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und jung aussehe. Das war sehr charmant, aber man weiß nie, was passiert. Im Oktober haben wir unser Familientreffen. Alle zwei Jahre kommen die Dattan-Erben zusammen, es ist mittlerweile ein Großereignis. Ich würde gern bis dahin die Sammlung abschließen. Und ich möchte gern eine Chronik der Unternehmensgeschichte in Auftrag geben.

      Wissen Sie, das Jahr 2014 ist ein besonderes Jahr. Vor 150 Jahren begann alles, dort im wilden Osten, bei den vierundvierzig Holzhütten. Am 16. September 1864 erreichte die Meta mit der ersten Hamburger Warenladung den Hafen von Wladiwostok. Ich möchte ein Buch schreiben, aber dazu brauche ich Sie. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, glauben Sie mir, Anna.“

      Was sollte ich dazu sagen? Ich wusste nicht, ob ich diesen Erwartungen je gerecht werden könnte. Was wäre, wenn ich nichts finden würde? Die Enttäuschung wäre größer denn je. Ich dachte plötzlich wieder an die Annonce: Bei zufriedenstellenden Rechercheergebnissen erwartet den Bewerber eine überdurchschnittliche Bezahlung. So ein Quatsch – zufriedenstellende Rechercheergebnisse … Was wäre zufriedenstellend? Nur das Tagebuch. Was wäre, wenn ich nichts oder etwas ganz anderes entdecken würde? Kein ernst zu nehmender Forscher konnte das Ergebnis vorhersehen. Kein seriöser Wissenschaftler konnte sich auf so etwas einlassen. Ich war Historikerin, kein Detektiv. Ich musste die Reißleine ziehen, auch wenn ich ihm gern geholfen hätte, auch wenn ich gern nach Russland gefahren wäre. Die Erwartungen waren einfach zu hoch.

      „Es tut mir schrecklich leid, Herr Bornecker, aber es geht doch nicht. Ich kann den Auftrag nicht annehmen.“

      Siegfried Bornecker sah mich entsetzt an. Es war, als ob ich ihm ins Gesicht geschlagen hätte.

      „Ich kann Ihnen das nicht versprechen. Das Tagebuch kann überall sein, wenn es überhaupt noch existiert. Wer weiß, ob es nicht zerstört wurde, ob es überhaupt in Russland liegt. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich es finde, ist winzig klein. Vielleicht entdecke ich stattdessen Dinge, die nicht in Ihr Bild passen, von denen Sie lieber nichts wissen wollen. Vielleicht ist es besser, sich mit den Lücken abzufinden.“

      Plötzlich lachte Bornecker. Ich wusste nicht, was es da zu Lachen gab, denn ich hatte ihm gerade eine Abfuhr erteilt.

      „Ich habe Sie richtig eingeschätzt, Anna. Ich wusste, dass Sie das sagen würden, ich wusste, dass Sie zweifeln würden, weil Sie die Sache ernst nehmen. Das beruhigt mich. Und trotzdem. Wenn ich suche, ist die Chance noch unvergleichlich viel kleiner. Sie fahren, Anna Stehr. Ich weiß, Sie sind die Richtige. Wenn jemand etwas findet, dann Sie. Den Test mit dem Deckblatt habe ich mit drei Historikern gemacht. Mit drei renommierten Historikern, wohlgemerkt. Der Erste hat minutenlang das Papier studiert und aus der Analyse der Fasern das Alter des Blattes geschlussfolgert. Der Zweite hat mir einen Vortrag über die Schrifttype der verwendeten Schreibmaschine gehalten und die Vorzüge der Erika Nr. 1, der ersten deutschen Reiseschreibmaschine, gepriesen. Und wissen Sie, was der Dritte gesagt hat? Dass der Narymer Kreis nach der Gebietsreform von 1918 genau genommen gar nicht mehr im Gouvernement Tomsk lag, sondern knapp hinter der Grenzlinie. Ich kann das alles nicht beurteilen Anna, aber auf das Naheliegende ist keiner dieser drei Experten gekommen, weil sie zu spezialisiert sind – Gefangene in ihrem Elfenbeinturm der Wissenschaft. Sie sind anders, Anna. Sie wissen auch viel, aber Sie sind trotzdem normal und haben einen klaren Blick. Sie denken logisch und trotzdem haben Sie sich die Neugier eines Kindes bewahrt. Ich weiß, das klingt schrecklich naiv und kitschig, aber es ist so. Und deshalb werden Sie fahren, Anna. Wenn Sie nichts finden, bin ich der Letzte, der damit nicht leben kann. Sie werden natürlich trotzdem angemessen bezahlt. Vergessen Sie die Annonce, das war wirklich Unsinn, was ich da geschrieben habe. Aber ich habe noch nie eine Anzeige aufgegeben und ich wollte, dass das jemand findet. Jemand wie Sie. Schlagen Sie ein, Anna!“

      Bornecker hielt mir seine Hand hin. Ich wusste nicht, ob ich gerade einen Pakt mit dem Teufel schloss, irgendetwas warnte mich, aber plötzlich war meine Hand in seiner. Ursula freute sich wie ein Kind und umschloss herzlich unsere beiden Hände. Der historische Händedruck, dachte ich kurz …

      Dann fuhren wir zum alten Familiensitz, den die Erben unlängst veräußert hatten. Eine riesige Villa, direkt an der historischen Stadtmauer. Im Nachhinein bereute ich es, nicht mit ins Haus gegangen zu sein.

