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sein könnte.

      Gegen Abend sagte auch Ellen Langner zu Frau Clasen, daß sie befürchtete, dem Jungen könne etwas Ernsthaftes zugestoßen sein.

      »Es ist merkwürdig, daß niemand Kevin gesehen haben will. Wenn es nicht bald eine Spur von ihm gibt, wird wohl das Fernsehen eingesetzt werden müssen.«

      Bärbel Clasen nickte der Polizeimeisterin zu. »Das wird wohl das beste sein, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie Kevin die Stadt verlassen haben soll. Er hat weder Geld noch Lebensmittel bei sich.«

      »Vielleicht sollte man doch die Mutter benachrichtigen«, schlug Ellen Langner vor. »Möglicherweise weiß Kevin doch, wo sie lebt?«

      »Auf keinen Fall. Der Junge kommt doch an die Unterlagen überhaupt nicht dran, weil sie beim Jugendamt liegen – außerdem kann er noch gar nicht lesen. Er ist erst fünf Jahre alt.«

      »Ist in einer Unterhaltung zwischen Ihnen und einer Mitarbeiterin eventuell mal etwas über Frau Seifert gefallen, was er aufgeschnappt haben könnte?«

      Die Heimleiterin überlegte kurz. Sie erinnerte sich an das Gespräch mit Julia vor einiger Zeit – aber da war die Bürotür verschlossen gewesen. Kevin konnte nichts gehört haben, selbst wenn er gelauscht hätte…

      *

      Jetzt war Kevin schon den zweiten Tag bei Frau Schröder, und es gefiel ihm immer besser dort. Einmal hatte ihn die alte Dame gefragt, ob er denn nicht wieder nach Hause wollte – doch da hatte er einfach behauptet, daß seine Eltern im Urlaub waren und ihn sowieso die meiste Zeit allein ließen. Er hatte furchtbare Angst gehabt, daß Frau Schröder ihn wieder fortschicken würde, aber das hatte sie nicht getan.

      Nach dem Waisenhaus hatte Kevin keine Sehnsucht, aber ihm fiel auf, daß er Julia vermißte. Sie war immer so nett zu ihm gewesen, hatte ihn in Ruhe gelassen, wenn er nicht spielen wollte und ihn nicht, wie die anderen Erzieherinnen, ständig überreden wollen, doch zu den anderen zu gehen.

      Einen Plan, wie er seine Mutter finden konnte, hatte Kevin noch immer nicht. Frau Schröder hatte zwar ein dickes Telefonbuch, aber er wagte nicht zu fragen, ob sie nachsehen konnte, ob eine Frau Seifert darin stand und wo sie wohnte. Denn daß seine Mutter denselben Nachnamen trug wie er, war ihm klar.

      Zu dumm, daß er noch nicht lesen konnte! Vorerst wollte er überhaupt nichts unternehmen, sondern der freundlichen Frau Schröder noch ein wenig Gesellschaft leisten. Mit den Katzen hatte sich Kevin bereits angefreundet, er kannte inzwischen alle Namen. Napoleon war auch wieder aufgetaucht, ein großes, schwarz-weiß geflecktes Tier mit grünen Augen.

      »Er strolcht gerne mal für ein paar Tage in der Umgebung umher, kommt aber immer wieder zurück«, sagte Waltraud Schröder erleichtert zu Kevin, als Napoleon plötzlich laut miauend vor der Haustür stand. »Na, dann komm mal rein, du Streuner.«

      Kevin durfte dem Kater seine ›Begrüßungsmilch‹ geben, und er war mächtig stolz darüber. Auch sonst half er der alten Frau, fütterte die Katzen und machte sogar die eine oder andere kleine Hausarbeit. Nur einkaufen ging er nicht für Frau Schröder – zu groß war die Gefahr, daß ihn jemand aus dem Heim erkannte und er wieder dorthin zurück mußte! Und das wollte er auf keinen Fall – nie wieder!

      Einmal war ihm eingefallen, daß er ja Geburtstag hatte, aber das war ihm egal. Hauptsache, er mußte nicht mehr tatenlos darauf warten, bis seine Mutter endlich kam…

      *

      Vorsorglich hatte sich Bärbel Clasen vom Jugendamt die Adresse und Telefonnummer von Marion Seifert geben lassen. Doch die Frau meldete sich nicht am Telefon, und die Heimleiterin beschloß, es später noch einmal zu versuchen.

      Natürlich hatten einige Reporter inzwischen Wind davon bekommen, daß aus dem Städtischen Waisenhaus ein kleiner Junge verschwunden war. Es lungerten immer ein paar von ihnen vor dem Eingangstor; anfangs waren sie einfach frech auf das Gelände gekommen und hatten versucht, die Kinder auszufragen.

