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Sie starrte zu den Glassteinen. Zumindest waren sie lichtdurchlässig, und an der Dunkelheit dahinter meinte Rena zu erkennen, dass es Nacht war.

      Sie hatte völlig das Zeitgefühl verloren. Wie spät war es? Mitternacht? Drei Uhr morgens oder war es gerade mal sieben Uhr am Abend? Wie lange war sie schon an diesem Ort? Stunden, Tage, Wochen? Anfangs hatte sie noch gezählt, erst die Minuten, dann die Stunden, hatte versucht, die Tageszeiten am matten Schimmer hinter den Glassteinen einzuschätzen. Und an den Mahlzeiten, die ihr durch eine in die Tür eingelassene Klappe gereicht wurden. Schweigend. Brot mit ein wenig Belag oder eine dünne Suppe.

      Das Licht ging aus. Rena legte sich auf die Holzpritsche, schlüpfte unter die kratzige Decke und meinte jeden einzelnen Knochen zu spüren.

      Sie registrierte den Lichteinfall durch den kleinen runden Spion in der Tür. Jemand beobachtete sie. Sie legte die Hände auf die Decke. Es wurde stockdunkel.

      Obwohl Rena todmüde war, konnte sie nicht einschlafen. Unaufhörlich drehten sich die Fragen in ihrem Kopf. Warum bin ich hier? Wer steckt dahinter? Wo ist mein Kind?

      Sie schluchzte auf. Wie lange muss ich es hier noch aushalten? Ihr Körper begann unkontrolliert zu zittern. Vor Kälte, vor Hunger und vor Angst. Peter, dachte sie, Peter wird mich hier herausholen. Mit dem tröstlichen Gedanken fielen ihr vor Erschöpfung die Augen zu.

      Sekunden später ging das Licht der Neonröhre wieder an.

      7

      Der köstliche Duft von frischgebackenem Brot und Kaffee zog durch die gemütliche Küche des Lotsenhauses in Övelgönne. Erich Brodersen nahm die heiße Milch vom Herd und schäumte sie mit dem Stabmixer auf. Der ehemalige Fährkapitän wirkte trotz seiner sechsundsiebzig Jahre kräftig und energiegeladen. Sein gebräuntes, wettergegerbtes Gesicht war von vielen Falten durchzogen, und sein Blick aus blauen Augen wirkte klar und intelligent.

      »Wir haben lange nicht mehr zusammen gefrühstückt.« Erich warf seiner Enkelin einen liebevollen Blick zu und platzierte das Kännchen mit Milchschaum, einen Teller mit frischem Aufschnitt und ein Glas selbstgemachter Erdbeermarmelade neben die Butterdose auf dem Tisch. Er schnitt das noch warme Brot in dicke Scheiben, legte es in einen Korb und schenkte Kaffee ein.

      Malin lächelte. »Ich hatte viel um die Ohren in letzter Zeit.«

      »Und das hängt nicht zufällig mit einem ganz speziellen Herrn zusammen? Groß, blond, gutaussehend?« Erich setzte sich an den Tisch und zwinkerte schelmisch.

      »Woher …?«

      Er schmunzelte. »Ich habe euch letzte Woche zusammen bei Emilia gesehen.«

      Emilias Bistro war Malins Stamm-Italiener. Ein kleines Lokal mit Stehtischen, köstlichen, stets frisch zubereiteten Speisen und der quirligen Emilia als Wirtin.

      »Ich habe dich gar nicht bemerkt. Warum bist du nicht zu uns an den Tisch gekommen?« Malin griff nach einer Scheibe Brot.

      »Ein Rendezvous zu dritt?« Erich lachte und rührte etwas Milchschaum in seinen Kaffee. »Ich habe dich lange nicht mehr so gesehen, Malin. Du hast glücklich gewirkt.«

      Malin bestrich die Brotscheibe bedächtig mit Butter und verteilte zwei Teelöffel der Marmelade darauf. »Er heißt Thies.« Dann erzählte sie ihrem Großvater von dem Juraprofessor.

      »Hast du ihn schon deiner Mutter vorgestellt?«, fragte Erich, als sie fertig war.

      Malin verschluckte sich an ihrem Kaffee. »Ich bin doch nicht verrückt!«

      »Ach was!«, entgegnete Erich fröhlich. »Deiner Beschreibung nach entspricht dein neuer Freund der Idealbesetzung, die deiner Mutter als Schwiegersohn vorschwebt.«

      »Eben«, konterte Malin. »Die anhaltende Harmonie zwischen Mutter und mir ist schon unheimlich genug.«

      Constanze Heidenberg war die Hauptgesellschafterin der Heidenberg Bank, ein hanseatisches Privatunternehmen, das sich seit über 150 Jahren im Familienbesitz befand. Lange Zeit hatte Constanze die Entscheidung ihrer Tochter für die Polizei und gegen die Gesellschafterfunktion in der Bank, in deren Erwartung sie aufgezogen worden war, als persönlichen Affront empfunden. Während einer Mordermittlung zwei Monate zuvor waren sich Mutter und Tochter unvorhergesehen näher gekommen. Eine Situation, die für beide Frauen neu und ungewohnt war.

