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dem vermissten Mädchen, die ganz Halle in Atem hält, ist Anfang 1953 allerdings nicht der einzige Fall, der die Menschen der Saalestadt beunruhigt: Gefahndet wird auch nach einem Triebtäter, der bereits mehrere Frauen überfallen hat.

      Am 19. Januar hat die Krankenschwester Gertrud König* eigentlich ihren freien Tag, aber weil Zahltag ist, will die 20-Jährige trotzdem mit der Bahn zum Waldkrankenhaus fahren. Doch sie verpasst den Anschlusszug und muss vom Hettstedter Bahnhof mit der Linie 4 bis zur Endstation »Heide« fahren.

      Die junge Frau kennt den Weg. Sie geht gegen 14.30 Uhr am »Waldkater« vorbei Richtung Dölau. Kurze Zeit später begegnet ihr ein Mann. Wortlos gehen sie aneinander vorbei, doch irgendetwas im Blick des etwa 17-Jährigen im blauen Trainingsanzug, beunruhigt sie. Ein paar Schritte später blickt sich die Krankenschwester um und sieht, dass er tatsächlich kehrtgemacht hat und ihr folgt. Sie beschleunigt ihre Schritte und meint schon, den Verfolger abgeschüttelt zu haben, als sie spürt, wie ihr von hinten etwas um den Hals geworfen wird. Später wird sich herausstellen, dass es eine Kordelschnur war. Der Angreifer reißt sie zu Boden. Gertrud König wehrt sich und ruft um Hilfe. Der Mann keucht: »Wenn du nicht die Schnauze hältst, erwürge ich dich!«

      Der Täter versucht, sie zu Boden zu zwingen, aber Gertrud hat Glück: Durch die starke Gegenwehr reißt die Schnur. Als der Täter merkt, dass er sein Opfer nicht überwältigen kann, steht er auf und läuft Richtung Dölau. Dann verschwindet er im Wald.

      Die 20-Jährige Krankenschwester ist völlig am Ende. Trotzdem tauscht sie im Krankenhaus nur kurz die verdrecke Kleidung aus und fährt sofort zum Volkspolizeikreisamt, um den Vorfall anzuzeigen.

      Obwohl die vollkommen verstörte Frau sehr genaue Angaben macht, hat die Kriminalpolizei auch bei diesen Ermittlungen keinen Erfolg. Ende Februar werden sie vorläufig eingestellt.

      Bereits ein paar Wochen später zeigt jedoch eine weitere Frau an, dass sie auf dem Weg zum Waldkrankenhaus Dölau überfallen worden ist.

      Am 5. Mai bewirbt Hildegart Lothar* sich in der Klinik auf eine Arbeitsstelle. Auch sie verpasst den Zug, mit dem sie nach Halle zurückfahren will, und entschließt sich, durch die Heide zu gehen. Sie trifft auf einen jungen, schlanken Mann, der einen Trainingsanzug trägt und dunkle Haare hat. Er fährt eine Weile mit dem Fahrrad neben der 19-Jährigen her und versucht, ein Gespräch anzuknüpfen.

      Als Hildegart Lothar ihm zu verstehen gibt, dass sie sich nicht unterhalten möchte, lässt sich der Fahrradfahrer etwas zurückfallen. Sekunden später umklammert er mit einer Hand den Hals der Frau, mit der anderen hält er ihr den Mund zu. Er zieht sein Opfer, das kaum noch Luft bekommt, ins Gebüsch und reißt ihr den Rock herunter. Die 19-Jährige wehrt sich heftig und schafft es, den Angreifer abzuwehren.

      Die junge Frau rennt verängstigt durch den Wald. Ihren Rock hat sie bei dem Kampf mit Angreifer verloren. Als sie auf Spaziergänger trifft, schildert sie das Geschehen. Gemeinsam gehen sie zu der Stelle zurück, an der sie überfallen wurde. Dort lehnt ihre Aktentasche an einem Baum. Der Rock ist verschwunden.

      Mitte Juni 1953 werden Hildegart Lothar Fotos aus dem »Verbrecheralbum« vorgelegt. Sie zeigen allesamt Männer, die bereits aufgrund von Sexualdelikten auffielen. Doch auf keinem erkennt sie den Mann wieder, der sie vergewaltigen wollte.

      Dass der Fall der vermissten Helga und die versuchten »Notzuchtverbrechen« im Zusammenhang stehen, weiß noch niemand. Erst nach dem 4. August 1953 kommt ans Tageslicht, dass es ein wichtiges Verbindungsglied zwischen den drei Fällen gibt:

      Am besagten Tag hat Tischlerlehrling Peter Kohl* Urlaub. »Das trifft sich gut«, hatte sein Vater am Vorabend gesagt, »dann kannst du gleich die Kohlen aus dem Keller von Otto Otte* holen. Du weißt ja, die Kneipe unten bei uns ist seit Ende Mai geschlossen, und der Wirt braucht sie nicht mehr. Weil er wegziehen will, hat er die Braunkohle an uns verkauft. Er will wohl am Töpferplan eine neue Gaststätte aufmachen.«

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      Das Grundstück An der Baderei 1 mit der Gastwirtschaft.

