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das eine von Wenningers Nachbarinnen gesagt hatte. Die mit den vielen Kindern. Malin zog ihr Notizbuch heraus. Nadine Schröder hatte beobachtet, wie Kurt Wenninger vor zwei Wochen spät in der Nacht mit dem Taxi nach Hause gekommen war. Vielleicht wäre es interessant zu erfahren, woher.

      Malin machte sich eine kurze Notiz und widmete sich dann ihrem Hühnchengericht.

      Eine eigenartige Stille lag über dem Anwesen am Schleusenredder, als Malin vierzig Minuten später ihren Mini vor dem Spitzgiebelhaus abstellte. Endlich hatte es aufgehört zu regnen. Die Thujenhecke und die Pflanzen in den angrenzenden Beeten glitzerten vor Feuchtigkeit. Die Luft roch nach Moos, Tannen und Erde.

      Vor dem Eingang blieb sie stehen. Kein Laut war zu hören. Als wüssten selbst die Vögel, dass der Tod an diesem Ort Einzug gehalten hatte. Malin öffnete die Haustür mit dem Schlüssel, den ihr ein Kollege von der Spurensicherung im Präsidium ausgehändigt hatte.

      Der Leichengeruch hing noch immer in jedem Winkel des Hauses, hatte sich tief in Wände, Böden und Textilien gefressen. Sie zog ein Döschen mit Mentholsalbe aus ihrer Umhängetasche und strich sich etwas davon unter die Nase. Anschließend streifte sie Latexhandschuhe über.

      Im Türrahmen zum Wohnzimmer blieb Malin einen Moment stehen. Die dunkle Holzdecke, der Eichenschrank, die durchgesessene Sofagarnitur und die verblichenen Perserteppiche auf dem Dielenboden, alles sah aus wie beim ersten Mal, als sie diesen Raum betreten hatte. Zumindest fast. Die Kaffeetasse auf dem Beistelltisch fehlte, genauso wie die Leiche.

      Malin löste sich aus dem Türrahmen und fuhr mit ihrer behandschuhten Hand die Bücherrücken in einem der Regalfächer des Eichenschranks entlang. Goethe, Brecht, Mann, Molière, Heine, zahlreiche Klassiker. In weiteren Fächern standen etwa zwei Dutzend in Leder gebundene Bände einer Brockhaus-Enzyklopädie und etliche Fachbücher über Neurologie und Psychiatrie nebst weiteren medizinischen Nachschlagewerken.

      Malin öffnete eine der Schranktüren und entdeckte ein halbes Dutzend Aktenordner. Den mit dem Vermerk Praxis zog sie als Erstes heraus. Es waren Steuerunterlagen. In einem weiteren fand sie Rechnungen, ausgestellt auf die Praxis, feinsäuberlich mit Überweisungsbetrag und Datum versehen. Sie stellte den Ordner zurück und griff nach einem anderen mit der Bezeichnung Hausunterlagen. Beim Durchblättern stellte sie fest, dass die Papiere bis in die dreißiger Jahre zurückreichten. Neben Grundstücksplänen, Versicherungspolicen und zahlreichen Abgabebescheiden fand sie in dem Ordner auch Grundbuchauszüge. Daraus ging hervor, dass im Jahr 1991 ein Eigentümerwechsel von Margarethe Wenninger, geboren im Jahr 1905, zu Kurt Wenninger stattgefunden hatte.

      Und der Vater? Malin betrachtete das Datum auf dem Auszug, der Margarethe Wenninger als Eigentümerin auswies. Februar 1949. Unschlüssig, ob die Eigentumsverhältnisse des Hauses in ihrem Fall von Belang waren, notierte sich Malin die Daten und stellte den Ordner zurück.

      Hinter den anderen Schranktüren verbargen sich Porzellan, Vasen und Gläser. Malin öffnete eine der beiden Schubladen. Nippes, vom Häkeldeckchen über Servietten mit Weihnachtsmotiven bis zu kitschigen Porzellanfiguren. Sie drehte eine davon um. Meißen.

      In der letzten Schublade fand sie neben einem Pfeifenkästchen einen schmalen Aktenordner mit Kontounterlagen. Sie legte ihn beiseite, um ihn später mit ins Präsidium zu nehmen. Anschließend tastete sie die Ritzen und die Kissen der Sofagarnitur ab, drehte Bilder an den Wänden um, sah hinter dem Fernseher nach und kontrollierte die Unterseiten des Couchtisches, in der Hoffnung, auf irgendetwas zu stoßen, das weiteren Aufschluss auf den Bewohner gab. Nichts.

      Sie ging zur Fensterfront und sah in den Garten. Sonnenstrahlen hatten sich durch die Wolkendecke gekämpft und ließen den regennassen Rasen glitzern. Wieder fiel ihr auf, wie akkurat die Hecke und die Buchsbäume getrimmt und die Beete angelegt waren. Malin dachte an ihren eigenen, handtuchgroßen Garten, in dem Blumen und Sträucher wild durcheinander wucherten und der Rasen eher einer Wiese glich.

