ТОП просматриваемых книг сайта:
Der Strick um den Hals. Emile Gaboriau
Читать онлайн.Название Der Strick um den Hals
Год выпуска 0
isbn 9783849615697
Автор произведения Emile Gaboriau
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Immer aufrecht an der Schwelle des Zimmers stehend, dessen Zutritt er der unmäßigen Neugier der Bauern entzog, begnügte sich der Bürgermeister von Sauveterre mit den bescheidenen Funktionen eines Gerichtsdieners.
»Ist noch jemand da, der etwas zu sagen hätte?« rief er, nachdem Frau Courtois sich verlegen zurückzog und vielleicht schon bedauerte, etwas gesagt zu haben.
Da niemand mehr vortrat, schloß er ohne weiteres die Tür, indem er hinzufügte: »Dann geht, meine Freunde, und gebt der Justiz Zeit, sich in Ruhe zu beraten.«
Die Justiz aber, insofern es die Person des Untersuchungsrichters betraf, befand sich in dem Zustande grausamster Verwirrung.
Auf den Tisch, an dem er sich niedergesetzt, stützte sich Herr Galpin-Daveline mit aufgestemmten Ellbogen, bestürzt bis zu dem Grade, daß er gar keine Bewegung mehr versuchte; die Stirn in die Hände gepreßt, saß er da und schien nach einem Ausgang des Engpasses zu suchen, in den er sich hineingewagt.
Plötzlich richtete er sich auf, und sein gewohntes Amtsgesicht vergessend, ließ er die Maske eisiger Unempfindlichkeit fallen.
»Was nun?« rief er, als hätte er in der Angst seiner Seele auf Beistand gehofft oder einen Rat erfleht: »Was nun?«
Niemand gab ihm eine Antwort.
Aller, die ihn umgaben, hatte sich das tiefste Entsetzen bemächtigt, sowohl des Grafen und der Gräfin von Claudieuse, als Herrn Sénéchals, des Staatsanwalts, und selbst des Doktors.
Jeder von ihnen suchte sich noch gegen diese unwahrscheinliche, nicht zu begreifende, unerhörte Anklage zu sträuben.
Endlich, nach kurzem Schweigen, begann der Richter mit eigentümlicher Bitterkeit: »Sie sehen es, meine Herren, ich tat recht, als ich den Cocoleu verhörte ... Oh, versuchen Sie nicht, es zu bestreiten! Denn jetzt teilen Sie selbst meinen Zweifel und meinen Verdacht. Wer von Ihnen dürfte noch behaupten, daß der Unglückliche nicht durch die Übergewalt einer furchtbaren Aufregung für einige Minuten seine volle Vernunft wiedergewonnen hätte? Als er behauptete, dem Verbrechen beigewohnt zu haben, als er uns den Namen des Schuldigen angab, zuckten Sie die Achseln. Aber andere Zeugen sind aufgetreten, und aus der Übereinstimmung ihrer Aussagen geht eine Fülle der schrecklichsten Vermutungen hervor.«
Er wurde wieder lebhafter.
Die Amtsgewohnheit, stärker als alles übrige, gewann wieder die Oberhand.
»Herr von Boiscoran«, fuhr er fort, »war am Abend nach Valpinson gekommen. Dies ist jedenfalls unwiderruflich. Auf welche Weise aber war er gekommen? Indem er sich zu verbergen suchte. Vom Schlosse von Boiscoran nach Valpinson führen zwei gleichbegangene Wege; der von Bréchy und der, welcher um die Teiche führt. Hat Herr von Boiscoran den einen oder den anderen dieser beiden Wege gewählt? Nein! Um hinzukommen, durchschnitt er geradewegs das Moor, auf die Gefahr hin, dort einzusinken und bis an die Schultern ins Wasser zu geraten. Auf dem Rückweg schlug er sich in den Wald von Rochepommier, trotz der Dunkelheit und trotz der offenbaren Gefahr, sich zu verirren und bis zum Morgen sich nicht wieder zurechtzufinden. Warum das? Was beabsichtigte er damit? – Nicht gesehen zu werden. Das ist augenscheinlich. Und ferner, wem ist er begegnet? Einem Mädchenjäger, dem Ribot, der sich selbst versteckte, um ein Liebesabenteuer aufzusuchen. Einem Holzdieb, Gaudry, dessen einzige Sorge ist, den Gendarmen auszuweichen. Einer Pächterin endlich, der Frau Courtois, die sich durch einen Zufall auf ihrem Wege verspätet hatte. Alle diese Vorsichtsmaßregeln waren wohl getroffen, aber die Vorsehung wacht ...«
»Ach was, die Vorsehung!« brummte Doktor Seignebos, »die Vorsehung!«