      Die beiden Fenster auf der rechten Seite gehören zum Keller des Täters.

      Der 15-Jährige ist nicht besonders erfreut über den Auftrag vom Vater. »Ich wollte eigentlich mit Werner etwas unternehmen«, versucht er einen Einwand. Doch der Vater gibt nicht nach: »Wenn du Werner mitnimmst, geht es schneller, und ihr könnt danach los.«

      Am 4. August gegen 8 Uhr gibt Otto Otte den Kellerschlüssel bei den Kohls ab, und eineinhalb Stunden später machen sich Peter und sein zwölf Jahre alter Freund Werner Preuß* auf den Weg in den Keller des Hauses An der Baderei 1. Sie gehen die Treppen hinunter. Am Ende des Ganges auf der rechten Seite befindet sich hinter einer massiven Tür mit Vorhängeschloss der Otte-Keller. Im Raum ist es stickig und nicht besonders hell. Lediglich eine 40-Watt-Glühlampe im Gang spendet schummriges Licht. Bottiche und Eisentöpfe stehen auf dem Betonfußboden herum, Werkzeuge, Ofenrohre und ein Straßenbesen lehnen an der linken Wand. An der Wand daneben hängen zwei Fahrradschläuche und ein Fassreifen. Einige drei Meter lange Bretter dienen als einfaches Regal, auf dem ein 50-Liter-Weinballon, gehacktes Holz, ein Beil und eine verrostete Waage liegen.

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      Das Regal auf der linken Kellerseite. Die Tatwaffe ist mit »2« gekennzeichnet.

      Als Peter Kohl den Haufen mit den vier Zentnern Kohle unterhalb des schmalen Fensters sieht, stöhnt er auf: »Da haben wir ja bis morgen zu tun …« Doch sein Freund ermuntert ihn: »Los, lass uns anfangen! Umso schneller sind wir fertig.«

      Die Jungs haben schon drei volle Körbe in den Keller der Kohls geschleppt und füllen gerade den vierten, da sieht Werner einen hellen Sack unter dem Kohlehaufen. Weil der Stoff ihnen beim Schippen im Wege ist, greift Peter danach und will ihn hervorziehen. Der Gestank, der den beiden Jungs augenblicklich entgegenschlägt, raubt ihnen fast den Atem. Entsetzt rennt der 15-Jährige nach oben zur Mutter und erzählt ihr von dem übelriechenden Fund.

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      Die eingewickelte Leiche des Mädchens von der linken Kellerseite aus gesehen

      Hildegard Kohl* geht mit ihrem Sohn in den Keller zurück. Auf dem Weg dorthin klingelt die 47 Jahre alte Schneiderin an der Wohnungstür von Familie Otte. Horst, der Sohn der Familie, öffnet. Aufgeregt berichtet Hildegard Kohl dem jungen Mann im blauen Trainingsanzug, was Peter und Werner gefunden haben. Hildegard Kohl, Horst Otte* und eine Nachbarin gehen zum Fundort der Leiche. Otte nimmt eine Schaufel und sticht damit ein paar Mal in den fast zerfallenen und verfaulten Zuckersack. Sie schauen sich den schaurigen Fund genauer an und sehen nun, dass an der Seite des Stoffbehältnisses eine Hand herausguckt. Kurz darauf verlassen sie den Keller, den Hildegard Kohl mit einem Vorhängeschloss sichert.

      Ein Mieter des Hauses verständigt die Polizei.

      Wenig später ist die Mordkommission vor Ort. Besonders interessiert Polizeiunterkommissar Baberowski und Polizeimeister Grothe ein 40 Zentimeter langes Beil. Schon mit bloßem Auge sind zwei Haare zu erkennen, die sich dort befinden, wo die Klinge ins Holzgetrieben ist. »Schau mal den Stiel an«, macht Baberowski den VP-Meister aufmerksam. »Das sieht doch aus wie angetrocknetes Blut …«

      Nachdem der zum Teil verklebte Sack entfernt wurde, entdecken die Mord-Ermittler eine Kinderleiche, um deren Hals ein dünnes Seil hängt. Blut- oder Kampfspuren werden in dem 18 Quadratmeter großen Raum nicht festgestellt.

      Am 5. August werden dem Vater der vermissten Helga Räder Teile der Kleidung vorgelegt, die bei der Leiche gefunden wurden. Bereits am Vortag hatte ihn die Kripo darüber informiert, dass seine Tochter mit hoher Wahrscheinlichkeit tot aufgefunden wurde. Er erkennt die Stoffproben vom rosa Schlüpfer und der ausgewaschenen schwarzen Turnhose. Als ihm eine Haarprobe gezeigt wird, bricht Richard Ruhland beinahe zusammen. »Ja, diese Haarfarbe hatte Helga«, laufen ihm Tränen über die Wangen.

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      Die

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