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als könnte Elena sie mit bloßen Händen greifen. »Wir befinden uns in etwa 828 m Höhe auf dem Burj Khalifa, dem momentan höchsten Gebäude der Welt.«

      Da sie lediglich auf der – ihrer Meinung nach – äußerst winzigen Plattform saßen, auf der die Antenne befestigt worden war und wo eigentlich keine Besucher zulässig waren, wurde es Elena ganz flau im Magen. Ihr Herz pochte viel zu schnell und ihre Beine fühlten sich an wie kleine Zitteraale auf der Flucht. Angestrengt atmete sie gegen die aufsteigende Panik an, doch sie schaffte es dennoch nicht zu verhindern, dass sie von Schwindel übermannt wurde. Zu wissen, dass dies nicht wirklich real war, half ebenfalls nicht.

      Bastian bemerkte das zunehmende Beben ihres Körpers und zog sie rasch an sich. »Vielleicht wirkt es weniger angsteinflößend, wenn wir die Tageszeit wechseln.« Binnen eines Augenblickes wurde es plötzlich dunkel und Elena starrte auf unzählige kleine Lichter, anstatt in die schiere Weite, die kaum zu fassen war. Tatsächlich beruhigte sich ihr Puls nun allmählich, vielleicht auch, weil ihr Verstand noch immer damit beschäftigt war, zu verstehen, wie Bastians Fantasie zu etwas werden konnte, das sie wahrhaftig erlebte.

      »Von hier oben wirken die Sterne nicht mehr unermesslich weit weg«, sagte er leise. »Ich wünschte, ich könnte die Schönheit der Unendlichkeit über uns wirklich verstehen.«

      Nun war Elena es, die sanft lächelte. »Sagtest du nicht, dass es deine Geschichten sind und du in ihnen tun und lassen kannst, was immer du auch möchtest?«

      Nickend lächelte er, noch immer zu den Gestirnen blickend. »Aber nicht, dass du jetzt glaubst, viel zu schlau für mich zu sein!«

      »Sehr witzig.« Elena bedauerte es, in ihrem echten Leben niemals wirklich Zeit gefunden zu haben, sich mit dem zu beschäftigen, was es über ihren Köpfen womöglich noch alles gab. Das Leben war mitunter leider so hektisch, dass es keinen Raum für Wunder ließ. Doch als sie nun, sozusagen auf der Spitze der Welt, in den Himmel schaute, ohne jeglichen Stress und Zeitdruck, da begann sie auf einmal, Bastians Faszination dafür zu verstehen. Während sie tief durchatmete, fiel ihr Blick auf den Mond, der in Bastians Vorstellung übergroß und voll am Firmament erstrahlte und eine ihr unbekannte Sehnsucht erfüllte sie. »Bastian?«

      »Hm?«

      »Können wir wirklich überall hin?«

      »Natürlich. Kein Ort ist zu weit für meine Weltenbummlerin!«

      »Auch nicht der Mond?«

      Nun blickte er zum hellen Erdtrabanten empor und sie könnte schwören, dass dabei ein seliger Ausdruck über sein Gesicht huschte. »Eines Tages, das verspreche ich dir!«

      »Danke«, erwiderte sie leise und schmiegte sich an seine Schulter. »Warum dieses Gebäude?«, fiel ihr jäh ein. »Weshalb hast du das hier gewählt?«

      »Richtig. Meine Gedanken vergessen in deiner Nähe wohl recht gerne, was sie zu tun haben.« Er räusperte sich einige Male, bevor er fortfuhr. »Ich habe das höchste Gebäude der Welt gewählt, weil ich möchte, dass du stets an deinen Träumen festhältst, völlig gleich, wie hochgesteckt sie auch sein mögen. Ab sofort gibt es das Wort unmöglich in deinem Wortschatz nicht mehr, versprochen?«

      »Versprochen.« Das Reden fiel ihr immer schwerer und Elena fühlte, dass es nur noch eine Frage von Augenblicken war, bevor ihr Verstand wieder in die kalte Schwärze zurückbefördert wurde. Sie aus einem Körper herausriss, den sie nicht einmal wirklich besaß und der doch alles war, was sie sich in der Vergangenheit erträumt hatte.

      »Es ist in Ordnung«, murmelte Bastian neben ihr. Als hätte er Angst, sie zu stören. Seltsam, welche Grübeleien sich einschlichen, wenn die Neuronen allmählich ihren Dienst versagten. »Du warst so tapfer heute, doch nun kannst du loslassen. Ich verspreche dir, dass dies nicht unser letztes gemeinsames Abenteuer war, ich habe noch so viel zu sagen und du bist die Einzige, der ich es erzählen möchte. Sammle neue Energie, meine wundervolle Elena, damit du bereit bist, bald wieder in deine Gummistiefel zu schlüpfen!«

      Müde schloss sie die Augen und hoffte, dass er ihr Nicken noch mitbekommen hatte. Das war allerdings ihr letzter bewusster Gedanke, bevor sie in den verhassten, widerlichen Strudel aus Finsternis und Angst fiel.