      Der weinrote Samt des Ohrensessels, in dem am Vortag der Tote gesessen hatte, hatte großflächige dunkle Verfärbungen. Sie wandte sich ab und ging ins angrenzende Zimmer. Die Einbauküche wirkte alt und abgewohnt, doch in den Schränken herrschte penible Ordnung. Ofen und Herd waren sauber, ebenso wie der aufgeräumte Kühlschrank.

      Malin beschloss, ins Obergeschoss zu gehen. Durch das eingelassene Gitterfenster der Eingangstür tauchten vereinzelte Sonnenstrahlen einen Teil des Flurs in milchiges Licht. Am Garderobenständer hing noch immer der dunkelblaue Blazermantel.

      Beklommen ging sie die ausgetretenen, knarzenden Stufen der Holztreppe hinauf. Sie stellte sich vor, wie Kurt Wenninger die Treppe das letzte Mal benutzt hatte. Ob er zu dem Zeitpunkt bereits geahnt hatte, dass ihm jemand nach dem Leben trachtete? Unwillkürlich musste sie an ihren Großvater denken, der nur zwei Jahre jünger als der Tote war. Sie nahm sich vor, ihn in den nächsten Tagen zu besuchen.

      Die Schlafzimmereinrichtung war trist und die Tapeten vergilbt. Unter der Dachschräge stand ein schmales Mahagoni-Bett, daneben ein passender Nachtschrank mit einer kleinen Messinglampe darauf. An der einzigen geraden Seite befand sich ein Kleiderschrank mit Spiegeleinsatz. Auf der Bettseite zum Fenster hin zeichnete sich ein Abdruck auf der Decke ab, so als hätte dort vor kurzem noch jemand gesessen.

      In der Schublade des Nachtschranks lagen ein Gedichtband von Hermann Hesse, eine Ausgabe des Spiegels, eine Lesebrille und ein Stapel Stofftaschentücher mit Monogramm.

      Sie öffnete den Schrank. Der muffige Geruch getragener Kleidung mischte sich mit dem drückenden Leichengeruch. Malin wurde übel und sie öffnete das Schlafzimmerfenster. Dankbar sog sie die frische Luft in ihre Lungen und betrachtete die benachbarten Gärten und die Bäume im angrenzenden Wald, deren Blätter sich bereits verfärbten. Ihr Blick fiel auf die Rasenfläche. Etwas irritierte sie.

      »Brodersen!«

      Malin zuckte zusammen. Sie hatte nicht gehört, wie im Untergeschoss die Haustür geöffnet wurde.

      »Ach, hier steckst du.« Fricke erschien in der Schlafzimmertür und deutete ein Lächeln an. »Und, hast du schon etwas Interessantes aufgestöbert?« Er strich sich über seine vom Wind zerzausten Haare und kam ins Zimmer.

      Malin schüttelte den Kopf. »Ich versteh das nicht. Im ganzen Haus habe ich nichts Persönliches gefunden. Die einzige Ausbeute ist ein Aktenordner mit Kontoauszügen.«

      »Zumindest gibt uns das schon mal Einblick in die Vermögensverhältnisse«, erwiderte Fricke trocken. »Wäre nicht der Erste, der wegen Geld umgebracht wird.«

      Sie drehte sich wieder zum Fenster um und starrte hinunter in den Garten. »Chef, komm mal.«

      Fricke trat neben Malin und folgte ihrem Blick. »Ja, und?«

      »Irgendwie ist der Rasen an manchen Stellen merkwürdig gewachsen.«

      »Bist du jetzt unter die Botaniker gegangen?«, brummte Fricke. »Rasen wächst nicht überall gleichmäßig, das hat er von Natur aus an sich.«

      »Trotzdem, schau mal genau hin.« Malin wies auf eine Stelle hinter der Terrasse. »Es sieht fast so aus, als hätte dort jemand etwas ins Gras gemäht. Sind das Zahlen?«

      Fricke kniff die Augen zusammen. »Hm … Du könntest recht haben.«

      »Das war mit Sicherheit nicht Wenninger.« Malin zog ihr Handy aus der Hosentasche und machte ein paar Fotos. Sie erinnerte sich an die Worte von Stefan Biedermann: ›Englischer Rasen sollte alle paar Tage gemäht werden. Die optimale Länge ist drei bis vier Zentimeter.‹

      Malin betrachtete das Foto auf dem Display. »Wenninger saß in seinem Sessel, als er ermordet wurde. Und vermutlich hat er gesehen, dass etwas in den Rasen gemäht wurde.« Sie steckte das Handy zurück in ihre Hosentasche. »Jemand wollte, dass es das Letzte ist, was er in seinem Leben sieht.« Sie schloss das Fenster und wandte sich dann wieder zu Fricke um. »Fragt sich nur, warum.«

      6

      Ilse Wenninger füllte zwei Finger breit Eierlikör in ein Schnapsglas und hielt es eine Armlänge entfernt in die Höhe. »Auf dich, Kurt!« Sie leerte das Glas in einem Zug.

      Dann

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