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hätte und sich gewundert, daß die Frau ihn mit zu sich nach Hause eingeladen hatte, anstatt ihm zu sagen, daß sie die Polizei holen würde, damit er wieder nach Hause fände.

      Frau Schröder war etwas merkwürdig, fand Kevin – und ein wenig schusselig. Aber das sagte er natürlich nicht. Er war ja froh, daß er fürs erste ein Dach über dem Kopf hatte, bis ihm ein guter Plan einfiel.

      Behutsam setzte Kevin die Katze auf den Fußboden und schwang die Beine aus dem Bett. Im Zimmer war es schön warm, doch der Fußboden war ziemlich kühl. Das käme, weil das alte Haus keinen Keller besäße, hatte Frau Schröder erklärt. Sie wohnte schon seit über fünfzig Jahren in dem Häuschen – zusammen mit ihren Katzen. Im Moment lebten hier acht Katzen, wenn man den noch immer verschwundenen Kater Napoleon mitzählte.

      Kevin öffnete die Tür und trat in den Flur. Es war schon fast Mittag und normalerweise schlief er nicht so lange, aber er war ja die ganze Nacht unterwegs gewesen und dankbar in das weiche Bett gefallen. Jetzt verspürte er Hunger. Er hoffte, daß es nicht zu aufdringlich klang, wenn er um eine Scheibe Brot und vielleicht ein Glas Milch bitten würde.

      Waltraud Schröder, neunundsiebzig Jahre alt und in der Gegend als ›Katzenmuttchen‹ bekannt, galt als schrullig, aber liebenswürdig. Sie freute sich, daß sie endlich Gesellschaft hatte in Form dieses netten, kleinen Jungen, der vom Himmel gestiegen zu sein schien.

      Mit Kindern und Tieren konnte man sich anfreunden, dachte sich Frau Schröder, einen Erwachsenen hätte sie nicht so einfach ins Haus gelassen!

      Jetzt drehte sie sich sofort um, als sie Kevin unschlüssig an der Küchentür stehen sah. »Komm doch rein, Jungchen. Hast du gut geschlafen? Sicherlich hast du Hunger, natürlich hast du Hunger! Setz dich da hin, ich mache dir etwas zu essen. Spiegeleier mit Speck und ein Marmeladenbrötchen?«

      Kevin bekam vor Erstaunen den Mund nicht mehr zu und nickte nur. Hier ließ es sich aushalten, fand er und beschloß, noch eine Weile der alten Dame und ihren Katzen Gesellschaft zu leisten…

      *

      »Wir haben Kevins Foto an alle größeren Zeitungen geschickt«, sagte am Nachmittag desselben Tages Ellen Langner zu Frau Clasen. »Der Junge kann schließlich nicht vom Erdboden verschwunden sein.«

      Bärbel Clasen nickte, der Tag glich einem Alptraum, aus dem sie gleich aufzuwachen hoffte. Nicht nur, daß sich alle schreckliche Sorgen um den Kleinen machten, die Nervosität und Unruhe schien sich auch auf die anderen Kinder zu übertragen. Bereits mehrmals mußte eine der Erzieherinnen Streit schlichten oder dazwischengehen, wenn sich ein paar Kinder rauften.

      »Sind Ihre Kollegen denn wirklich die ganzen Straßen abgefahren?« fragte sie mit einem Anflug von Hoffnung.

      »Selbstverständlich«, erwiderte Ellen ruhig. »Alle verfügbaren Streifenwagen fahren nach wie vor alle Straßen ab – leider bisher ohne Erfolg. Aber ich bin sicher, daß Kevin gefunden wird, wenn sein Foto morgen in den Zeitungen erscheint. Irgend jemand muß ihn doch gesehen haben!«

      Eine sehr blasse Marianne Balke klopfte an die geöffnete Tür des Büros. »Störe ich?«

      Ohne auf die Antwort zu warten, trat sie ein. »Diana hat mir erzählt, was heute nacht passiert ist. Glauben Sie mir, Frau Clasen, es tut mir schrecklich leid, was geschehen ist. Mich trifft die Schuld ja genauso wie Diana.«

      »Jetzt setzen Sie sich erstmal und machen sich keine Vorwürfe. Ich habe schon zu Diana gesagt, daß Sie sich beide keine Vorwürfe zu machen brauchen. Schließlich können Sie nicht die ganze Nacht im Haus herumwandern, um zu sehen, ob ein Kind sich davonschleichen will.«

      »Wo kann Kevin denn nur stecken?« fragte sie mit einem Blick auf Ellen Langner.

      Diese zuckte die Achseln. »Noch wissen wir leider überhaupt nichts, aber das kann sich sehr schnell ändern.« Dann erzählte sie von den Suchanzeigen, die am nächsten Tag in den Zeitungen erscheinen sollten.