      5

      Bastian

      Obwohl er bereits seit beinahe zwei Stunden zu Hause war, kam Bastian an diesem Abend nicht zur Ruhe. Elena beherrschte nach wie vor seinen Verstand. Immer wieder fragte er sich, ob sie wohl auch nur ein Wort von seiner Geschichte mitbekommen hatte? Er hatte sie so selbstverständlich zu einem Teil seiner Erzählung gemacht, als kannte er sie schon lange Zeit. Natürlich war das nicht der Fall, dennoch fühlte es sich für ihn manchmal so an. Immer dann, wenn er sie minutenlang anstarrte, während sie reglos dalag und er sich in einem fort fragte, wie sie wohl war? Besaß sie tatsächlich das sonnige Gemüt, das er sich für sie vorstellte? Und war sie in Wirklichkeit genauso humorvoll, wie er es annahm? Liebevoll und großherzig? All das hatte er den Bildern entnommen, die ihre Eltern in Elenas Krankenzimmer über dem Bett aufgehängt hatten. Die, neben den Postkarten aus aller Welt, von einer lebenslustigen Frau zeugten, die das Leben und alle Menschen geliebt hatte.

      Doch Bastian kannte nur den Schatten, der Elena noch war. Die traurigen Überreste des Energiebündels, für die er nun mitunter verantwortlich war. Trotz alldem blieb die Bitterkeit heute aus, die sich meist beim Gedanken an sie und ihrem undankbaren Schicksal bemerkbar machte. Denn heute hatte er es gewagt, eine seiner Geschichten zum Besten zu geben. Auch wenn es sich zu Anfang fremd und seltsam angefühlt hatte, so war es dennoch viel mehr befreiend gewesen, die Schleusen zu seinem Verstand zu öffnen und jemanden an all dem teilhaben zu lassen, was sich ansonsten dort hinter unzähligen verschlossenen Türen befand.

      Er hatte einfach die Augen geschlossen und sich treiben lassen, was ihm trotz, oder vielleicht gerade durch ihre Gegenwart, sehr einfach gefallen war. Und dann war alles wie von selbst passiert. Und nun saß er auf seinem Sofa, während ein Actionfilm im Fernsehen lief, den er zwar ansah und trotzdem nicht sagen könnte, um was es überhaupt ging. Was wohl hauptsächlich daran lag, dass er gedanklich alle paar Sekunden zu Elena abschweifte. War es die richtige Entscheidung gewesen, sie auf eine imaginäre Weltreise mitzunehmen? Was, wenn sie doch alles mitbekam in ihrem Koma-Gefängnis? Was, wenn sie um ihren Zustand wusste, hatte er es dann nicht eher schlimmer gemacht, weil er ihr von Dingen erzählte, die sie nicht tun konnte? Nicht im Augenblick jedenfalls. Und dann kamen wieder die Momente, in denen er sich kopfschüttelnd einen Idioten nannte, weil er sich mehr um Elena sorgte, als er es als Krankenpfleger sollte.

      Schnaubend stand er schließlich auf und schlurfte zum Kühlschrank, um nachzusehen, ob sich auf wundersame Weise noch etwas Brauchbares zum Essen darin manifestiert hatte. Was natürlich nicht der Fall war. Seufzend verzog er den Mund, weil er heute nach der Schicht eigentlich hatte einkaufen wollen, in seinem Schädel aber ganz offensichtlich nichts mehr normal funktionierte. Anschließend fiel sein Blick auf die Brötchen vom Vortag, zu denen er nach kurzer Überlegung schulterzuckend griff und herzhaft hineinbiss. Wieder auf dem Sofa fiel es ihm immer schwerer, seine Lider noch offen zu halten, er fühlte sich total geschlaucht und sehnte sich nach seinem Bett.

      »Das wird wohl ein kurzer Abend«, murmelte er, während er den Teller mit dem Brötchen nach wenigen Bissen zur Seite schob und sich der Länge nach auf der Couch breitmachte. Das hier war zwar nicht seine göttliche Matratze, aber er fühlte sich nicht mehr in der Lage, auch nur einen weiteren Schritt zu gehen. Für heute hatte er genug, außerdem benötigte er die wenigen verbliebenen wachen Gehirnzellen für die Überlegung, welche Geschichte er Elena als Nächstes erzählen konnte. Und dieses Mal sollte es eine eigene sein, eine, die er seit vielen Jahren in seinem Herzen mit sich trug. Lächelnd zog er sich die Kuscheldecke bis unter das Kinn und drehte sich auf die linke Seite. O ja, und er wusste auch schon genau, welche. Plötzlich freute er sich wie ein kleines Kind an Weihnachten auf das nächste Abenteuer, das er mit Elena erleben durfte.

      Fünf sehr arbeitsreiche Tage später war es schließlich so weit, und Bastian fand nach zwei Doppelschichten

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