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stellte Malin richtig. »Wenn der Täter unvorsichtig genug war, zu übersehen, dass eine Hülse fehlt, könnte es genauso gut sein, dass er keine Handschuhe getragen hat.«

      »Oder die Täterin, Brodersen. Im Allgemeinen verlieren Frauen eher die Nerven und begehen Fehler.« Er warf ihr einen provozierenden Blick zu.

      Malin atmete einmal tief durch. »Das ist völlig aus der Luft gegriffen, und das weißt du. Laut Statistik sind im letzten Jahr rund neunzig Prozent aller Morde von Männern verübt worden.« Ihre Stimme wurde lauter. »Bei Totschlag liegt der Prozentsatz sogar noch höher.«

      »Siehst du, genau das habe ich gemeint.« Der rothaarige Ermittler grinste süffisant. »Ihr Frauen seid einfach viel zu schnell aus der Ruhe zu bringen.«

      Fricke erschien in der Tür. »Wie ich sehe, ist hier alles beim Alten. Anscheinend habt ihr problemlos an dem Punkt angeknüpft, den ihr vor Brodersens freien Tagen erreicht hattet.« Er wandte sich an seinen Stellvertreter. »Seit wann befinden die beiden sich im selben Raum?«

      Tiedemann lächelte schmallippig. »Keine fünf Minuten.«

      Fricke setzte eine strenge Miene auf. »Wir sind erst am Anfang dieser Ermittlung, zumal wir, solange Fred im Urlaub ist, mit einem Mann weniger auskommen müssen. Also schont meine Nerven und reißt euch zusammen!« Er ging zum Whiteboard mit den Tatortfotos. »Legen wir los. Was wissen wir bisher über diesen Kurt Wenninger?«

      Tiedemann rutschte hinter seinen Schreibtisch und zog ein paar Unterlagen zu sich heran. »Leider sind die Informationen bisher eher dürftig. Laut Melderegister wurde er 1936 in Hamburg geboren. Die Familie war bis Anfang der vierziger Jahre unter einer Adresse in Eimsbüttel gemeldet. Der nächste Eintrag stammt dann«, er sah auf einen Computerausdruck, »aus dem Jahr 1949. Interessanterweise umfasst er nur Margarethe und Ilse Wenninger.«

      »Ach, und Kurt Wenninger und sein Vater?«

      »Unbekannt verzogen«, erwiderte Tiedemann. »Danach gibt es eine zeitliche Lücke. Aber nach dem Krieg war das nichts Ungwöhnliches, das Melderegister musste erst wieder vollkommen neu aufgebaut werden. 1990 taucht der Name Kurt Wenninger im Hamburger Melderegister wieder auf. Und zwar unter der Adresse am Schleusenredder, die wir bereits kennen. Wo Wenninger sich zwischenzeitlich aufgehalten hat, bleibt noch offen.«

      Fricke runzelte die Stirn. »Aber er muss doch bei der Anmeldung seine bisherige Wohnadresse angeben haben.«

      »Hat er aber nicht«, erwiderte Tiedemann. »Oder die Meldebehörde hat es nicht erfasst.«

      »Was hat die Befragung der Schwester ergeben?«

      Tiedemann fasste das Gespräch mit Ilse Wenninger knapp zusammen.

      »Die Sache mit dem Brief ist merkwürdig«, kommentierte Fricke.

      »Die ganze Situation war merkwürdig. In meinen Augen hatte die Frau einfach nur keine Lust, über den Brief zu sprechen, genauso wenig wie über ihren Bruder. Irgendetwas ist zwischen den beiden extrem schiefgelaufen.«

      Fricke nickte. »Wir behalten die Angelegenheit fürs Erste im Hinterkopf und sehen zu, dass wir mehr Informationen über das Mordopfer bekommen.«

      »Vielleicht sollten wir Wenningers ehemalige Praxis aufsuchen«, schlug Malin vor. »Laut Stefan Biedermann, das ist der Postbote, war Wenninger Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, in Volksdorf.«

      »Ein Seelenklempner?« Andresen rümpfte die Nase. »Vielleicht hat ihn irgendein durchgeknallter Patient umgebracht.«

      »Wenniger war schon achtundsiebzig«, gab Malin zu bedenken. »Er wird schon länger nicht mehr praktiziert haben. Ich kann überprüfen, ob es die Praxis noch gibt, und gegebenenfalls sofort hinfahren.«

      »Gut, mach das«, sagte Fricke. »Vielleicht arbeitet dort noch jemand, der Kontakt mit Wenninger hatte.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Ich habe gleich einen Termin mit dem Pressesprecher, danach fahre ich in die Rechtsmedizin. Sven, du begleitest mich, dann kannst du dir ein besseres Bild machen.«

      »Soll ich mir in der Zwischenzeit einen Überblick über Wenningers Finanzen verschaffen?«, fragte Tiedemann.

