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Phänomen Sowjetunion auseinandersetzen, dafür aber mit dem Zusammenbruch ihres eigenen Wirtschaftssystems und dem völligen Versagen des westlichen Kapitalismus. Was war das Geheimnis des sowjetischen Systems? Konnte man irgend etwas von ihm lernen? Die Wörter »Plan« und »Planung« tauchten plötzlich wie ein Echo des russischen Fünfjahresplans als große Schlagwörter in der westlichen Politik auf. Sozialdemokratische Parteien, wie in Belgien und Norwegen, wandten sich »Plänen« zu. Sir Arthur Salter, ein englischer Beamter von Rang und höchst ehrenwert, eine Säule des Establishments also, schrieb das Buch Recovery, um darzulegen, daß eine geplante Gesellschaft lebensnotwendig sei, wenn sein Land und die Welt dem Teufelskreis der Wirtschaftskrise entkommen wollten. Andere englische Beamte und parteilose Intellektuelle gründeten eine überparteiliche Denkfabrik mit dem Namen »PEP« (Political and Economic Planning). Junge konservative Politiker wie der zukünftige Premierminister Harold Macmillan (1894–1986) machten sich zum Sprachrohr der »Planung«. Sogar die Nazis plagiierten diese Idee, und Hitler verkündete 1933 einen »Vierjahresplan«. (Aus Gründen, die im nächsten Kapitel beleuchtet werden, sollte der Erfolg der Nazis bei der Bewältigung der Krise nach 1933 international jedoch nur geringe Auswirkungen haben.)

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      Weshalb hat die kapitalistische Wirtschaft zwischen den Kriegen versagt? Die Lage der USA ist ein wesentlicher Teil der Antwort auf diese Frage. Denn während man in Europa (zumindest in den kriegführenden Ländern Europas) die Zerstörungen durch den Krieg und die Probleme der Nachkriegszeit für die ökonomischen Schwierigkeiten verantwortlich machen konnte, waren die USA weit vom Kriegsschauplatz entfernt, obwohl sie kurz, aber entscheidend am Krieg teilgenommen hatten. Im Gegenteil, die Vorteile, die ihre Wirtschaft aus dem Ersten Weltkrieg gezogen hatte, waren nicht minder spektakulär als die, welche sie später aus dem Zweiten Weltkrieg ziehen sollte. Bereits 1913 waren die USA zur größten Volkswirtschaft der Welt geworden und stellten über ein Drittel der gesamten globalen Industrieproduktion her – nur knapp weniger, als die Gesamtproduktion von Deutschland, Großbritannien und Frankreich. 1929 war ihr Anteil an der gesamten Weltproduktion über 42 Prozent, wohingegen die drei Industriemächte Europas zusammen kaum 28 Prozent hielten.20 Dies sind wahrhaftig erstaunliche Zahlen. Ein konkretes Beispiel: Die Stahlproduktion der USA stieg zwischen 1913 und 1920 um ein Viertel, während die Stahlproduktion im Rest der Welt um etwa ein Drittel zurückging.21 Nach dem Ersten Weltkrieg waren die USA also in vielerlei Hinsicht zu einer international ebenso dominierenden Wirtschaft geworden wie später nach dem Zweiten Weltkrieg. Nur die Weltwirtschaftskrise sollte ihre Vorherrschaft zeitweise unterbrechen.

      Hinzu kam, daß der Krieg nicht nur ihre Rolle als größter Industrieproduzent der Welt gestärkt, sondern sie auch zum größten Gläubiger der Welt gemacht hatte. Die Briten hatten während des Krieges ungefähr ein Viertel ihrer weltweiten Kapitalanlagen verloren, vor allem in den USA, weil sie zum Verkauf gezwungen waren, um den Ankauf von Kriegsmaterial bezahlen zu können; die Franzosen hatten die Hälfte ihrer Investitionen durch die Revolution und den Zusammenbruch in Europa verloren. Inzwischen waren die Amerikaner, die den Krieg als Schuldner begonnen hatten, zum international größten Kreditgeber geworden. Und da sie ihre Aktivitäten auf Europa und die westliche Hemisphäre konzentrierten (die Briten waren der noch immer bei weitem größte Investor in Asien und Afrika), war auch ihr Einfluß auf Europa entscheidend.22

      Kurz gesagt: Man kann die Weltwirtschaftskrise ohne Einbeziehung der USA nicht erklären. Sie waren in den zwanziger Jahren die größte Exportnation der Welt und, nach Großbritannien, auch der größte Importeur. Bei Rohmaterialien und Lebensmitteln hielten sie beinahe 40 Prozent des Gesamtimports der fünfzehn größten Handelsnationen – eine Tatsache, die schließlich auch den verheerenden Einfluß der Krise auf die Produzenten von Weizen, Baumwolle, Zucker, Kautschuk, Seide, Kupfer, Zinn und Kaffee erklärt (Lary, 1943, S. 28–29). Aber aus genau diesem Grund sollten sie auch zum eigentlichen Opfer der Krise werden. Zwischen 1929 und 1932 fielen ihre Importe wie Exporte um 70 Prozent. Und während der Welthandel zwischen 1929 und 1939 um weniger als ein Drittel zurückging, fielen die amerikanischen Exporte um über die Hälfte.

