Leute auf und sagten ihnen, dass dieser dreiundzwanzigjährige Mensch – objektiv betrachtet – nichts tauge und wenn er sich nicht so benähme, wie es sich gehöre, verdiene er nicht einmal die Bezeichnung »verlorener Sohn«.

      »Heutzutage werden Menschen ja so leicht umgebracht …«

      Auch das bekam mein Vater zu hören. Noch dazu an einem Ort, an dem normalerweise, wenn auch nur anstandshalber, über Tugend gesprochen werden sollte: neben dem Ruhezimmer des orthodoxen Patriarchen.

      »Es ist deine Schuld«, sollte der Patriarch später zu meinem Vater sagen, »du hast das Kind nicht ordentlich erzogen.«

      Dabei war ich in den Augen meiner Eltern (also auch in denen meines über die Bemerkung des Patriarchen zutiefst verletzten Vaters) – objektiv betrachtet – ein liebes, kluges, gutes, zweifellos ordentliches und begabtes dreiundzwanzigjähriges Kind, ungewöhnlich, schon als Junge allen bekannt als Schriftsteller und somit ein berühmter Jugendlicher, knapp zehn Jahre älter als das junge Land Georgien, ein Kind, dem eigentlich niemand etwas hätte vorwerfen können.

      Das Kind meiner Eltern war nicht durch die 90er-Jahre gebrandmarkt: Es streifte nicht zusammen mit den nach Blut dürstenden Kindern der 90er durch die Straßen, sondern schrieb, malte oder sprach (was es seiner Großmutter zufolge schon mit acht Monaten konnte), war ein Karikaturist, konnte jeden beliebigen Menschen parodieren (ohne Rücksicht auf dessen Alter, Geschlecht und Gefühle), sang Opernarien, war in der frühen Kindheit dick (wodurch es nur noch vertrauenswürdiger und sympathischer erschien). Es war begabt, und sein Vater hätte – wenn er die Gelegenheit bekommen hätte oder vielmehr, wenn er sich die Freiheit genommen hätte – jedem, der an seinen Erziehungsmethoden etwas auszusetzen hatte, mit Vergnügen die positiven Eigenschaften des Kindes aufzählen können. Er hätte beispielsweise erzählt, dass es »mit elf Jahren, Eure Heiligkeit, jawohl, mit elf, Hochwürden, mit den Nachbarsmädchen (mit den Mädchen deshalb, weil niemand anderes mitmachen wollte) nichts Geringeres als Goethes ›Faust‹ aufgeführt hat! Versteht Ihr? Mit elf Jahren den ›Faust‹! Bloß eben im Garten, und er selbst spielte Mephisto, den Teufel, Eure Heiligkeit (Entschuldigung, dass ich hier einen der Namen des Teufels erwähnen muss), aber er spielte einen dicken und süßen Mephisto, weil er selbst sehr süß war, sogar beim Darstellen des Teufels, Eure Heiligkeit, wenn er Fausts Geliebter Serenaden vorsang. Übrigens gibt es als Beweis sogar Videoaufnahmen von der Veranstaltung: Es war 1989, Juni, im Hof des Hauses meiner Exfrau, der Mutter meines Kindes, und das Kind rezitiert mit elf Jahren die Texte des Mephisto; ein Scheidungskind, Eure Heiligkeit, aber trotzdem stets mit Aufmerksamkeit bedacht, besonders von den Großmüttern! Es ist ein von den Großmüttern aufgezogenes Kind, die ihm nie etwas Schlechtes und Wertloses beigebracht haben, wie Ihnen unbedacht herausgerutscht ist. Daher ist das etwas anderes – ich bitte um Entschuldigung, es geht hier um ein besonderes Kind. Den Kameramann habe ich, sein Vater, dazugeholt, weil ich merkte, dass da etwas Ungewöhnliches vor sich ging, jawohl, es ist ungewöhnlich, wenn ein elfjähriges Kind ein Theaterstück über eine Abmachung zwischen Gott und dem Teufel aufführt, noch dazu nur mit Unterstützung der Nachbarsmädchen, wenn er mit der Bedeutungsschwere des mit dem Teufel geschlossenen Paktes den ganzen Hof zusammentrommelt, einen von der Tante genähten Frack trägt und uns über die Bedeutung der Seelenrettung aufklärt: Wen sollen wir nicht ordentlich erzogen haben?«

