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ich hatte eine Theorie aufgestellt: Je wichtiger die Angelegenheit war und je weiter man in den Osten kam, umso niedriger und kleiner wurden die Fenster. In Zentralasien gab es auf Bahnhöfen winzige vergitterte Fahrkartenverkaufsfenster, vor denen Menschentrauben hingen. Hier war ich nun am östlichsten Ende angekommen. Nach meiner Theorie hätte ich am Boden liegend mit der Lupe das Fenster suchen müssen, aber nichts dergleichen. Es gab kein Fenster, nicht einmal eine Trennwand. Man begegnete sich auf Augenhöhe, auch wenn vor Ljudmilas Augen eine großformatige Brille saß. Es war so ein ehemaliges Sowjetmodel aus jener Zeit, als große Brillengläser noch ein Zeichen vorbildlicher Gesundheitsfürsorge waren. Das Archiv des Fernen Ostens war mir sympathisch.

      Vor mir lag ein Aktenstapel und schon ein flüchtiger Blick verdarb mir die Laune. Das meiste waren handschriftlich verfasste Dokumente, zudem noch in alter Schreibweise. Irgendwelche Schriftwechsel der Stadtverwaltung. Ich bräuchte eine Ewigkeit, wenn ich das alles durchackern wollte. Deshalb entschied ich mich sofort, es gar nicht erst zu versuchen. Die nächsten Stunden verbrachte ich mit Blättern. Ab und zu fand ich mal eine Seite, die entfernt etwas mit Dattan zu tun hatte, aber alles war belanglos und brachte mich nicht weiter. Egal. Ich hatte ein paar Wochen Zeit. Morgen würde ich mir ein paar Findbücher kommen lassen, für heute war es genug.

      Ich ging ins Hotel. Schon jetzt nervte mich, dass ich mir nichts kochen konnte. Fast Food hasste ich. Ich musste mir eine Wohnung suchen. In der Stadt hatte ich an Bushaltestellen Dutzende Zettel mit Wohnungsinseraten gesehen. Doch fast überall las ich die gleiche Telefonnummer. Außerdem stand dort nicht, in welchem Stadtteil die Wohnung überhaupt lag. Eins war von Anfang an klar. Ich wollte auf keinen Fall in einem Neubaublock in einem der Außenbezirke wohnen, sondern im Zentrum, am besten irgendwo am Meer. Ich brauchte einen Stadtplan. Die Stadt schien riesig, sie franzte in alle Richtungen aus, und obwohl hier nur 500 000 Menschen lebten, hatte man den Eindruck, in einer Mega-City zu sein.

      Im Hotel hatte ich WLAN. Ich setzte mich mit meinem Laptop in die Lobby und fing an zu suchen. Kaum hatte ich die ersten Seiten aufgerufen, ärgerte ich mich über mich selbst. Da war ich vor Ort, konnte mit den Leuten reden, konnte durch die Straßen streifen und dort nach Inseraten suchen oder mir eine Zeitung mit Annoncen kaufen. Aber was tat ich? Ich hing im Netz. Das hätte ich auch in Berlin tun können. Dafür hätte ich keine 12 000 Kilometer fliegen müssen. Ich war sauer, denn das, was ich im Internet sah, war viel ausführlicher und besser als die nichtssagenden Klebezettel. Was brachte die Realität, die ich mit eigenen Augen sah? Ich schrieb drei Anbietern eine kurze Mail, dann klappte ich den Computer zu. Irgendwie gefiel mir das nicht. Früher hatte ich einfach gefragt. Je abwegiger die Frage schien, umso Erfolg versprechender war oft die Antwort. Warum es nicht einfach so machen wie früher?

      Ich ging zur Rezeption. Marina sortierte ein paar Papiere, dann blickte sie zu mir auf. Bisher hatte ich nur sie hier gesehen, offenbar schien sie rund um die Uhr zu arbeiten. Ich hätte lieber jemand anderen angesprochen, denn Marina schien jede Frage zu stören. Aber manchmal täuschte man sich. Wie oft hatte ich erlebt, dass gerade die Grantigen und Unnahbaren sich als die Herzlichsten entpuppten, sobald das Eis gebrochen war.

      „Marina Iwanowna, hätten Sie mal ein Sekündchen Zeit, nur ganz kurz“, versuchte ich es betont freundlich. „Ich habe eine klitzekleine Frage, vielleicht können Sie mir helfen.“ Wer in Russland etwas will, dachte ich bei mir, muss in Verniedlichungen reden. Da erhob sich Marina sogleich aus ihrem Sessel, verschränkte die Arme vor ihrer Brust, legte den Kopf schräg und kräuselte die Stirn. Das alles ohne ein Wort. Oje, was hatte ich da nur wieder für eine Schnapsidee. Aber jetzt stand sie da. Sollte ich lieber nach einer Zeitung oder etwas anderem fragen? Nein. Auf in den Kampf!

