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nach den Vorkriegsvorstellungen auch pathologisch hoch. Man bedenke, daß sie in Großbritannien, Deutschland und Schweden sogar während des Booms in den zwanziger Jahren (1924–29) bei durchschnittlich 10 bis 12 Prozent lag (sogar bei 17 bis 18 Prozent in Dänemark und Norwegen).8 Nur die Wirtschaft der USA stand mit einer durchschnittlichen Arbeitslosenrate von 4 Prozent wirklich unter Volldampf. Dennoch waren beide Situationen Anzeichen von ernstzunehmenden wirtschaftlichen Schwächen. Das Absacken der Rohstoffpreise (deren weiterer Abfall durch die Lagerung immer größerer Vorräte verhindert werden sollte) demonstrierte einfach, daß die Nachfrage mit der Produktivität nicht mehr Schritt halten konnte. Und auch die Tatsache, daß der Boom zu großen Teilen durch den enormen Fluß an internationalem Kapital angeheizt wurde, der in jenen Jahren kreuz und quer durch die industrialisierte Welt und vor allem nach Deutschland strömte, sollte nicht in Vergessenheit geraten. Allein dieses Land, das 1928 etwa die Hälfte des weltweiten Kapitalexports erhielt, hatte sich mit 20000 bis 30000 Milliarden Mark verschuldet, die Hälfte davon wahrscheinlich zu kurzfristigen Bedingungen.9 Wieder machte das die deutsche Wirtschaft äußerst verwundbar, wie sich ja auch zeigen sollte, als das amerikanische Geld nach 1929 abgezogen wurde.

      Wenige Jahre später konnte es dann kaum mehr jemanden überraschen, daß die Weltwirtschaft wieder in Schwierigkeiten war – mit Ausnahme der optimistischen Bürger in den Kleinstädten Amerikas, die der westlichen Welt damals durch den Helden Babbitt aus der Feder des amerikanischen Schriftstellers Sinclair Lewis (1922) bekannt gemacht worden waren. Die Kommunistische Internationale hatte auf dem Höhepunkt des Booms eine neue ökonomische Krise vorhergesagt, von der sie – oder zumindest ihre Sprecher – erwartete oder zu glauben vorgab, daß sie eine neue Runde von Revolutionen einläuten würde. Die Krise, die tatsächlich ausbrach, führte in kürzester Zeit in die entgegengesetzte Richtung. Doch niemand, wahrscheinlich nicht einmal die Revolutionäre in ihren optimistischsten Augenblicken, hatten eine so weltweite und tiefgreifende Krise erwartet. Sogar Nichthistoriker wissen, daß sie mit dem New Yorker Börsenkrach am 29. Oktober 1929 begann und die kapitalistische Weltwirtschaft fast zum Zusammenbruch zu bringen schien. Wo gab es einen Ausweg aus dem Teufelskreis, in dem jede Abwärtsbewegung der wirtschaftlichen Indizes einen noch steileren Absturz zur Folge hatte (abgesehen von der Arbeitslosenrate, die sich in immer astronomischere Höhen schraubte)?

      Wie die ausgezeichneten Experten des Völkerbundes, von denen niemand viel Notiz zu nehmen schien, vorhergesagt hatten, sollte sich die dramatische Rezession der nordamerikanischen Industriewirtschaft bald schon auf das zweite industrielle Kerngebiet ausweiten: auf Deutschland.10 Die Industrieproduktion der USA fiel zwischen 1929 und 1931 um etwa ein Drittel, die deutsche Produktion gleichzeitig in etwa dem gleichen Maße; aber dies sind glättende Durchschnittswerte. Der große amerikanische Elektrokonzern Westinghouse büßte zwischen 1929 und 1933 zwei Drittel seines Absatzes ein, und seine Nettoeinnahmen fielen in nur zwei Jahren um 76 Prozent.11 Die Krise legte auch die Nahrungsmittel- und Rohstoffproduktion lahm. Die Preise für Tee und Weizen fielen um zwei Drittel, der Preis für Rohseide um drei Viertel. Das warf all jene Staaten zu Boden, deren internationaler Handel von einigen wenigen Grundstoffen abhängig war – um hier nur die Staaten zu nennen, die 1931 vom Völkerbund aufgeführt wurden: Argentinien, Australien, die Balkanstaaten, Bolivien, Brasilien, die malaiischen Kolonien der Briten, Kanada, Chile, Kolumbien, Kuba, Ägypten, Ecuador, Finnland, Ungarn, Indien, Mexiko, Niederländisch-Indien (das heutige Indonesien), Neuseeland, Paraguay, Peru, Uruguay und Venezuela. Kurzum, die Depression wurde im buchstäblichen Sinne global.

      Auch die Volkswirtschaften von Österreich, der Tschechoslowakei, von Griechenland, Japan, Polen und Großbritannien, wie immer äußerst empfindlich gegen die seismischen Schockwellen aus dem Westen (oder Osten), wurden erschüttert. Die japanische Seidenindustrie hatte ihre Produktion innerhalb von fünfzehn Jahren verdreifacht, um den großen und wachsenden US-Markt für Seidenstrümpfe zu beliefern; nun verschwand dieser wieder, zumindest einige Zeit lang – und damit auch der Markt für jene 90 Prozent der japanischen Seide, die nach Amerika gingen. Mittlerweile war auch der Preis für Reis, das andere landwirtschaftliche Hauptprodukt Japans, gefallen; aber nicht nur dort, sondern in allen großen reisproduzierenden Gebieten Süd- und Ostasiens. Da der Weizenpreis jedoch noch tiefer gefallen war als der Preis für Reis – Weizen also billiger geworden war –, sollen viele Asiaten von einem Produkt zum anderen übergewechselt sein. Wenn es eine solche Hochkonjunktur im Geschäft mit Nudeln und Chapattis gab, so mußte sie die Situation der reisexportierenden Staaten, wie Birma, Französisch-Indochina und Siam (heute Thailand), noch verschlechtern.12 Die Bauern versuchten natürlich, mit dem Anbau und Verkauf von mehr Getreide den Preisverfall aufzufangen, was die Preise schließlich nur noch weiter absinken ließ.