      »Schon von Kindesbeinen an ging er auf antisowjetische Treffen«, würden die Großmütter sagen, wenn man sie fragen würde, und eine, die sentimentalste und emotionalste von ihnen, würde sehr entschlossen die Kirchenvertreter angreifen, die das Verhalten des Enkels nun kritisierten: »Mein Enkel war ein durch und durch einzigartiges Kind, sittsam und ordentlich; während andere Kinder schon am ersten Tag ihr Spielzeug kaputt machen (manche können es ja kaum erwarten, dem Teddy oder der Giraffe den Bauch aufzuschlitzen), führte mein Enkel Tetralogien auf, mit den Teddys oder Giraffen, die es in den leer gefegten Spielzeugläden der Sowjetunion nicht zu kaufen gab und die der eine oder andere aus Ländern des sozialistischen Lagers besorgt hatte. Wo andere übermütig wurden und deren arme Eltern schon nicht mehr wussten, womit sie das Kind überschütten könnten, beschäftigte sich dieses Kind von Anfang an mit sich selbst: Es legte sich ein Zeichenbrett auf die Knie, ein Blatt Papier darauf und malte die kompliziertesten Karikaturen, da staunten die Leute! Allein wie seine Gemälde entstanden – bei Menschen (meistens malte er Politiker) begann er mit den Schuhabsätzen und füllte dermaßen schnell und gewitzt das Blatt, dass selbst berühmte Maler verblüfft gewesen wären. Einmal brachte er eine Lehrerin in Schwierigkeiten, vor deren Strenge die ganze Schule zitterte: Die Frau lehrte Deutsch, und als sie anfing, den Kindern irgendeinen Unsinn zu erzählen und die Nibelungen erwähnte, nannte mein neunjähriger Enkel sofort Siegfried, seinen Lieblingshelden, und noch viele andere, von denen die Deutschlehrerin noch nicht einmal gehört hatte. Als er noch ganz klein und noch nicht dick war, nahm ihn der Vater auf die Schultern, und sie hörten zusammen die alten, unter der Nadelberührung kratzenden, aber trotzdem dröhnenden (für mich ein bisschen zu pompösen) Wagner-Schallplatten, das Kind tanzte dem Vater im wahrsten Sinne des Wortes auf der Nase herum! Vater und Sohn waren nicht eine Minute getrennt! Bevor der Sohn selbst lesen konnte, lasen wir ihm Bücher vor, und später ließ er sich den Lesestoff kaum entreißen; er las nicht nur brav Seite für Seite, um zur Belohnung in den Hof gehen zu dürfen (wie die anderen Kinder das taten), und niemand brauchte sich darüber den Kopf zu zerbrechen, womit man ihn beschäftigen könnte. Hatte er sich als Neunjähriger noch einen Welpen gewünscht, kaufte er sich nun auf Kosten meiner Rente zu seinem elften Geburtstag Mozarts Flötenkonzert. Er war ein intellektuelles Kind, aber weder verschlossen noch melancholisch oder boshaft, sondern offen, humorvoll und schon als Kind unterhaltsam. Wir können uns an große Festtafeln erinnern, da saßen viele Leute am Tisch, und dieses Kind, das damit beschäftigt war, andere zu erfreuen, sprach mal mit der von Medikamenten abgestumpften Stimme Leonid Breschnews, mal mit der Stimme Eduard Schewardnadses, den wir alle zu jener Zeit für einen Vaterlandsverräter hielten. Der Vater hatte Verständnis für den Jungen, denn er war wie geschaffen für die Kunst, aber seine Mutter verstand ihn nicht und gab ihn, um den Mann in ihm zu wecken, erst in die Obhut von Skiläufern und Rugbyspielern, dann von Wasserballern, doch das Kind fand keinen Zugang zur kumpelhaften Grobheit der Trainer, denn derartige Ungezogenheit und ungehobeltes Benehmen waren für meinen Enkel noch nie erstrebenswert, und wenn jemand denkt, er habe jemanden beleidigen oder kränken wollen, da irrt derjenige sich gewaltig: Keiner kann behaupten, dieses Kind habe im Laufe seiner dreiundzwanzig Lebensjahre jemals irgendjemanden beleidigt. Das ist eine Ungerechtigkeit!«

      Wer weiß, wie viel sie ihnen noch erzählen wollen würde, den Leuten, die uns beim Patriarchen Tbilissis in jenem Raum mit der vergilbten Tapete eingeschlossen hatten und mich mit vorgefertigten Dokumenten mit der Androhung des Kirchenausschlusses oder dem Angebot, als verlorener Sohn zurückzukehren, einschüchtern wollten.

      An jenem Tag aber vernahm leider niemand jene Argumente, die meine Vortrefflichkeit bestätigt hätten, die nicht gesprochenen Worte der verzweifelten Großmütter gingen in den Drohungen des Patriarchats unter.

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