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Er hatte zwar das Gefühl, dass er bis jetzt die meisten Befürchtungen hatte entkräften können, doch das letzte Telefonat hatte ihn Nerven gekostet. Der Mann hatte doch tatsächlich wissen wollen, ob man den Insulanern nicht alle Schuss­waffen wegnehmen könnte. Damit so was nicht wieder passiere. Man habe schließlich als Stammgast große Sorge, dass Mensch und Tier auf der Insel in absehbarer Zeit ausgerottet würden, wenn das so weiterginge. Und was denn mit den Rehen sei? Ob die ebenfalls auf der Abschussliste stünden?

      Der Bürgermeister hatte mit Engelszungen auf den Mann eingeredet und dann Thea Holle, sein bestes Stück im Vorzimmer, gebeten, in den nächsten Stunden keinen Anruf mehr durchzustellen. Dabei war das sonst nicht seine Art. Bürgernähe war sein oberstes Gebot. Aber er musste selbst erst einmal seine Gedanken klar bekommen. Unglaublich, wie schnell sich der Tod von der Oligs rumgesprochen hatte. Sogar bis ans Festland. Dank sozialer Netzwerke war das kein Problem mehr. Dabei brachte die beginnende Saison auch ohne Todesfälle genügend Arbeit mit sich. Alles musste aus dem Winterschlaf geholt, die Turnhalle wieder zum Haus des Gastes umfunktioniert werden. Das hieß putzen, Stühle aufstellen und die Bühne aufbauen. Das Kinderspielhaus musste für die kleinen Gäste aufgehübscht werden. Dazu kam der Streit um die Kaninchen, der immer groteskere Formen annahm. Vornehmlich zwischen den selbsternannten Rettern der Pflanzenwelt und den Proniggels. Inzwischen wurde dieser Krach nicht mehr inselintern ausgetragen, sondern Medien hatten sich darauf gestürzt und ein Horrorszenario von toten Tieren an die Wand gemalt. Die Baltrumer Jäger, die sich bis jetzt erstaunlich zurückhaltend gezeigt hatten, wurden langsam sauer. Denn auch sie standen im Fokus der Öffentlichkeit.

      Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, hatte man die Sprecherin und selbsternannte Vorsitzende der Proniggels mit einem Kopfschuss – ihm kam das Wort ›erlegt‹ in den Sinn – in den Dünen gefunden.

      Seine Vorgängerin im Amt hatte ihm ein ganz schönes Pfund hinterlassen, als sie im letzten Herbst die Segel gestrichen hatte und nach Jamaica ausgewandert war. Es war ihm immer klar gewesen, dass der Job als Bürgermeister und Kurdirektor nicht einfach sein würde, obwohl die Insel klein war. Aber solch einen Saisonbeginn hatte er sich nicht träumen lassen.

      Er schaute auf die alte braune Bürouhr, die sicher schon unter vielen Bürgermeistern gedient hatte. Es wurde Zeit, zum Schiff zu gehen und Werner Gronewald abzuholen.

      Das Telefon klingelte. Hatte er nicht …? Egal. Es musste wichtig sein, wenn Thea Holle durchstellte. »Middelborg.« Er lauschte einen Moment, dann erklärte er: »Ich bin ebenfalls gleich am Hafen. Dann können wir reden.«

      Gerade als er beim Nationalparkhaus links abbiegen wollte, hörte er seinen Namen. Ingeborg Opitz stand mitten auf der Straße und winkte ungestüm. »Herr Middelborg, Herr Middelborg, halten Sie an.«

      Nicht die Opitz. Die reichte ihm schon zu normalen Zeiten. Aber es nützte nichts. Wenn er weiterfuhr, würde sie ihn bis zum Hafen verfolgen und dann gab es kein Entkommen. Es sei denn, er würde sich ins Hafenbecken stürzen und nach Norderney rüber­schwimmen. Was schwierig war. Und um diese Jahreszeit ein wenig zu kalt!

      Er bremste und sprang vom Rad. Das Schiff sah er gerade an der Ostspitze der Nachbarinsel vorbeifahren. Ihm blieb also ein wenig Zeit, bis es anlegte. »Ich grüße Sie, Frau Opitz.« Er bemühte sich um größtmögliche Freundlichkeit. »Was kann ich für Sie tun?«

      »Machen Sie dem Röder Dampf. Der soll sich um meinen Zaun kümmern!«

      »Sie meinen Michael Röder? Der ist meines Wissens hier Polizist und kein Handwerker.«

      »Mein Gott ja, darum geht es doch!«, antwortete sie scharf. »Jemand hat meinen Zaun zerstört. Das ist eine Straftat.«

      »Ich bin sicher, dass er sich Ihren Zaun ansehen wird. Doch im Moment hat er vielleicht Wichtigeres zu tun.« Er merkte, dass sein Erklärungsversuch einfach an dieser Frau abprallte. »Sie werden gehört haben, dass …«

      »Natürlich. Aber Edith ist tot. Fertig. Also kann er sich jetzt auch …«

      Es widerte ihn an. »Er wird sich schon kümmern«, sagte er knapp und machte, dass er wegkam.

