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gerade nichts zu tun hat, sondern jemanden, der hundertprozentig dahintersteht, jemanden, der kämpft, selbst wenn es brenzlig wird.

       Ich würde mich freuen von Ihnen zu hören.

       Mit freundlichen Grüßen

       Dr. Siegfried Bornecker

      Ich musste mich hinsetzen. Was war das denn? Dieser Brief war kryptisch und aufschlussreich zugleich. Er war formell und trotzdem persönlich. Und er legte sofort den Rahmen fest. Siegfried Bornecker suchte keinen Rechercheur, sondern einen Verbündeten und er glaubte, ihn in mir gefunden zu haben. Ich schrieb gern Briefe und ich sah, dass sich hier jemand gründlich Gedanken gemacht hatte. Siegfried Bornecker sprach in Andeutungen, er legte Fährten und offenbar war er sich sicher, dass ich sie zu lesen verstand. Seit fast zehn Jahren tat ich nichts anderes, als Menschen dem Vergessen zu entreißen oder ihrer Geschichte überhaupt ein Gesicht zu geben. Wusste er davon? Etwas nahm mich sofort gefangen und als ich den Brief das dritte Mal gelesen hatte, war für mich klar, dass ich für Siegfried Bornecker nach Wladiwostok fliegen würde. Wenn es dort etwas gab, würde ich es für ihn finden.

      Ich hätte nie erklären können, warum gerade Russland diese Faszination auf mich ausübte. Vielleicht war es einfach nur, weil ich meine Zeit des Studiums, verrückte Reisen, wilde Männergeschichten, kurz meine Jugend, damit verband. Aber das hätte wohl nicht gereicht, mich aus meinem bisherigen Leben zu reißen. Nach zehn geordneten Jahren in der deutschen Verwaltung war es vielleicht einfach die Lust auf ein Abenteuer, die Sehnsucht nach Irrationalem, nach einer geheimnisvollen Welt, in der sich nicht alles sofort erschloss. Wie hatte Tjutchew doch gleich gesagt? „Verstehen kann man Russland nicht, und auch nicht messen mit Verstand. Es hat sein eigenes Gesicht. Nur glauben kann man an das Land.“ Was er im 19. Jahrhundert postuliert hatte, schien unverändert. Und so oft ich mich über Russland geärgert und mir fast die Zähne daran ausgebissen hatte, so sehr liebte ich das Land. Es war eine Hassliebe. War ich dort, wollte ich weg, war ich weg, wollte ich hin. Nun erhielt ich vielleicht die Gelegenheit, dort zu sein und das Land wieder nicht zu verstehen.

      Die Lautsprecherstimme der Stewardess meldete den bevorstehenden Landeanflug. Leider war kaum etwas von der Stadt am Pazifik zu sehen, ein dichter Nebel hing über der Bucht. Ich spürte, wie die Aufregung in mir hoch kroch. Dabei gab es gar keinen Grund. Alles war geregelt. Mein Visum galt drei Monate. Für die ersten drei Nächte hatte ich ein Hotel. Siegfried Bornecker hatte komplett durchbuchen wollen, aber ich war dagegen. Ich wollte mir vor Ort selbst ein Bild machen. Schließlich konnte ich mir dann immer noch etwas Besseres suchen. Vielleicht würde ich gar nicht die ganze Zeit in Wladiwostok bleiben.

      Ich folgte dem Menschenstrom.

      Passkontrolle, Gepäckband, Ausgang.

      Alles war unkompliziert. Der Flughafen wirkte hochmodern. Das hatte ich so nicht erwartet. Ich hatte zwar gelesen, dass man für den APEC-Gipfel, der hier im letzten Jahr zusammengekommen war, alles auf neuesten Stand gebracht hatte, aber diese futuristisch anmutende Welt irritierte mich. Die lichtdurchflutete Eingangshalle und die riesige Glasfront blendeten mich. Die Weite der Halle und die spiegelnden Oberflächen hatten etwas Künstliches und Beängstigendes. Man fühlte sich wie eine winzige Ameise, endlose Strecken überwindend, für alle weithin sichtbar. Ich kam mir vor wie in einer Computeranimation. Überall moderne Technik, edles Design und erlesene Materialien. Das musste Millionen gekostet haben. Schön war es trotzdem nicht. Unweigerlich musste ich an das Debakel um den Berliner Großflughafen denken und plötzlich überfiel mich ein Gefühl der Scham. Warum waren wir immer so arrogant und hielten uns für etwas Besseres? Es war so provinziell und peinlich, was die Berliner seit Jahrzehnten abzogen. Sie bekamen es einfach nicht hin, einen Flughafen zu bauen. Tempelhof hatte man bereits bei Baubeginn geschlossen. Tegel und Schönefeld sollten in Kürze folgen. Der BER war Politposse und Milliardengrab. 75 000 Baumängel hatte man gefunden. Trotzdem war ich mir sicher, dass sich die Berliner – zum Flughafen in Wladiwostok befragt – abfällig äußern würden. Sie würden eine Holperpiste als Landebahn erwarten und eine muffig-dunkle Halle für den Check-in. Und die Flugzeuge? Hatten die Russen nicht immer Hühner und Ziegen auf dem Schoß? Reichten die Sitzplätze überhaupt? Mussten in Russland nicht immer Passagiere im Gang stehen?