      »Mein Gott, war das lecker. Du solltest öfter Brot backen.« Malin schob ihren leeren Teller von sich.

      Erich lächelte erfreut. »Ich dachte, wir könnten später zusammen in die Stadt fahren und ein wenig in den Buchhandlungen nach neuen Krimis stöbern. Was hältst du davon?«

      »Viel. Nur leider muss ich gleich ins Präsidium«, erwiderte Malin bedauernd. Die Aussicht auf weitere Stunden am Telefon, um herauszufinden, welches Taxiunternehmen Kurt Wenninger chauffiert hatte, war nicht verlockend.

      »Ich dachte, du hast frei?«

      »Nicht mehr. Wir haben einen neuen Fall.« Malin umriss ihrem Großvater die Ereignisse der beiden letzten Tage und beschränkte sich auf die Dinge, die auch an die Presse gegangen waren. »Leider tappen wir bisher im Dunklen.«

      Ein Schatten fiel auf Erichs Gesicht. »Es muss furchtbar sein, so einsam zu sterben. Unvorstellbar, dass einen wochenlang niemand vermisst.«

      Malin griff nach seiner Hand und drückte sie kurz. »Lass uns nächsten Samstag gemeinsam in die Stadt fahren.«

      Erich runzelte die Stirn. »Da kann ich nicht. Ich habe eine Einladung nach Berlin bekommen.«

      »Wieder von dem Freund, bei dem du schon vor ein paar Monaten warst?«

      Er nickte.

      »Dann finden wir einen anderen Termin.« Malin warf einen Blick auf ihre Uhr. »Also gut, ich muss leider los. Vielen Dank für das tolle Frühstück.« Sie drückte ihrem Großvater einen raschen Kuss auf die Wange.

      »Hältst du mich auf dem Laufenden wegen eures Falls? Die Sache interessiert mich.«

      Malin seufzte. Seit ihrem Einstieg bei der Mordkommission fühlte sich ihr Großvater als eine Art Ehrenkommissar. Und daran war sie nicht ganz unschuldig, schließlich hatte sie ihn bei ihrem ersten Fall um Hilfe gebeten. Seitdem schien sich die Sache zu verselbstständigen.

      »Und bestell Hauptkommissar Fricke einen schönen Gruß von mir. Er soll unbesorgt sein. Ich habe nicht vor, mich in seinen Fall einzumischen.« Erich zwinkerte ihr zu. »Zumindest vorerst nicht.«

      Malin folgte ihrem Großvater in den Flur und nahm ihre Wachsjacke von der Garderobe. Daneben hing Erichs dunkelblauer Blazermantel. Sie erinnerte sich, dass sie in Wenningers Haus ein ganz ähnliches Modell gesehen hatte. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf.

      Wolfgang Herzog band bedächtig seine blau-rot gestreifte Krawatte um den gestärkten Hemdkragen und griff nach den Manschettenknöpfen aus Sterlingsilber mit dem dezent eingravierten Hamburg-Wappen. Die Knöpfe waren ein Geschenk von Verena zu seinem siebzigsten Geburtstag gewesen. Seine Frau war gebürtige Hamburgerin und stammte aus einer der alteingesessenen Unternehmerfamilien.

      Wolfgang Herzog musterte sich im Spiegel. Die tiefen Falten, den verkniffenen Mund und die dicken Tränensäcke unter seinen Augen. Schon seit Wochen litt er unter Schlafmangel und wälzte sich Nacht für Nacht im Bett herum. Er hatte mehrfach mit der Möglichkeit gespielt, Schlaftabletten zu nehmen, doch der Gedanke daran, was chemische Substanzen in Kombination mit dem alten, teuren Whiskey, den er so liebte, in seinem Körper auslösen konnten, hielt ihn davon ab.

      Aus dem Nachbarzimmer drang klassische Violinenmusik. Erst verhalten, dann nahmen die Töne an Lautstärke und Tempo zu. Mendelssohns Violinkonzert. Verena liebte diese Musik.

      Wolfgang seufzte, strich mit der Hand durch sein noch immer dichtes, graues Haar und griff nach dem dunkelblauen Zweireiher. Er war spät dran. In einer halben Stunde erwartete ihn der erste Mandant.

      Vor mehr als zwanzig Jahren hatte Wolfgang Herzog die Kanzlei Herzog Rechtsanwälte mit dem Schwerpunkt Strafrecht gegründet.

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