      Erst abends, als die Kinder im Bett waren, trat etwas Ruhe ein. Von den Erzieherinnen war keine nach dem offiziellen Feierabend nach Hause gegangen. Diana mußte überredet werden, sich wenigstens in einem Ruheraum für eine Weile hinzulegen, weil alle befürchteten, daß sie ansonsten einen Nervenzusammenbruch erlitt.

      Die anderen, Bärbel Clasen inbegriffen, saßen stumm im Aufenthaltsraum; nur das ständige Blubbern der Kaffeemaschine war zu hören. Keiner wußte, wie viele Tassen Kaffee er an diesem Tag schon getrunken hatte, aber das war auch egal.

      Die beiden Polizeibeamtinnen hatten am späten Nachmittag ohne Ergebnis das Waisenhaus verlassen und wollten sich am nächsten Morgen wieder melden.

      Julia öffnete ihren Spind, um sich ihre Strickjacke herauszuholen, da fiel ihr Blick auf das Geschenkpäckchen.

      »Kevin hat heute Geburtstag«, sagte sie mit tonloser Stimme.

      Im Hintergrund hörte sie Marianne schluchzen, und Frau Clasen seufzte tief auf. »Hören Sie, ich glaube, es hat nicht viel Zweck, weiterhin hier herumzusitzen und zu grübeln. Bitte gehen Sie, außer der Nachtwache, nach Hause zu ihren Familien. Ich selbst werde mich in meinem Büro etwas hinlegen, der Tag war lang und anstrengend.«

      »Unmöglich!« protestierte Diana, die gerade in das Zimmer gekommen war. »Ich werde hierbleiben!«

      »Dann bleibe ich auch hier«, sagte Julia sofort. »Wir übernehmen den Dienst von Sylvia und Michaela.«

      »Meinetwegen, aber die anderen gehen jetzt bitte nach Hause«, erwiderte Bärbel Clasen müde. »Wenn sich etwas ergibt, rufe ich Sie alle an, das verspreche ich.«

      Nur zögernd verließen die Frauen den Aufenthaltsraum; doch Frau Clasen hatte recht. Kevin würde auch nicht eher wieder auftauchen, wenn sie Nacht für Nacht hier untätig herumsitzen und warten würden.

      Zum Schluß saßen nur Diana und Julia da, auf dem Tisch eine Anzahl leerer Kaffeetassen.

      »Habt ihr denn bei eurem Rundgang heute nacht nichts bemerkt?« fragte Julia besorgt. »Ist dir irgend etwas aufgefallen?«

      Diana schüttelte langsam den Kopf. »Das hat mich die Polizei auch schon gefragt, aber wir haben wirklich nichts gemerkt.«

      Es war Vorschrift, daß die Nachtwache einmal in der Stunde in das obere Stockwerk ging und an den Türen horchte, ob alles ruhig war. Hin und wieder wurde leise eine Tür geöffnet und kurz hineingesehen, ob die Kinder tatsächlich schliefen oder heimlich unter der Bettdecke mittels einer Taschenlampe ein Comicheft lasen, was öfter mal vorkam. Aber mehr als Stichproben war bei den vielen Zimmern nicht möglich. Nur durch Zufall wäre Kevins Verschwinden aufgefallen oder hätte sein Fortschleichen bemerkt werden können…

      *

      Tatsächlich erschienen in einer lokalen und zwei regionalen Tageszeitungen die Suchanzeige und das Foto von Kevin. Den ganzen Tag über erwartete man Hinweise darüber, wo der Junge sein konnte.

      Jedesmal, wenn das Telefon im Büro schrillte, zuckten alle zusammen, da in der Zeitung außer der Telefonnummer der Polizei auch die Rufnummer des Heimes stand. Doch die meisten Anrufer wollten wissen, ob der Junge schon gefunden worden war oder hatten mit dem Fall gar nichts zu tun. Zweimal war angeblich ein Kind gesehen worden, das so aussah wie Kevin – doch beide Male mußte die Polizei unverrichteter Dinge wieder abrücken, da es sich um falschen Alarm handelte. Einer der Jungen, der angeblich Kevin sein sollte, spielte vor seinem Elternhaus und der andere entpuppte sich als rothaariges sommersprossiges Kerlchen, das bereits zehn Jahre alt war.

      Julia hatte seit Kevins Verschwinden kaum schlafen können; sie war zwar nach ihrem Nachtdienst, der ruhig verlief, kurz nach Hause gefahren, um zu duschen und frische Kleidung anzuziehen, aber sie legte sich nicht hin, wie ihr Bärbel Clasen geraten hatte.

      Wo mochte der Junge jetzt wohl sein? Schlimme Gedanken fuhren Julia durch den Kopf. Heutzutage konnte man doch niemandem mehr über den Weg trauen! Kevin war zwar kein leichtgläubiges Bürschchen, aber trotzdem ein kleiner schwacher Junge, der sich sicherlich nicht gegen einen Erwachsenen wehren konnte.

      Im MARIENKÄFER versuchte das

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