      Für Bauern, die vom Markt und vor allem vom Exportmarkt abhängig waren, bedeutete das den Ruin, es sei denn, sie konnten sich auf die letzte ihnen verbleibende Bastion zurückziehen – auf die Produktion nur für den eigenen Bedarf. In großen Teilen der abhängigen Welt war das auch noch möglich, und somit war vielen Afrikanern, Süd- und Ostasiaten und Lateinamerikanern, die noch immer Bauern waren, eine gewisse Sicherheit gegeben. Brasilien z.B. wurde zum Inbegriff für Vergeudung im Kapitalismus und das eigentliche Ausmaß der Depression: Kaffeeplantagenbesitzer versuchten verzweifelt die Krise zu verhindern, indem sie die Lokomotiven ihrer Eisenbahnen mit Kaffee anstelle von Kohle beheizten. (Zwischen zwei Drittel und drei Viertel des auf dem Weltmarkt angebotenen Kaffees stammten aus diesem Land.) Dennoch war die Weltwirtschaftskrise für die vorwiegend ländliche Bevölkerung Brasiliens noch immer weit erträglicher als die ökonomischen Katastrophen der achtziger Jahre. Man bedenke übrigens, daß die Hoffnungen der armen Leute auf das, was sie von der Wirtschaft erwarten konnten, noch äußerst bescheiden gewesen waren.

      Dennoch: Selbst unter den Bauern in den Kolonialgebieten forderte die Krise Opfer, wie am Beispiel der Goldküste (heute Ghana) zu sehen war, wo der Exportmarkt für Kakao, den die Bauern anbauten, ins Bodenlose gefallen war und als Konsequenz daraus der Import von Zucker, Mehl, Dosenfisch und Reis um zwei Drittel fiel; der Import von Gin fiel übrigens um 98 Prozent.13

      Wer keine Kontrolle über die Produktionsmittel hatte oder keinen Zugang zu ihnen (außer sie gehörten einer bäuerlichen Familie an), also Männer und Frauen, die in Lohnarbeit standen, erlebte die Krise hauptsächlich als eine in Ausmaß und Dauer bislang unvorstellbare und niemals erwartete Arbeitslosigkeit. Zur schlimmsten Zeit (1932–33) hatten 22–23 Prozent der britischen und belgischen Arbeiter, 24 Prozent der schwedischen, 27 Prozent der nordamerikanischen, 29 Prozent der österreichischen, 31 Prozent der norwegischen, 32 Prozent der dänischen und sogar 44 Prozent der deutschen keine Arbeit. Bezeichnend ist auch, daß sogar der Aufschwung nach 1933 die Arbeitslosigkeit auf durchschnittlich nur 16–17 Prozent in Großbritannien und Schweden und auf 20 Prozent im restlichen Skandinavien, in Österreich und in den USA verringern konnte. Der einzige westliche Staat, dem es zwischen 1933 und 1938 gelang, die Arbeitslosigkeit zu überwinden, war Nazideutschland.14 Eine derartige Wirtschaftskatastrophe hatte niemand aus der arbeitenden Bevölkerung je zuvor erlebt.

      Was die Lage noch dramatischer machte, war die Tatsache, daß es, an den Standards des späten 20. Jahrhunderts gemessen, nur eine äußerst dürftige staatliche Vorsorge bei Sozialleistungen gab, also auch keine Arbeitslosenversicherung, vor allem nicht gegen Langzeitarbeitslosigkeit. In den USA gab es praktisch überhaupt keine. Ebendeshalb war die soziale Sicherheit für Arbeiter immer so lebenswichtig gewesen: Sie brauchten Schutz gegen die schrecklichen Ungewißheiten der Lohnarbeit (Lohnkürzungen, Krankheit, Unfall) und gegen die schreckliche Gewißheit, im Alter ohne Einkommen zu sein. Deshalb träumten die Arbeitereltern auch immer davon, ihren Kindern zu zwar bescheiden entlohnten, aber gesicherten Stellungen mit Rentenansprüchen zu verhelfen. Sogar in Großbritannien – wo vor der Krise die weitreichendsten Vorkehrungen für Arbeitslosenversicherungen getroffen worden waren – kamen weniger als 60 Prozent der Arbeiterschaft in ihren Genuß, und auch sie nur, weil sich Großbritannien bereits seit 1920 an Massenarbeitslosigkeit anzupassen gelernt hatte. In den anderen Staaten Europas lag der Prozentsatz der Arbeiterschaft mit Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung bei null bis 25 Prozent (abgesehen von Deutschland, wo es über 40 Prozent waren).15 Man war wohl an das Auf und Ab des Arbeitsmarktes oder an zeitweise zyklische Arbeitslosigkeit gewöhnt. Doch wie verzweifelt war die Lage, sobald kein Job mehr in Sicht war, die kläglichen Ersparnisse aufgebraucht waren und der Kaufmann an

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