      Ich war noch nicht einmal richtig angekommen und schon überfiel mich ein komisches Gefühl. Ich ahnte, dass wir nichts von dem Leben hier wussten. Wir, die aufgeklärten Westeuropäer.

      Sogar die aufdringlichen Taxifahrer, erstes Begrüßungszeichen am Eingangsbereich eines jeden russischen Flughafens, waren mittlerweile fast verschwunden. Früher war es ein Krampf, sich zu einem öffentlichen Verkehrsmittel durchzuschlagen. Man wurde förmlich von Taxifahrern umzingelt, die einem im Chor ein „Taksi“, ein „Kuda?“ oder „Kuda vam nado?“ – Wohin? Wohin müssen Sie? – entgegen riefen. Verwies man auf den Bus, erhielt man als Antwort, dass er nur alle drei Stunden führe oder heute gestreikt würde. Wenn man es nicht gerade eilig hatte, bot dieses Ritual sogar gewissen Unterhaltungswert.

      Ich brauchte kein Taxi, denn ich hatte gelesen, dass man bequem mit dem Bus ins Stadtzentrum fahren konnte. Oder mit dem kürzlich eröffneten Aeroexpress. Ich ging zum Express und kaufte mir ein Ticket. „Businessclass?“, fragte die Dame am Schalter. Ich entschied mich für ein normales Ticket für 200 Rubel, umgerechnet fünf Euro. Auch das hatte sich verändert. Damals war der Flug von Moskau nach Wladiwostok billiger als der Zubringer in die Stadt heute.

      Das erste Mal hatte ich Siegfried Bornecker in Naumburg getroffen. Wir hatten nach unserem brieflichen Erstkontakt ein paar Mal hin und her gemailt und ich wusste im Groben, worum es ihm ging. Dennoch hatte er sich mit seinem „Auftrag“ noch nicht hundertprozentig für mich entschieden. Mir war klar, dass dieses Treffen die Nagelprobe sein würde. In Naumburg, in der Heimat seines Großvaters, sollten wir uns nun persönlich kennenlernen und er wollte unbedingt seine Schwester Ursula dabei haben.

      Unsere Verabredung erinnerte an ein konspiratives Agententreffen.

      Bornecker reiste aus München an, seine Schwester aus Berlin, ich aus Dresden. Bornecker hatte alles geplant. Er und seine Schwester hatten nur ein kleines Zeitfenster für unser Treffen. Ich war flexibel. Wenige Tage vor unserer Verabredung erhielt ich einen Ablaufplan:

       Liebe Frau Stehr,

       wir bitten Sie, den Zug zu nehmen, der um 10.21 Uhr in Naumburg ankommt (vgl. Ihre Mail vom 5.6.). Meine Schwester wird um 10.24 Uhr ankommen. Wir schlagen vor, dass Sie sich in der Bahnhofshalle vor dem Zeitungsladen treffen. Dann können Sie beide gegenüber beim Bäcker ein Tässchen Kaffee trinken, bis ich mit Ankunft 11.17 Uhr dazu komme. Wir stellen uns vor, dass wir in einer Taxe zum Domplatz fahren, wo es zwei Cafés gibt, von denen wir uns eins für unser Gespräch aussuchen. Um 14 Uhr haben wir einen Termin bei einer der Dattanschen Villen und danach haben wir noch weitere Termine. Daher können wir Sie zum Familiengrab, falls Sie dieses sehen möchten, leider nicht begleiten.

       Wir freuen uns darauf, Sie kennenzulernen und mit Ihnen ausführlich und in Ruhe über unsere Pläne zu reden. Ich werde etwas Material, insbesondere die Verbannungsgeschichte, mitbringen.

       Mit freundlichen Grüßen, auch von meiner Schwester,

       Siegfried Bornecker

      Ich mochte konspirative Treffen und ich war gespannt darauf, was mich erwarten würde. Ich hatte recherchiert und zur Vorbereitung einiges über Adolph Dattan gelesen. Wahrscheinlich war das Unglaubliche daran der Grund dafür gewesen, warum ich mich nach meiner spontanen Sympathie für den kryptischen Briefeschreiber Bornecker, sogleich mit Feuereifer in dieses Vorhaben gestürzt hatte, ohne auch nur annähernd zu wissen, was meine Aufgabe sein würde. Bornecker hatte es geschafft, mit seinen spärlichen Hinweisen nicht nur meine Neugier zu wecken, sondern auch eine besondere Verbundenheit herzustellen. Denn ob ich wollte oder nicht, ich spürte eine innere Verpflichtung, der Geschichte auf den Grund zu gehen und

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