Скачать книгу

noch bevorstanden, kamen ihr endlos öde vor.

      »Mach doch nicht so ein Gesicht!«, hatte Mireille zu ihr gesagt, als sie zum Bahnhof fuhren. »Wir sehen uns im nächsten Jahr wieder; außerdem schreibe ich dir.«

      Sophie hatte genickt, aber sie glaubte nicht, dass Mireille ihr Versprechen halten würde. Sie hatte gewiss anderes zu tun, um auch noch ans Briefeschreiben zu denken. In ihrem Leben war so ein Aufenthalt in Zürich gewiss ohne Bedeutung. Lange Zeit behielt Sophie das Bild der jungen Französin deutlich in Erinnerung, wie sie ihr noch aus dem Abteilfenster des anfahrenden Zuges zuwinkte. Sie sah ihr Lächeln, den zerzausten Haarschopf, das Khakihemd, das vom Rucksack zerknautscht war . . .

      Groß war ihre Überraschung, als sie knapp eine Woche später eine Postkarte aus Brüssel erhielt, dann eine zweite aus Amsterdam. Nach einem Monat traf ein langer Brief aus Arles ein. Die Ferien waren auch für Mireille zu Ende, und sie schilderte acht Seiten lang, was sie auf ihrer Reise erlebt hatte. Sie war also ein Mädchen, das sein Wort hielt, und auch ein Mädchen, das gerne Briefe schrieb! Da Sophie ebenfalls gerne Briefe schrieb und erzählte, was sie erlebte und was sie bewegte, ergab sich bald ein großer Briefwechsel zwischen Zürich und Arles.

      Kurz nach Ostern kam der Brief, der bei Sophie eine drei Monate lange fieberhafte Ungeduld auslöste: Mireille lud sie ein, den Monat Juli auf dem »Mas de la Trinité« in der Camargue zu verbringen!

      »Ich sprach mit Tante Justine über dich, und da schlug sie mir vor, dich doch einzuladen. Im »Mas« ist viel Platz, und wir haben oft Gäste. Komm! Von morgens bis abends werden wir reiten. Du brauchst keine Angst zu haben, Tante Justine wird dir ein Pferd geben, das keine Launen hat. Du wirst auch meinen Bruder Alain kennen lernen. Da fällt mir ein, ich zeigte ihm dein Foto und fragte ihn, wie er dich findet. Er antwortete: ›Nicht besonders!‹ Mädchen interessieren ihn überhaupt nicht, meint er, aber ich glaube ihm kein Wort. Na, du wirst ja selbst sehen . . .«

      Nicht ohne Herzklopfen las Sophie ihren Eltern Mireilles Brief vor, wobei sie die Stelle, die Alain betraf, ausließ. Schließlich ging das niemanden etwas an. Natürlich war die Einladung wieder einmal für Mama eine gute Gelegenheit, Bedingungen zu stellen. »Grundsätzlich haben wir nichts dagegen. Aber deine Ferien in der Camargue hängen davon ab – das kannst du dir ja denken –, ob man in der Schule mit dir zufrieden ist. Schreib Mireille, dass du noch nicht endgültig zusagen kannst.«

      Sophie ärgerte sich über diese Kleinigkeit, aber sie sagte nichts. Ihr Entschluss war aber schnell gefasst. Schon vom nächsten Tag an büffelte sie englische Vokabeln, schwitzte verbissen über der Algebra. Sie arbeitete selbst samstagnachmittags und sonntags, machte ihre Aufgaben, ohne Musik dabei zu hören. Der Erfolg blieb nicht aus: Ihr Zeugnis ergab eine so gute Durchschnittsnote, dass sich die Eltern freudig überrascht zu allem bereit erklärten: Sophie durfte in die Camargue fahren, ja, sie durfte sich neue Jeans kaufen und sogar die Reitstiefel, um die sie schon seit vergangenem Herbst vergeblich gebettelt hatte!

      Die letzten Einzelheiten wurden mit Mireille und ihrer Tante telefonisch besprochen. Selbst aus weiter Ferne klang Frau Colombs Stimme warm und fröhlich. Sie freute sich darauf, sie bald kennenzulernen. Danach krochen die Tage bis zur Abreise wie Schnecken dahin. Sophie konnte es kaum fassen, dass sie nun wirklich morgen reisen sollte!

      »So antworte doch!« Die Stimme der Mutter riss sie aus allen Wolken. »Hast du mich gehört oder nicht?« Mama hatte sich umgezogen; sie trug jetzt eine geblümte Bluse und eine blaue Hose. »Ich sagte, du sollst mich mittags im Büro abholen. Ich komme mit zum Bahnhof, um deine Fahrkarte zu besorgen. Ach ja, fast hätte ich’s vergessen – hier ist noch Geld für deine Einkäufe, aber gib es nicht für unnützes Zeug aus!«

      Mutter ging; morgens hatte sie es immer eilig. Vater ließ sich beim Frühstück Zeit. Er war Typograf, und seine Druckerei lag nur fünf Minuten vom Haus entfernt, sodass er weder die Straßenbahn noch ein Auto benutzen brauchte. Er half Sophie meistens, das Morgengeschirr abzuwaschen und die Küche in Ordnung zu bringen.