      Frau Clasen hatte nicht genügend Personal, um jemanden damit beauftragen zu können, die Reporter vom Gelände fernzuhalten; daher hatte sie sich entschlossen, das Tor auch tagsüber abzuschließen. Wer hinein wollte, mußte läuten und durch die Sprechanlage seine Wünsche äußern.

      »Das gefällt mir gar nicht!« seufzte sie. »Die Kinder müssen sich ja wie im Gefängnis vorkommen!«

      Julia nickte zustimmend. »Ja, das stimmt – es ist aber immerhin besser, als wenn die Kleinen dauernd von Journalisten belästigt werden.«

      »Na ja, ob sie das als Belästigung auffassen, bezweifle ich. Die meisten sind richtig stolz darauf, interviewt zu werden!«

      »Gut, daß die Polizei das Schlupfloch hinten im Zaun entdeckt hat, sonst wären die Reporter noch imstande, da durchzukriechen.«

      Noch am Tag von Kevins Verschwinden war das Loch entdeckt worden und zur Enttäuschung der größeren Kinder vom Hausmeister geflickt worden. Es war nun auch klar, auf welchem Weg Kevin ausgebüxt war.

      »Wie geht es Diana und Marianne heute?« fragte Frau Clasen. »Die ganze Sache hat sie sehr mitgenommen.«

      »Nun, sie haben sich etwas beruhigt. Aber ich denke, sie werden erst wieder ruhig schlafen können, wenn der Junge gefunden wurde«, erwiderte Julia und dachte, daß auch sie vorher keine Ruhe haben würde.

      In diesem Moment rief der Hausmeister an. Ein Mann stehe vor dem Tor und würde gern mit der Heimleitung reden. Ob er zu Frau Clasen vorgelassen werden dürfte?

      »Hoffentlich nicht wieder ein Zeitungsfritze«, seufzte Frau Clasen. »In Ordnung, lassen Sie ihn herein.«

      »Ich bleibe hier, falls Sie meine Hilfe brauchen«, bot Julia an, und die Heimleiterin nickte dankbar.

      Wenige Minuten später klopfte es an die Bürotür, und ein gutaussehender Mann Anfang Dreißig steckte seinen Kopf vorsichtig durch die Türöffnung. »Verzeihung, bin ich hier richtig bei der Heimleitung?«

      »Das steht doch wohl groß genug an der Tür«, bemerkte Julia giftig, was ihr einen tadelnden Blick von Frau Clasen einbrachte.

      »Kommen Sie herein«, sagte sie, »aber wenn es um das verschwundene Kind geht, können Sie gleich wieder gehen.« Auch Bärbel Clasen war durch die Ereignisse der letzten Tage gereizt.

      »Mein Name ist Westermann, Roland Westermann«, stellte er sich höflich vor. »Und ich komme nicht wegen eines vermißten Kindes, sondern wegen meines Sohnes.«

      »Aha«, machte Frau Clasen und bot dem Fremden Platz an. »Und wer ist Ihr Sohn?«

      »Er heißt Kevin Seifert.«

      Sekundenlang war es so still, daß man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Die beiden Frauen sahen sich verdutzt an – war der Mann doch ein Reporter, der versuchte, durch Lügen an Informationen zu kommen oder…?

      »Würden Sie bitte noch einmal wiederholen, was Sie gerade gesagt haben?« fragte Julia mit zitternder Stimme.

      Roland Westermann war das merkwürdige Verhalten der beiden Frauen aufgefallen, dennoch wiederholte er artig, daß er zu seinem Sohn Kevin Seifert wollte.

      Bärbel Clasen fing sich als erste wieder. Sie räusperte sich und fragte: »Sie wollen also Kevins Vater sein, ja? Soviel uns bekannt ist, wurde der Junge unehelich geboren und von seiner Mutter zur Adoption freigegeben. Von einem Vater ist dem Jugendamt nichts bekannt.«

      »Ich wußte bis vor ein paar Tagen ja auch nicht, daß ich seit fünf Jahren Vater bin.« Roland Westermann machte ein verzweifeltes Gesicht, und die Heimleiterin fragte skeptisch. »Dann sind Sie kein Reporter?«

      »Reporter?« Er sah so überrascht aus – das konnte einfach nicht gespielt sein! »Wie kommen Sie denn auf die Idee? Ich bin Kaufmann und betreibe hier in der Stadt ein gutgehendes Geschäft mit Computern.« Er sah von Frau Clasen zu Julia und fragte: »Was soll das eigentlich alles? Ist das ein Verhör?«

      »Natürlich nicht!« beeilte sich Bärbel Clasen zu sagen. »Wir

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