Herr Galpin-Daveline schien die Unterbrechung kaum zu hören. In immer größeren Eifer geratend, fuhr er fort: »Kann man andererseits zugunsten des Herrn von Boiscoran einige Widersprüche in der Zeitangabe anführen? Nein. Wann wurde er, von dieser Seite herkommend, gesehen? Beim Einbrechen der Nacht. Es war gegen halb neun, behauptet Ribot, als Herr von Boiscoran den Damm der Seilleteiche passierte. Also konnte er gegen halb zehn in Valpinson sein. – Um diese Zeit war das Verbrechen noch nicht begangen. Wann begegnete man ihm auf der Rückkehr in seine Wohnung? Gaudry und die Frau Courtois haben es Ihnen gesagt: nach elf Uhr. Da aber war Herr von Claudieuse verwundet und Valpinson in Brand. – Wissen wir etwas von der Gemütsverfassung des Herrn von Boiscoran? Ja – auch das. Auf dem Hinweg war er vollkommen kaltblütig; er war sehr erstaunt, dem Ribot zu begegnen, erklärte ihm aber seine Anwesenheit an diesem ziemlich gefährlichen Orte, und warum er die Flinte über der Schulter hatte. Er mußte, wie er vorgab, jemand in Bréchy sprechen, und zugleich hatte er sich vorgenommen, Wasservögel zu schießen. Ist das annehmbar? Ist es wahrscheinlich? – Doch untersuchen wir sein Verhalten auf dem Rückwege. Er schritt schnell vorwärts, sagt Gaudry aus; er erschien in großem Zorn und riß von Zeit zu Zeit Hände voll Blätter von den Ästen. Was sagte er der Frau Courtois? – Nichts. Da sie ihn rief, durfte er nicht fliehen, das wäre zu auffällig gewesen, aber in aller Eile leistete er ihr den Dienst, um den sie ihn bat. Und weiter? Während einer Viertelstunde hatte er denselben Weg zu machen wie die Frau Courtois. Ging er mit ihr? – Nein. Er eilte voraus, um sein Haus zu erreichen, denn er glaubte den Grafen von Claudieuse tot, denn er wußte, daß Valpinson in Flammen stand; er erwartete zitternd die Sturmglocke läuten, Feuer ausrufen zu hören.«
Es ist nicht gewöhnlich, daß die Justiz auf eine so familiäre Weise verfährt. Doch bestehen im allgemeinen, wo es sich um eine Untersuchung handelt, keine festgesetzten Regeln. Von dem Augenblick an, da ein Untersuchungsrichter einem Verbrechen auf der Spur ist, wird ihm alle Vollmacht überlassen, um den Schuldigen ausfindig zu machen.
Mit unumschränkter Herrschaft, nur von seinem Gewissen geleitet, mit der äußersten Machtvollkommenheit ausgerüstet, handelt er nach seinem Gutdünken.
Aber in der Angelegenheit von Valpinson hatte die rasche Folge der Umstände Herrn Galpin-Daveline mit sich fortgerissen. Zwischen der ersten an Cocoleu gerichteten Frage und dem jetzigen Augenblick hatte er kaum Zeit gehabt, sich zu besinnen. Und da sein Verfahren ein öffentliches gewesen, war er leidigerweise genötigt, es zu rechtfertigen.
»Das ist ja ein Requisitorium in aller Form«, rief der Doktor Seignebos. Er hatte mit einer wütenden Gebärde seine goldene Brille abgenommen und wieder aufgesetzt.
»Und worauf begründet?« fuhr er mit zu großer Heftigkeit fort, als daß es möglich gewesen wäre, ihn zu unterbrechen. »Begründet auf die Antworten eines Unglücklichen, den ich als Arzt für unzurechnungsfähig erkläre. Denn die Intelligenz pflegt nicht im menschlichen Gehirn aufzuflammen und zu verlöschen wie das Gas in einer Laterne. Entweder man ist Idiot oder man ist es nicht; er ist es immer gewesen und wird es immer sein. – Aber, sagen Sie, die übrigen Aussagen stimmen überein. Sagen Sie wenigstens, daß es Ihnen so scheint. Warum dies? Weil Cocoleus Beschuldigungen Sie beeinflußt haben. Würden Sie sich sonst darum kümmern, was Herr von Boiscoran getan oder unterlassen hat? Er ist den ganzen Abend umhergewandert. Hat er dazu nicht das beste Recht? Er ist durch das Moor gegangen. Wer kann ihn daran hindern? Er ist durch den Wald gestreift. Seit wann ist das verboten? Man ist ihm begegnet. Ist das nicht ganz natürlich? Aber nein, ein Schwachsinniger beschuldigt ihn, und nun sind alle seine Handlungen verdächtig. Er redet – und bekundet damit das kalte Blut eines verhärteten Übeltäters. Er schweigt – und beweist dadurch die Gewissensbisse eines Schuldigen, der vor Furcht zittert. Anstatt des Herrn von Boiscoran konnte Cocoleu mich nennen, mich, den Doktor Seignebos.