      Fricke nickte. »Und gib mir bitte Bescheid, wenn die Spusi mit dem Tatort fertig ist. Wir sollten sehen, was wir in dem Haus noch an Unterlagen finden. Noch Fragen? Keine? Gut, dann an die Arbeit.« Er hob die Hand zum Gruß und verließ den Raum.

      Kurt Wenningers ehemalige Praxis für Neurologie und Psychiatrie in Volkdorf erwies sich als Sackgasse. Zwar hatte Malin mit seinem Nachfolger sprechen können, doch der hatte nur im Rahmen der Übernahme sporadisch Kontakt zu ihm gehabt. Die Abwicklung selbst war von Beratern vorgenommen worden. Obwohl der Patientenstamm im Jahr 2000 Bestandteil des Übernahmevertrages gewesen war, waren seitdem viele Patientenakten dem Schredder zum Opfer gefallen, da die gesetzliche Aufbewahrungspflicht überschritten war. Für die Einsicht in die restlichen noch von Wenninger angelegten Akten verlangte der Praxisinhaber einen richterlichen Beschluss.

      Auch die Gespräche mit zwei von drei Sprechstundengehilfinnen verliefen im Sand. Keine von ihnen hatte mit Wenninger zusammengearbeitet, ebenso wenig wie die dritte im Bunde, die zur Zeit mit Magen-Darm-Grippe das Bett hütete.

      Mittlerweile war es Mittag. Malin saß an der Fensterfront des Asia-Imbisses Seoul an der Alsterdorfer Straße und wartete auf ihre Bestellung, S4, Hühnchen mit Cashewnüssen. Das Seoul lag nur wenige Gehminuten vom Präsidium entfernt und galt unter den LKA-Beamten schon seit langem als Geheimtipp. Die Einrichtung des kleinen Lokals war schlicht. Weiße Kacheln, ein roter Tresen, auf dem ein dicker Buddha thronte, und halbhohe Spitzengardinen. In der offenen Küche hinter der Bedientheke wirbelte der Koch Schulter an Schulter mit der Inhaberin Frau Hu, die alle Hände damit zu tun hatte, Bestellungen entgegenzunehmen.

      »S4!« Frau Hu reichte Malin das dampfende Hühnchengericht und die obligatorische Dose Cola light über die Theke. Malin ging zurück an ihren Fensterplatz und widmete sich ihrem Essen. Ihre Gedanken wanderten zu Thies. Die Enttäuschung über ihren abrupten Aufbruch am vergangenen Abend hatte ihrem Freund im Gesicht gestanden.

      Ich darf das nicht vermasseln, dachte Malin. Nicht schon wieder. Sie trank einen Schluck Cola. Vielleicht war sie auch einfach nur beziehungsunfähig. Seit Thies davon angefangen hatte, sie unbedingt seiner Mutter vorstellen zu wollen, war die Leichtigkeit ihrer Beziehung verflogen. Oder lag es daran, dass sie in einem neuen Fall ermittelte?

      Malin war erst knapp zwölf Monate bei der Mordkommission, hatte sich seitdem aber schon zweimal in äußerst brenzligen Situationen befunden. Das hatte Spuren hinterlassen. Immer wieder gab es Momente, in denen sie sich fragte, ob es beim nächsten Mal genauso glimpflich für sie ausgehen würde. Seit einigen Wochen quälte sie fast jede Nacht ein Albtraum, in dem ihr jemand minutenlang eine geladene Waffe an den Hinterkopf hielt und schließlich abdrückte.

      Ihr Handy klingelte. Es war Fricke. »Konntest du in der Praxis etwas in Erfahrung bringen?«

      »Leider nein.« Malin berichtete von dem Gespräch mit Wenningers Nachfolger.

      »Gibt es noch Personalunterlagen oder die Adressen ehemaliger Mitarbeiter?«

      »Ebenfalls Fehlanzeige. Wenningers letzte Arzthelferin ist 2003 in Rente gegangen. Mehr als den Namen konnte man mir nicht sagen. Es gibt noch einen Restbestand an Patientenakten, aber dafür brauchen wir einen Beschluss.«

      »Gut, ich kümmere mich darum«, brummte Fricke. »Wo steckst du jetzt?«

      »Beim Koreaner, eine Kleinigkeit essen, danach wollte ich zurück ins Büro.«

      Fricke räusperte sich. »Pass auf, Brodersen, ich bin auf dem Weg in die Rechtsmedizin. Es wäre gut, wenn du dich in Wenningers Haus noch mal etwas genauer umsiehst. Vielleicht findest du ein paar aussagekräftige Unterlagen.«

      »Alles klar, Chef. Ist die Spurensicherung fertig?«

      »Die Kollegen packen gerade ein. Am besten rufst du Glaser an und fragst, wie lange noch jemand vor Ort ist. Wenn ich es schaffe, komme ich später nach. Ansonsten treffen wir uns gegen Abend zur Besprechung im Präsidium. Bis

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