      »Sag Papa, leihst du mir deinen Rucksack? Ich habe keine Lust, einen Koffer zu schleppen.« Vater besaß einen schönen roten Trekking-Rucksack mit vielen Taschen.

      »Unter der Bedingung, dass du ihn mir in gutem Zustand zurückbringst, nicht mit tausend Flecken wie das letzte Mal.«

      Sophie blieb allein in der Wohnung zurück. Sie wusch sich die Haare und trocknete sie mit dem Fön. Eine halbe Stunde später war sie auf dem Weg in die Innenstadt, um in den Kaufhäusern zu stöbern. Sie probierte ein halbes Dutzend Jeans an, bis sie die richtigen fand: dunkelblaue, enge Röhren mit einem Knopfverschluss. Dann entdeckte sie im Ausverkauf ein Paar tolle Westernstiefel mit flachen Absätzen. Nur die Geschenke bereiteten Kopfzerbrechen! Schließlich kaufte sie für Mireille einen Silberring, der mit einem Vögelchen verziert war, und für Alain einen Schlüsselanhänger.

      Pünktlich fand sie sich im Versicherungsbüro ein. Der Mutter gefielen die Stiefel, aber sie rümpfte die Nase, als Sophie ihre Jeans zeigte. »Bist du sicher, dass das deine Größe ist? Man könnte meinen, du hättest sie in der Kinderabteilung gekauft!«

      »Beim Zuknöpfen muss ich den Bauch ein bisschen einziehen«, gab Sophie zu. »Aber glaub mir, alle Jeans dehnen sich beim Tragen aus.«

      Die Mutter sah nicht gerade überzeugt aus. Sie schien jedoch in nachsichtiger Stimmung zu sein. Nachdem sie die Fahrkarte besorgt und für Sophie etwas französisches Geld gewechselt hatte, schlug sie Sophie vor, eine Pizza zu essen. Für Sophie war das ein richtiger Festtag!

      Danach ging Mutter ins Büro zurück, und Sophie begab sich nach Hause, um ihre Sachen zu packen. Sie breitete auf dem Boden Wäsche und Socken aus. Der blaue Bikini vom vorigen Jahr war ein bisschen verschossen, aber in der hellen Sonne würde man das kaum merken. Am Abend brauchte sie eine volle Stunde, um den Rucksack sorgfältig zu packen. Mutter kam alle paar Minuten herein und bestand darauf, dass sie früh schlafen ginge. Der Zug nach Avignon fuhr schon um sechs Uhr fünfzig. Aber Sophie fand keinen Schlaf. Sie wälzte sich im Bett herum, hörte eine Uhr Mitternacht schlagen, dann ein Uhr. Als sie die Müdigkeit trotz der Aufregung übermannte, schlief sie so tief, dass der Wecker vergeblich rasselte. Ihr Vater musste an die Tür donnern, um sie aus dem Schlaf zu reißen. »Aufstehen, Sophie! Sonst fährt noch der Zug ohne dich ab!«

      Das wäre eine Katastrophe! Sophie sprang aus dem Bett und zog sich in aller Eile an. Der Kopf wirbelte ihr. Hatte sie auch nichts vergessen? Das Frühstück stand schon auf dem Tisch, aber die Erregung schnürte ihr den Magen zu. Nur um kein Gerede aufkommen zu lassen, trank sie eine Tasse Milchkaffee und knabberte an einem Stück Brot herum. Mutter machte ihr zwei große belegte Brote, eins mit Wurst, das andere mit Käse. Auch einen Apfel und eine Orange tat sie in die Papiertüte. Vater wartete schon mit dem Autoschlüssel in der Hand, um Sophie zum Bahnhof zu bringen. Die Mutter drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

      »Also: Alles Gute und grüße Mireille von uns. Wenn du angekommen bist, rufe uns an. Und schicke uns ab und zu eine Postkarte.«

      »Ich schreib euch bestimmt, Mama!«

      Unter dem Gewicht ihres Rucksacks keuchend, stolperte sie die Treppe hinunter. Vater hatte bereits den Wagen aus der Garage geholt. Sophie schnallte mit nervösen Fingern die Gurte an.

      »Schnell!«

      Der Vater ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen. »Nur keine Aufregung! Wir haben Zeit.«

      Zu dieser frühen Morgenstunde herrschte wenig Verkehr, und so kamen sie rasch zum Bahnhof. Es dauerte sogar noch zehn Minuten, bis der Zug auf dem Bahnsteig einfuhr. Vater sicherte ihr einen Fensterplatz in einem Nichtraucherabteil.

      »Steig aus!«, rief Sophie immer nervöser. »Gleich fährt der Zug ab!«

      »Darauf warte ich ja«, antwortete Vater gelassen. »Ich habe mir schon immer Ferien in der Camargue gewünscht . . .« Er zerzauste ihr liebevoll die Haare und stieg aus. Sophie beugte sich aus dem offenen Fenster des Abteils. »Fall nicht vom Pferd!«, rief Papa ihr zu, als sich der Zug langsam in Bewegung setzte.

      Sophie winkte ihrem Vater lange zu, so wie Mireille ihr vor einem Jahr zugewinkt hatte. Der Zug fuhr an, immer schneller und schneller, der Bahnsteig

Скачать книгу