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Bin ich nicht für noch viel freisinnigere Ansichten bekannt als Herr von Boiscoran? Da – da ist das Stichwort: Herr von Boiscoran ist Republikaner. Herr von Boiscoran erkennt keine andere Souveränität, keine andere Verwaltung an als die des Volkes.«

      »Doktor«, unterbrach der Staatsanwalt, »Doktor, Sie wissen nicht, was Sie sprechen ...«

      »Ich weiß es wohl, zum Teufel! Ja sogar ...«

      Aber er wurde von neuem unterbrochen, und diesmal durch Herrn von Claudieuse.

      »Was mich betrifft«, erklärte der Graf, »so erkenne ich die Kraft der Wahrscheinlichkeiten an, die der Herr Untersuchungsrichter aufgeboten. Aber über die Wahrscheinlichkeiten setze ich eine positive Tatsache: den Charakter des beschuldigten Mannes. Herr von Boiscoran ist ein Ehrenmann und ein Mann von Herz, unfähig, ein so schändliches und gottloses Verbrechen zu begehen ...»

      Auch die übrigen stimmten ein.

      »Und ich«, sprach Herr Sénéchal, »ich frage: Warum dieses Verbrechen? Ja, wenn Herr von Boiscoran nichts zu verlieren hätte! Aber wo in aller Welt gibt es einen glücklicheren Menschen, jung, wohlhabend, von bewunderungswürdiger Gesundheit, unermeßlich reich, geachtet und überall gesucht? Außerdem – ein Umstand, der noch Familiengeheimnis ist, aber den ich Ihnen mitteilen kann und der allein genügt, jeden Zweifel zu beseitigen: Herr von Boiscoran ist bis zur Leidenschaft in das Fräulein Denise von Chandoré verliebt und wird ebenso von ihr wiedergeliebt, und seit vorgestern ist ihre Hochzeit auf den zwanzigsten des nächsten Monats festgesetzt.«

      Mittlerweile verstrich die Zeit.

      Von dem Kirchturm von Bréchy schlug es halb vier. Der Tag war angebrochen und ließ den Schein der Lampen erbleichen. Aus dem Morgennebel hervortretend, brach die Sonne mit ihren freundlichen Strahlen durch die Scheiben.

      Aber keiner von den Männern, die in so ernste Betrachtungen vertieft das Bett des Grafen umgaben, schien es zu bemerken.

      Regungslos, ohne ein Wort zu sprechen, hatte Herr Galpin-Daveline die Einwürfe angehört, die ihm gemacht wurden. Er hatte wieder so weit Herrschaft über sich gewonnen, daß es schwer gewesen wäre, den durch diese hervorgerufenen Eindruck zu erraten.

      Endlich sprach er mit ernstem Kopf schütteln:

      »Mehr als Sie alle, meine Herren, bedarf ich des Glaubens an die Unschuld des Herrn von Boiscoran ... Herr Daubigeon weiß, was ich damit sagen will, und kann es bestätigen. Mein Herz verteidigte vor Ihnen allen seine Rechte. Aber ich bin der Vertreter des Gesetzes, und über meinen Neigungen steht meine Pflicht ... Hängt es von mir ab, die Anklage Cocoleus, so einfältig, so absurd sie scheint, zunichte zu machen? Kann ich es ungeschehen machen, daß drei unerwartete Aussagen dieser Anklage den beunruhigenden Charakter der Wahrscheinlichkeit verliehen haben?«

      Außer sich rief der Graf von Claudieuse: »Und was abscheulich dabei ist: Herr von Boiscoran hält mich für seinen Feind. Daß ihm nur nicht der Gedanke komme, dieser unwürdige Verdacht sei von mir oder meiner Frau aufgestellt worden! O daß ich mich jetzt nicht rühren kann! ... Meine Herren, darauf wenigstens verlasse ich mich, Herrn von Boiscoran zu bedeuten, daß ich für ihn einstehe wie für mich selbst. Cocoleu ... der verdammte Idiot; ach, Geneviève, warum ermutigtest du ihn zum Sprechen? Hättest du nicht darauf bestanden, er wäre hartnäckig bei seinem Schweigen geblieben.«

      Da unterlag endlich auch Frau von Claudieuse den Ängsten dieser schrecklichen Nacht.

      Während der ersten Stunden hatte die Aufregung, die gewöhnlich einer großen Krise folgt, sie aufrecht gehalten; aber seit einem Augenblick war sie auf einem Fußschemel neben dem Lager, auf dem ihre beiden Kinder ruhten, niedergesunken, und das Haupt in den Kissen verbergend, schien sie zu schlafen. – Aber es schien nur so.