      „Marina Iwanowna, ich habe eine etwas ungewöhnliche Frage. Vielleicht auch ein wenig unpassend, hier im Hotel. Wissen Sie, ich habe das Zimmer hier im Hotel für drei Nächte gebucht. In Wirklichkeit bleibe ich aber länger, vielleicht sogar sehr viel länger. Ich bin aber nicht der Typ, der sich in Hotels auf Dauer wohlfühlt. Wissen Sie, ich koche gerne und ich brauche ein privates Umfeld, eine Atmosphäre, die mir vertraut ist. Ich mag es nicht, wenn ständig jemand hinter mir herräumt, auch wenn es praktisch ist. Deshalb wollte ich Sie fragen, ob Sie vielleicht jemanden kennen, der mir ein Zimmer oder eine Wohnung hier im Zentrum vermieten könnte. Gern auch ohne Rechnung. Vielleicht ein Verwandter von Ihnen?“

      Marina stand unverändert da. Der strenge Blick hinter der Riesenbrille war schwer zu deuten. Dann setzte sie in ruhigem Ton an. „Junge Frau, Sie fragen mich, die Empfangssekretärin eines der besten Hotels in Wladiwostok, ehemals das Grandhotel, ob sie Ihnen privat, unter der Hand, ein Zimmer vermietet? Würden Sie das bei sich zu Hause auch so machen? Im Adlon oder im Hilton? Wir sind hier nicht auf dem Basar, junge Dame!“

      Dann setzte sie sich wieder in ihren Sessel und ordnete weiter Papiere, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Das hatte gesessen. Was sollte ich sagen? Natürlich wäre ich in Deutschland nie auf so eine Idee gekommen. Aber in Russland? Da habe ich es nie anders gemacht. Ich fühlte mich ertappt und eilte davon. Erst einmal raus an die Luft, dachte ich.

      Als ich vor dem Hotel stand, wusste ich nicht, wohin. Irgendwie nervte alles. Bornecker hatte es gut gemeint mit diesem Hotel, aber ich hätte mir von Anfang an etwas auf eigene Faust suchen sollen. Ich lief ziellos umher. Eigentlich war es Zeit fürs Abendessen, aber mir war der Appetit vergangen. Vor dem Kino Okean, ein alter Sowjetfilmpalast direkt an der Strandpromenade, sah ich eine Menschenmenge. Irgendetwas schien dort los zu sein. Es gab eine Filmpremiere, irgendeine Komödie. Die Vorstellung begann in wenigen Minuten. Ich kaufte eilig eine Karte und ging hinein.

      Das war genau das Richtige. Die nächsten anderthalb Stunden bräuchte ich mir zumindest keine Gedanken zu machen über Akten, die ich nicht lesen konnte, über eine Bleibe, die ich nicht hatte. Gut, dass es Komödien gab, denn plötzlich war ich wieder voller Zuversicht. Alles halb so wild, dachte ich, ich könnte auch erst einmal in ein Hostel ziehen. Irgendeine Lösung würde sich finden.

      Als ich am nächsten Morgen zum Frühstück ging, fand ich unter meiner Zimmertür einen Zettel. Irgendjemand musste ihn in der Nacht unter der Tür hindurchgeschoben haben. Ich hob das zusammengefaltete Blatt auf und las:

       Sehr geehrte Frau Anna,

      natürlich weiß ich etwas, aber was sollte ich gestern sagen? Ich musste so reagieren, denn Jurij, unser Junior-Chef, saß im Hinterzimmer. Entschuldigen Sie, dass ich so streng war. Ein bisschen taten Sie mir leid. Sie müssen unbedingt mit meiner Tante Nadezhda sprechen. Sie hat eine Wohnung, die sie vermietet. Nicht besonders groß, nur ein Zimmer, und auch nicht sehr komfortabel, aber für eine Person sollte es reichen. Das Gute – es ist nicht weit vom Stadtzentrum entfernt und direkt am Meer mit einer wunderbaren Aussicht. Hinten, auf dem Egerscheld, eine sichere Gegend. Sie haben verdammtes Glück, denn die Wohnung war drei Jahre lang vermietet. Jetzt ist sie frei, erst seit Kurzem. Nadezhda Walentinowna wird Ihnen alles zeigen, wenn Sie mögen. Mit ihr reden Sie auch über den Preis. Keine Angst, alles wird gut. Nadezhda wartet um elf Uhr am Kiosk neben dem Hotel. Sprechen Sie mich an der Rezeption nicht darauf an. In diesem Haus, kein Wort darüber.

       Gruß

       Marina Iwanowna Apraksina

      Ich musste lachen. Gestern noch hatte ich gegrübelt, war ernsthaft ins Zweifeln geraten. Darüber, ob ich mich tatsächlich falsch verhalten hatte, darüber, ob das Land, das ich so gut zu kennen glaubte, in den letzten Jahren nicht doch ganz anders geworden war. Gestern kam ich mir vor, wie jemand, der unwiederbringlich den Anschluss verpasst hatte, jemand, der nur noch an einer Erinnerung hing, eine Erinnerung an etwas, das es längst nicht mehr gab. Nun war wieder alles im Lot. Nadezhda, die Hoffnung. Gestern noch war ich so unglücklich gewesen und heute schon wies mir die Hoffnung den Weg. Es war verrückt, aber hier war es immer so: Größtmögliche Einschränkung und absolute Freiheit lagen in Russland so dicht beieinander wie sonst nirgendwo. Wie pflegte Jan immer zu sagen: „Entweder du bekommst nichts oder musst viel zahlen oder du bekommst alles und zwar

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