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die Politik der Industriestaaten. Denn für die Masse ihrer Bevölkerung hieß die Weltwirtschaftskrise in erster Linie: keine Arbeit. Was konnte es sie schon angehen, daß Wirtschaftshistoriker (und zwar durchaus logisch) darauf verwiesen, daß die Mehrheit der jeweiligen nationalen Arbeiterschaft sogar in den schlimmsten Zeiten Beschäftigung hatte und daß sie während der Zwischenkriegsjahre sogar wesentlich besser lebte als zuvor – weil die Preise fielen und in den schlimmsten Depressionsjahren die Preise für Lebensmittel noch schneller als alle anderen. Das Bild, das jene Jahre prägte, waren Suppenküchen und arbeitslose »Hungermarschierer« aus Siedlungen, in denen die Schornsteine nicht mehr rauchten, und aus Industrienzentren, wo weder Stahl noch Schiffe fabriziert wurden: Demonstranten, die in die Hauptstädte zogen, um jene anzuklagen, die sie für ihre Lage verantwortlich machten. Und die Politiker konnten nicht die Augen davor verschließen, daß 85 Prozent der Mitglieder der Kommunistischen Partei Deutschlands arbeitslos waren – während der Krise hatte diese Partei beinahe soviel Zulauf wie die Nationalsozialisten und in den letzten Monaten vor Hitlers Machtübernahme sogar mehr als diese. Arbeitslosigkeit wurde, nicht überraschend, als tiefe und potentiell tödliche Wunde im Körper der Gesellschaft empfunden. »Abgesehen von Krieg«, schrieb ein Leitartikler der Londoner Times mitten im Zweiten Weltkrieg, »war Arbeitslosigkeit die meistverbreitete, heimtückischste und zersetzendste Seuche unserer Generation: die typische Zivilisationskrankheit der westlichen Gesellschaft unserer Zeit.«16 Niemals zuvor in der Geschichte der Industrialisierung hätte ein solcher Satz geschrieben werden können. Er sagt mehr über die Nachkriegspolitik der westlichen Regierungen aus als langwierige Archivstudien.

      Merkwürdigerweise war unter den Unternehmern, Ökonomen und Politikern das Gefühl von Katastrophe und Orientierungslosigkeit noch stärker ausgeprägt als unter den Massen. Massenarbeitslosigkeit und der Zusammenbruch der Agrarpreise hatten das Volk zwar hart getroffen, doch immer noch glaubte es, daß eine Lösung für diese unerwarteten Härten gefunden werden konnte – ob sie nun von der Linken oder Rechten gekommen wäre. Zumindest wurde das in dem Maße geglaubt, in dem arme Leute überhaupt darauf hoffen konnten, daß man sich um ihre bescheidenen Bedürfnisse kümmert. Doch gerade die Tatsache, daß der Rahmen des alten liberalen Wirtschaftssystems solche Lösungen nicht anbot, machte die Lage der wirtschaftlichen Entscheidungsträger so dramatisch. Sie waren davon überzeugt, daß sie einer unmittelbaren und vorübergehenden Krise nur begegnen könnten, indem sie die dauerhafte Basis für eine blühende Weltwirtschaft zerstörten. Zu einer Zeit, als das Welthandelsvolumen innerhalb von vier Jahren (1929–32) um 60 Prozent gefallen war, glaubten viele Staaten, daß sie immer noch höhere Barrieren errichten müßten, um ihre nationalen Märkte und Währungen gegen die weltwirtschaftlichen Orkane schützen zu können. Dabei wußten sie sehr wohl, daß sie damit gleichzeitig das weltweite System des multilateralen Handels demontieren würden, auf dem, wie sie glaubten, der Wohlstand der Welt beruhte. Der Grundpfeiler dieses Systems, der sogenannte »Meistbegünstigungsstatus«, tauchte in beinahe 60 Prozent der 510 Wirtschaftsverträge, die zwischen 1931 und 1939 geschlossen wurden, nicht mehr oder nur noch in eingeschränkter Form auf (Snyder, 1940).17

      Die unmittelbaren politischen Konsequenzen dieser traumatischsten Periode in der Geschichte des Kapitalismus werden wir später betrachten. Ihre wichtigste langfristige Implikation kann jedoch mit einem Satz schon hier benannt werden: Die Weltwirtschaftskrise zerstörte den wirtschaftlichen Liberalismus für die Dauer eines halben Jahrhunderts. 1931–32 schufen Großbritannien, Kanada, das gesamte Skandinavien und die USA den Goldstandard ab, der bislang immer als Basis für einen stabilen internationalen Wechselkurs gegolten hatte; 1936 machten es ihnen dann sogar die leidenschaftlichsten Anhänger des Goldwerts, die Belgier, Holländer und schließlich sogar die Franzosen nach.18 Mit einem beinahe schon symbolischen Akt schuf Großbritannien 1931 auch den Freihandel ab, der für die Identität der britischen Wirtschaft seit den 1840er Jahren genauso bedeutend war wie die amerikanische Verfassung für die politische Identität der USA. Großbritanniens Rückzug von den Prinzipien des freien Handels in einem einzigen weltwirtschaftlichen System beschleunigte damals nur noch die Flucht in den nationalen Protektionismus. Genauer: Die Weltwirtschaftskrise zwang die westlichen Regierungen, ihre jeweilige Staatspolitik mehr an sozialen denn an wirtschaftlichen Überlegungen auszurichten. Denn die Gefahren, die die Unterlassung einer solchen Politik mit sich brachte, waren bedrohlich: eine Radikalisierung der Linken oder, wie sich in Deutschland und anderen Staaten zeigen sollte, der Rechten.