      Bei der Anrede ihres Gatten erhob sie sich bleich, mit verstörten Zügen und geröteten Augen, und rief mit durchdringender Stimme: »Was ... man hat versucht, Trivulce zu ermorden, fast wären meine Kinder in den Flammen umgekommen, und ich sollte uns das Mittel entgehen lassen, den elenden Mörder, den schändlichen Brandstifter zu entdecken? ... Nein, was ich getan habe, das mußte ich tun. Was auch daraus entstehe, ich bereue nichts.«

      »Aber Herr von Boiscoran ist nicht schuldig, Geneviève; es ist unmöglich, daß er es ist. Wie sollte ein Mann, der das hohe Glück hat, von Denise von Chandoré geliebt zu werden, der schon die Tage zählt, die ihn von seiner Verbindung mit der Geliebten trennen, wie sollte der ein so gräßliches Verbrechen ersonnen haben?«

      »Wenn er unschuldig ist, so mag er es beweisen!« entgegnete die Gräfin streng.

      Der Doktor Seignebos biß vor Ärger die Zähne zusammen. »Das heißt wieder einmal Frauenlogik!« murmelte er.

      »Man wird nicht ermangeln, seine Unschuld zu beweisen«, sprach Herr Sénéchal, »soviel ist gewiß. Er bleibt dennoch aber für immer verdächtigt. Und, so ist der Geist unseres Volkes, dieser Verdacht wird einen Schatten auf sein ganzes zukünftiges Leben werfen. Nach zwanzig Jahren wird man noch sagen, wenn von Herrn von Boiscoran die Rede ist: ›Ach! ja der – der das Feuer in Valpinson angesteckt hat!‹«

      Jetzt war es nicht Herr Galpin-Daveline, sondern der Staatsanwalt, der darauf mit bedrückter Stimme antwortete: »Ich teile zwar die Ansicht des Herrn Bürgermeisters nicht, aber was liegt daran! Nach allem, was vorgegangen ist, kann der Herr Untersuchungsrichter nicht mehr zurückgehen; seine Pflicht und mehr noch das Interesse des Angeklagten untersagen es ihm. Was würden alle die Bauern, die Cocoleus Erklärungen und die Aussage der Zeugen mit angehört – was würden sie sagen, wenn die Anklage aufgehoben würde? Daß Herr von Boiscoran schuldig ist, und daß man ihn nicht verfolgt, weil er reich und adelig ist. – Auf meine Ehre, ich glaube an seine Unschuld. Aber eben weil dies meine Überzeugung ist, so halte ich dafür, daß man nicht eher ruhen darf, als bis man sie unwiderleglich klar dargetan hat. Die Mittel müssen sich finden. Als er Ribot begegnete, sagte er ihm, daß er nach Bréchy ginge, um jemand zu sprechen ...«

      »Und wenn er nicht dorthin gegangen wäre?« wandte Herr Sénéchal ein. »Wenn es nur ein Vorwand gewesen wäre, um die zudringliche Neugier Ribots zu befriedigen? Nun wohl, dieser Umstand wäre bald beseitigt; er hätte nur vor Gericht die Wahrheit zu erklären. Mir ist darum nicht bange. Und – es ist auch ein handgreiflicher Beweis, der mehr als alles übrige Herrn von Boiscoran freispricht: selbst wenn er, was unmöglich ist, die Absicht gehabt hätte, Herrn von Claudieuse zu ermorden, so hätte er seine Flinte mit einer Kugel und nicht mit Schrot geladen.«

      »Und er hätte mich nicht auf zehn Schritte verfehlt«, rief der Graf. Heftige Schläge an die Tür unterbrachen ihn.

      »Herein!« schrie Herr Sénéchal.

      Die Tür öffnete sich und drei Bauern erschienen, mit aufgeregten, aber sichtlich befriedigten Mienen.

      »Wir haben soeben«, sagte einer von ihnen, »etwas Sonderbares gefunden!«

      »Was?« fragte Herr Galpin-Daveline.

      »Man würde es fürwahr für ein Etui halten. Aber Pitard behauptet, daß es die Hülse einer Patrone sei.«

      »Zeigt her«, rief der Graf, der sich aus seinen Kissen erhoben hatte. »Ich habe in den letzten Tagen mehrere Schüsse in der Nähe meines Hauses abgefeuert, um die Vögel, welche uns die Früchte verdarben, zu verscheuchen. Ich will sehen, ob diese Hülse mir gehört.«

      Der Bauer reichte sie ihm hin.

      Es war eine sehr feine Hülse, wie die Patronen zu den amerikanischen Doppelflinten sie meistens haben. Seltsam, sie war geschwärzt

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