      Damit sollen die genuin europäischen Wurzeln des Übels, die im wesentlichen in der Politik aufzufinden sind, keinesfalls unterschätzt werden. Auf der Friedenskonferenz von Versailles (1919) waren Deutschland riesige, aber nicht klar definierte »Reparationen« für die Kriegskosten und Schäden der Siegermächte auferlegt worden. Um dies rechtfertigen zu können, war dem Friedensvertrag eine Klausel hinzugefügt worden, die die Alleinverantwortung von Deutschland für den Krieg konstatierte (die sogenannte »Kriegsschuldklausel«), was nicht nur historisch zweifelhaft war, sondern sich auch als Geschenk für den deutschen Nationalismus erweisen sollte. Die Höhe der Summe, die Deutschland zu zahlen hatte, blieb vage – ein Kompromiß zwischen der Position der USA, die vorgeschlagen hatten, daß Deutschlands Zahlungen anhand der Zahlungsfähigkeit des Landes berechnet werden sollten, und der Position der anderen Alliierten, vor allem der Franzosen, die darauf bestanden, die gesamten Kriegskosten erstattet zu bekommen. Das eigentliche Ziel aller Alliierten und vor allem von Frankreich war, Deutschland in einem Zustand der Schwäche zu halten und ein Mittel in der Hand behalten zu können, um Druck auf das Land ausüben zu können. 1921 wurde die Höhe des Betrags schließlich auf 132 Milliarden Goldmark festgesetzt – zur damaligen Zeit der Gegenwert von 33 Milliarden Dollar –, für jedermann eine Phantasiesumme.

      Diese »Reparationen« führten zu einem endlosen Kreislauf aus Debatten, regelmäßig auftauchenden Krisen und deren Beilegungen, vor allem durch die Amerikaner: Zum Mißfallen ihrer ehemaligen Alliierten wollten die USA die Frage von Deutschlands Schulden gegenüber allen Alliierten mit der Frage von deren eigenen Schulden gegenüber Washington verbinden. Und diese Summen waren beinahe so aberwitzig wie die Summen, die Deutschland zahlen sollte (die eineinhalbfach so hoch wie das gesamte Nationaleinkommen des Landes im Jahr 1929 waren). Englands Schulden gegenüber den USA beliefen sich auf die Hälfte seines Nationaleinkommens, die der Franzosen auf zwei Drittel.23 Der »Dawes-Plan« setzte 1924 schließlich eine realistische Summe für die jährlichen Zahlungen Deutschlands fest; und der »Young-Plan« von 1929 modifizierte das Rückzahlungsschema und etablierte in Basel eine »Bank für Internationalen Zahlungsausgleich«, das erste von vielen internationalen Finanzierungsinstituten, die dann nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet werden sollten. (Zur Zeit der Niederschrift dieses Buches existierte sie noch immer.) Aus praktischen Gründen wurden alle Zahlungen, die der Deutschen wie die der Alliierten, 1932 eingestellt. Nur Finnland hat seine Schulden gegenüber den USA beglichen.

      Ohne hier ins Detail gehen zu wollen, soll erwähnt sein, daß zwei Fragen zur Debatte standen. Erstens: »Die wirtschaftlichen Konsequenzen des Friedens« (1920) – ein Punkt, den der junge John Maynard Keynes in seiner grimmigen Kritik an der Konferenz von Versailles, an der er als Juniormitglied der britischen Delegation teilgenommen hatte, ausgearbeitet hatte. Ohne die Genesung der deutschen Wirtschaft, so argumentierte er, wäre auch die Genesung einer stabilen liberalen Zivilisation und Wirtschaft in Europa unmöglich. Die Politik Frankreichs, Deutschland zugunsten der französischen »Sicherheit« schwach zu halten, sei kontraproduktiv. Frankreich war in der Tat zu schwach, um seine Politik durchzusetzen, auch wenn es 1923 für kurze Zeit das industrielle Herz im Westen Deutschlands mit der Begründung besetzen konnte, daß die Deutschen die Zahlungen verweigerten. Schließlich mußten die Franzosen 1924 eine »Erfüllungspolitik« für Deutschland akzeptieren, mit der die deutsche Wirtschaft wieder gestärkt wurde. Zweitens aber gab es die Frage, auf welche Weise Reparationen zu zahlen seien. All jene, denen es darum ging, Deutschland schwach zu halten, wollten lieber Geld als Güter aus der laufenden Produktion sehen (was vernünftiger gewesen wäre) und ließen sich nicht einmal darauf ein, daß Deutschland aus den Einnahmen seiner Exporte zahlen konnte, weil damit die deutsche Wirtschaft gegenüber ihren Konkurrenten gestärkt worden wäre. Dadurch zwangen sie Deutschland zu großen Kreditaufnahmen, so daß die Reparationen, die schließlich tatsächlich gezahlt wurden, aus den riesigen (amerikanischen) Kapitalanleihen der zwanziger Jahre stammten. Für die Rivalen Deutschlands schien das noch den zusätzlichen Vorteil zu haben, daß sich das Land tief verschulden mußte, anstatt seine Exporte ausweiten und somit ein außenpolitisches Gleichgewicht herstellen zu können. Tatsächlich stiegen Deutschlands Importe stark an. Wir wissen, daß all diese Arrangements nicht nur Deutschland, sondern ganz

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