      »Herr Middelborg. Warten Sie! Unverschämtheit!«, begleitete ihn ihre gehässige Stimme fast bis zum Reedereigebäude.

      Sie würde ihm ziemlich sicher folgen. Er musste unbedingt Michael Röder warnen. Er blickte sich um und sah ihn neben dem Wartehäuschen stehen. »Hallo, Herr Röder. Bevor Sie etwas sagen – gerade hat …«

      Zu spät. Ingeborg Opitz hatte ihn eingeholt und bremste mit quietschenden Reifen.

      »Da habe ich genau die Richtigen«, begann sie lauthals, doch Middelborg fiel ihr ins Wort.

      »Frau Opitz! Nicht jetzt.« Middelborg bemerkte große Aufmerksamkeit in den Gesichtern der Umstehenden. »Wenn Sie etwas mit mir zu besprechen haben, dann kommen Sie in mein Büro. Sollten Sie mit Herrn Röder reden wollen – er ist später auf der Wache zu finden.« Ob es die Hausmeister der Hotels waren, die junge Frau vom Kutschenbetrieb oder der eine oder andere Vermieter, alle hatten sich zu ihnen umgewandt und warteten gespannt, wie die Auseinander­setzung weiterging. Es war ihm egal. Man kannte ihn als ausgleichend, freundlich. Aber in diesem Fall versagte seine Freundlichkeit.

      »Sie wollen mir doch nicht vorschreiben, was ich zu tun habe«, fuhr Ingeborg Opitz ihn an. »Wer sind Sie überhaupt? Erst ein halbes Jahr hier und schon wollen Sie wissen, wie der Hase läuft. Von Insulanern haben Sie doch keine Ahnung. Und ich Idiot habe Sie auch noch gewählt.«

      Zu dieser Argumentation fiel ihm nun gar nichts mehr ein. Als sie ihn gewählt hatte, war ihr doch klar gewesen, dass er kein Insulaner war, sondern vom Festland kam. Warum hatte sie ihr Kreuz bei ihm gemacht? Dann hätte sie besser ihre Wahl zwischen den beiden Inselkandidaten treffen können. Vielleicht würde er sie mal danach fragen. Irgendwann. Wenn sich die Lage beruhigt hatte.

      »Ingeborg, Du solltest dich jetzt besser zurückhalten.« Michael Röder hatte sich vor der erbosten Frau aufgebaut. »Natürlich werde ich mich um deinen Zaun kümmern. Immer und immer wieder. Genau, wie ich es gestern nach deinem Anruf gemacht und die Anzeige aufgenommen habe. Aber jetzt muss ich erst meine Kollegen vom Festland abholen. Prioritäten setzen nennt man so etwas. Und wenn du das nicht verstehst, kann ich dir auch nicht helfen.«

      Mit einem Ruck zog Ingeborg Opitz ihr Fahrrad zur Seite. Im Umdrehen fauchte sie: »Wie schön, dass du noch Vorgesetzte hast, lieber Michael. Die werden sehr interessiert registrieren, was ich denen zu sagen habe.« Mit Schwung bestieg sie ihr Fahrrad und ließ zwei kurzzeitig sprachlose Männer zurück.

      »Wechseljahre.« Thomas Claaßen nickte bedeutungsvoll. »Ich sage nur: Wechseljahre. Kenne ich von meiner Helma.«

      Middelborg hatte ihn gar nicht näherkommen sehen. Er wunderte sich. Als Gemeindemitarbeiter sollte Claaßen eigentlich damit beschäftigt sein, in der Mehrzweckhalle die restlichen Strandkörbe fit für die Saison zu machen. Aber offensichtlich führte dieser Mann in seiner Arbeitszeit ein Eigenleben. Diese Leute muss ich unbedingt besser in den Griff kriegen, nahm er sich vor. Doch nicht jetzt. Nicht noch ein Drama. Der Tag war bis jetzt der anstrengendste in seiner jungen Laufbahn als Bürgermeister gewesen. Der musste nicht mit einer dienstlichen Diskussion in aller Öffentlichkeit gekrönt werden. Aber ein: »Na, schon Feierabend?«, konnte er sich nicht verkneifen.

      »Wie man’s nimmt«, war Claaßens Antwort. »Überstundenabbau. Muss Gäste abholen.«

      Wenn der Mann auch viel konnte: In ganzen Sätzen sprechen offensichtlich nicht. Das mit den Überstunden würde sich Middelborg genau ansehen. Er hegte leichte Zweifel.

      »Kommen Sie«, wandte er sich an Michael Röder. »Da hinten ist es ruhiger. Sie meinten eben am Telefon, Sie hätten Neuigkeiten?«

      Der Inselpolizist folgte ihm einige Meter Richtung Pegelanlage zur der Stelle, wo normalerweise das Ausflugsschiff Baltrum III anlegte. Das allerdings schien unterwegs zu einer Fahrt rund um die Insel zu sein. Die große Fähre, die Baltrum I, bog gerade in die Hafeneinfahrt.

      »Wer kommt gleich?«, fragte er Röder.

      »Die Spurensicherung und meine

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