      Ursula und Siegfried hatten es mir angeboten. Aber ich hatte abgelehnt, weil sie einen Termin mit der neuen Besitzerin hatten. Da wollte ich nicht stören. Jetzt war mir klar, dass ich nie mehr so einfach in diese Villa kommen würde.

      Die Fahrt in die Stadt mit dem Aeroexpress dauerte eine Dreiviertelstunde. Der Flughafen lag weit draußen. Wir fuhren am Meer entlang, durch kleine Dörfer. Alles schien wie vor zwanzig Jahren. Dann aber kamen die ersten Vorortsiedlungen – neu gebaute Häuser, darunter kitschige Villen und protzige Anwesen. Ein Sammelsurium verschiedenster Stile. Neureiche Hässlichkeit. Dann durchfuhren wir die obligatorischen Neubauviertel. Da war sie, die alt bekannte Sowjettristesse, gut konserviert. Schließlich erreichten wir das Zentrum. Der Bahnhof lag direkt oberhalb des Hafens. Von Weitem waren Verladekräne und Frachter zu sehen und schrille Lautsprecherdurchsagen zu hören. Offenbar koordinierten sie das Be- und Entladen. Auf Anhieb mochte ich die Nähe zum Meer und diese Geschäftigkeit. Es war eine spröde Schönheit. Nichts, das mit einem verwinkelten Küstenort an der Amalfi-Küste zu vergleichen war. Das, was da unten vor mir lag, war kein Touristenmeer. Ich sah riesige Containerschiffe. Hier löschte man Ladung, belud aufs Neue. Frachter wurden betankt und gewartet. Container auf Züge geladen. Ich dachte, dass die Gleise da unten nicht irgendwelche Gleise waren. Dort, am Hafen, endete die Transsibirische Eisenbahn nach knapp 10 000 Kilometern Strecke. Die Züge, die von hier auf die Reise gingen, hätten einen weiten Weg vor sich. Aber warum ans Wegfahren denken, ich war ja gerade erst angekommen. Ab ins Hotel, dachte ich. Gut, dass ich mir eine kleine Wegbeschreibung ausgedruckt hatte, denn weder auf dem Flughafen noch auf dem Bahnhof war ein Stadtplan zu bekommen. Zumindest das hatte sich nicht geändert. Das Hotel war nicht weit weg. Siegfried Bornecker hatte darauf bestanden, mich die ersten Nächte im Stadtzentrum unterzubringen. Aber nicht irgendwo. Nein, es sollte das Versal sein, wo er mich „mit allem Komfort und ein bisschen so wie früher“ einquartieren wollte.

      „Wenn Sie erst einmal dort sind, Anna, können Sie unterkommen, wo es Ihnen beliebt. Machen Sie mit Ihren Spesen, was Sie wollen, aber ich möchte, dass Sie, wenn Sie ankommen, zumindest ein einziges Mal den Geist der alten Zeit atmen, auch wenn die Konkurrenz damals dort saß.“

      Die Konkurrenz … Tschurin & Co. hatten damals ein Konditorgeschäft dort. Ich holte meinen Google-Plan aus der Tasche. Der Weg war einfach: einmal nach rechts, dann an der nächsten großen Kreuzung links. Ich musste zur Swetlanskaja Ulitza, damals wie heute eine Prachtstraße und gleichzeitig die Hauptschlagader der Stadt. Vom Bahnhof waren es zehn Minuten, höchstens eine Viertelstunde.

      Als ich in das Hotel eintrat, wusste ich, was Bornecker gemeint hatte. Mich empfing ein Vestibül mit verschnörkelten, goldverzierten Stuckdecken, von denen ausladende Kronleuchter herabhingen. Die Säulen und Rundbögen an der Seite gaben dem Raum eine herrschaftliche Atmosphäre. An den Fenstern hingen edle Brokatvorhänge. Der Marmorboden spiegelte fast besorgniserregend. Ich ging zur Rezeption und erst da verstand ich, was der Name des Hotels eigentlich bedeutete. Ich kam darauf, als ich auf meinen Pass wartend, den Namen des Hotel-Cafés las: Flober. Komisch, dachte ich, was für ein ulkiger Name, klingt überhaupt nicht russisch. An der Wand hing ein Plakat, das für eine Lesung im Café warb. Das Flober schien ein Literaturcafé zu sein. Auf dem Tresen pries ein Schild Leckereien der hauseigenen französischen Patisserie an. Und plötzlich machte es Klick. Ich las noch einmal und musste lachen. Ich war im Hotel Versailles und das Café war das Flaubert. Das fing ja gut an. So eine Verballhornung … Versal & Flober.

      Die Dame an der Rezeption versprühte den Charme einer Dezhurnaja aus fernen Sowjetzeiten. Damals saßen sie nicht nur an der Rezeption, sondern im Aufgang jeder Hoteletage. Rund um die Uhr hielten sie Wache, sorgten angeblich für den Gast, aber eigentlich für Ruhe und Ordnung. Doch der über Jahrzehnte in Fleisch und Blut übergegangene Kommandoton, der bei der ersten Begrüßung noch durchschimmerte, schien auf eigenartige Weise abgeschliffen. Offenbar hatte Marina – ein Schild

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