      Also halfen die Regierungen auch der Landwirtschaft nicht mehr einfach nur durch Schutzzölle gegen die ausländische Konkurrenz – obwohl dort, wo dies zu den Gepflogenheiten gehört hatte, die Zollbarrieren nun noch höher angesetzt wurden. Wahrend der Depression wurde die Landwirtschaft subventioniert, indem die Preise für Landwirtschaftsprodukte garantiert und Überschüsse aufgekauft wurden oder, wie in den USA nach 1933, indem die Bauern Geld dafür bekamen, nicht zu produzieren. Viele der bizarren Paradoxe der »Gemeinsamen Agrarpolitik« der Europäischen Gemeinschaft – die in den siebziger und achtziger Jahren dazu führen sollten, daß immer kleinere Minderheiten von Bauern durch immer höhere Subventionen den Bankrott der Gemeinschaft herbeizuführen drohten – sind auf diese Maßnahmen während der Weltwirtschaftskrise zurückzuführen.

      Was die Industriearbeiter betrifft, so wurde nach dem Krieg »Vollbeschäftigung«, also die Eliminierung von Massenarbeitslosigkeit, zum Schlüsselbegriff der Wirtschaftspolitik in den Staaten des reformierten demokratischen Kapitalismus, deren gefeiertster Prophet und Pionier der britische Ökonom John Maynard Keynes war (1883–1946). Das Keynesianische Argument für die Beseitigung von permanenter Massenarbeitslosigkeit war ökonomischer wie politischer Art. Keynesianer behaupteten zu Recht, daß die Nachfrage, die das Einkommen einer vollbeschäftigten Arbeiterschaft mit sich bringen würde, einen höchst stimulierenden Effekt auf eine daniederliegende Wirtschaft haben würde. Doch der eigentliche Grund, weshalb diesem Prinzip der steigenden Nachfrage schließlich eine derartige Priorität eingeräumt wurde, war, daß Massenarbeitslosigkeit als politischer und sozialer Explosivstoff verstanden wurde – ganz so, wie es sich während der Wirtschaftskrise herausgestellt hatte. Und die Überzeugung von der Richtigkeit dieses Prinzips war derart mächtig, daß viele Beobachter (darunter auch der Autor) nach dem erneuten Auftreten von Massenarbeitslosigkeit vor allem während der schwerwiegenden Depression in den frühen achtziger Jahren insgeheim erwarteten, daß sie unweigerlich zu sozialen Unruhen führen müßte; und alle waren überrascht, als dies nicht geschah (siehe Vierzehntes Kapitel).

      Das lag natürlich hauptsächlich an einer anderen prophylaktischen Maßnahme, die während, nach und als Konsequenz der Weltwirtschaftskrise getroffen worden war: die Errichtung moderner Wohlfahrtssysteme. Wen könnte es überraschen, daß die USA ihr Sozialversicherungsgesetz (Social Security Act) im Jahr 1935 verabschiedet haben? Wir haben uns so an die Vorherrschaft von ambitionierten Wohlfahrtssystemen in den kapitalistischen Industriestaaten gewöhnt – mit einigen Ausnahmen, etwa Japan, die Schweiz und die USA –, daß wir vergessen, wie wenig »Wohlfahrtsstaaten« im modernen Sinn vor dem Zweiten Weltkrieg überhaupt existiert haben. Sogar die skandinavischen Staaten waren gerade erst dabei, ihn aufzubauen. Der Begriff »Wohlfahrtsstaat« kam überhaupt erst während der vierziger Jahre auf.

      Das Trauma der Weltwirtschaftskrise wurde noch von der Tatsache verstärkt, daß sich das einzige Land, das lautstark mit dem Kapitalismus gebrochen hatte, als immun gegen sie zu erweisen schien: die Sowjetunion. Während der Rest der Welt stagnierte, jedenfalls überall dort im Westen, wo der liberale Kapitalismus herrschte, war die Sowjetunion mit den massiven und rasanten Industrialisierungsmaßnahmen ihres neuen Fünfjahresplans beschäftigt. Von 1929 bis 1940 konnte sich die sowjetische Industrieproduktion zumindest verdreifachen. Sie stieg von 5 Prozent der weltweiten Industrieproduktion im Jahr 1929 auf 18 Prozent im Jahr 1938, während der gemeinsame Anteil der USA, Großbritanniens und Frankreichs in derselben Zeit von 59 Prozent auf 52 Prozent fiel.19 Und noch viel gewichtiger: In der Sowjetunion gab es keine Arbeitslosigkeit. Solche Leistungen beeindruckten ausländische Beobachter aus allen ideologischen Ecken, darunter auch jenen kleinen, aber einflußreichen sozioökonomischen Touristenstrom, der in den Jahren 1930–35 ständig nach Moskau floß. Diese Polittouristen waren von den Leistungen der Sowjetunion derart fasziniert, daß sie offen zutage tretende Primitivität und Ineffizienz der sowjetischen Wirtschaft oder

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