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grinste das Mädchen. Sie sprach sehr schnell, mit südfranzösischem Tonfall. Sophie bemühte sich, ihr zu erklären, wie man eine Fahrkarte am Automaten löst.

      »Hätte dich der Kontrolleur erwischt, wärst du sechzig Franken los!«

      »Sechzig Schweizer Franken!« Das Mädchen war entsetzt. »Für so viel Geld kann ich dreimal essen und eine Nacht in der Jugendherberge verbringen!« Dann erzählte sie, dass sie aus Südfrankreich, aus Arles stammte, dem Hauptort der Provence an der Rhônemündung. Mireille Colomb war ihr Name. Sie reiste mit ihrem Zwillingsbruder Alain. Beide hatten ein Jugend-Generalabonnement für das ganze europäische Eisenbahnnetz und schliefen in Jugendherbergen. An jenem Morgen hatte sie sich von ihrem Bruder getrennt, der in Luzern einen Freund besuchen wollte.

      »Alain ist schon in Ordnung, aber er schwärmt die ganze Zeit nur für Fußball. Schon allein bei dem Gedanken, ständig von Toren, Eckbällen und Strafstößen reden zu hören, gehe ich die Wände hoch! Meinetwegen können die beiden jetzt fachsimpeln, wir treffen uns in zwei Tagen in Basel und fahren dann gemeinsam nach Köln weiter.«

      Mireille entfaltete umständlich ihren Züricher Stadtplan. »Siehst du, da ist die Jugendherberge. Ist das weit von hier?«

      »Man muss die Straßenbahn nehmen und dann noch ein ganzes Stück zu Fuß gehen«, sagte Sophie.

      »Dass Jugendherbergen immer am Ende der Welt liegen müssen!«, seufzte Mireille und schob ihren Rucksack zurecht. »Also dann, los! Schließlich muss ich heute Nacht doch in einem Bett schlafen.«

      »Wenn du willst, begleite ich dich«, schlug Sophie vor.

      »Wenn du Zeit hast!«

      »Klar, ich habe Ferien!«

      Bis zur Jugendherberge war es eine gute halbe Stunde. Als sie endlich verschwitzt und aufgelöst ankamen, erklärte ihnen die Herbergsmutter freundlich, aber bestimmt, dass alles besetzt sei. »Du hättest dich vorher anmelden müssen«, sagte sie zu Mireille. Bestürzt stand diese vor der Tür, mit dem schweren Rucksack, dessen Riemen in die Schultern schnitten, einem knurrenden Magen, dem Bedürfnis nach einem WC und einer Dusche.

      »Mensch, was mache ich jetzt? Schweizer Hotels sind sündhaft teuer und in der Auskunft am Bahnhof sagte man mir, dass alle billigen Zimmer schon vergeben seien.«

      Sophie überlegte nicht lange.

      »Du kannst ja bei uns übernachten. Ich muss allerdings erst fragen . . . du weißt ja, wie Eltern sich anstellen.«

      Sie sahen sich nach einer Telefonkabine um, und Sophie rief die Versicherungsgesellschaft an, bei der ihre Mutter arbeitete.

      »Was, du hast das Mädchen in der Straßenbahn aufgelesen, und nun willst du, dass sie über Nacht bei uns bleibt? Aber . . . wann hast du sie denn kennengelernt?«

      »Vor einer halben Stunde . . . «, antwortete Sophie zerknirscht. Der Mutter verschlug es die Sprache.

      »Weißt du denn überhaupt, woher sie kommt und ob sie . . .?«

      »Mama, ich bitte dich! Du kannst sicher sein, sie ist nett . . . «

      »Also gut«, seufzte die Mutter. »Ich verlasse mich auf dein Gefühl. Lad sie zum Abendessen ein, dann werden wir ja sehen. Frage sie, ob sie Käseauflauf mag. Ich bin zu müde, um groß zu kochen.«

      Strahlend brachte Sophie die junge Französin mit nach Hause. Mireille kam bei Sophies Eltern gar nicht schlecht an. Für ihr Alter gab sie sich wirklich ungewöhnlich selbstsicher und war obendrein noch sympathisch, fröhlich und unternehmungslustig. Mireille erzählte, dass ihre Eltern geschieden seien, dass sie mit ihrem Bruder bei der Mutter lebte, die in Arles eine Boutique mit einheimischem Kunstgewerbe führte. Ihr Vater hatte sich wieder verheiratet und wohnte in Nizza. Sie sahen ihn nicht oft. Die Zwillinge besuchten gemeinsam das Gymnasium.

      »Wir sind in derselben Klasse, und das ist unerträglich!«, seufzte sie. »Alain und ich haben einen Altersunterschied von nur zwanzig Minuten. Gott sei Dank bin ich die Ältere, das sichert mir wenigstens einige Vorrechte!«

      Im Laufe des Gesprächs erzählte sie auch von ihrer Tante Justine, die in der Camargue einen »Mas« besaß, ganz in der Nähe von Saintes-Maries-de-la-Mer. »Was ist das, ein ›Mas‹?«, wollte Sophie wissen.

      »Das ist so ein provenzalisches Wohnhaus; besonders die größten Gutshöfe werden so genannt. Viele Hofbesitzer sind Bauern«, erklärte Mireille weiter, »aber Tante Justine ist manadière, das heißt, sie lebt vom Ertrag ihrer Herden.«

      »Züchtet deine Tante Pferde?« Sophie war ganz rot vor Aufregung, als sie danach fragte.

      Mireille nickte. »Nicht nur Pferde. Sie haben auch mindestens vierzig Stiere. Tante Justine sitzt wie ihre Gardians, die Viehhirten, fast den ganzen Tag im Sattel. Seit zwölf Jahren ist sie Witwe. Onkel Renand kam bei einem Autounfall ums Leben; sein Landrover stürzte in einen Wassergraben. Er wurde verletzt, verlor das Bewusstsein und ertrank. Nach seinem Tod übernahm Tante Justine den »Mas de la Trinité«. Alain und ich verbringen die Ferien und fast jedes Wochenende bei ihr. Wir reiten und schwimmen, wie wir gerade Lust haben.«

      »Da kannst du von Glück sagen«, rief Sophie begeistert. Sie wusste, dass die Camargue ein weites Gebiet von Seen, Sümpfen und Ebenen an der Rhônemündung war; sie wusste auch, dass die Camargue als Paradies der weißen Pferde, der Stiere und Flamingos bekannt war. Doch damit endete ihr Wissen. Mireille erklärte ihr, dass die Camargue eigentlich eine Insel sei, die ständig in Bewegung ist, sodass sich die Umrisse und die Wasserarme immerzu verändern.

      Die Eltern hörten aufmerksam zu, während Sophie, die leicht dazu neigte, in den Wolken zu schweben, von einem Pferd träumte, auf dem sie durch die wilde, heiße Landschaft ritt . . .

      »Kannst du reiten?«, hatte Mireille gefragt, als hätte sie Sophies Gedanken erraten.

      »Kaum . . . ehrlich gesagt, nein. Da in der Stadt ist es mit dem Reiten nicht so einfach. Man muss eine Reitschule besuchen, und das kostet viel Geld.«

      Der Vater räusperte sich. Sophie warf ihrer Mutter einen Blick zu, aber diese tat so, als hätte sie nichts bemerkt und sagte in gleichmütigem Ton zu Mireille: »So etwas muss man sich schon verdienen. Sophie ist nicht auf den Kopf gefallen; aber dieses Jahr hat sie sich in der Schule nicht gerade überanstrengt, nicht wahr, Sophie. An sich hatten wir ihr einen Reitkurs versprochen; aber zuerst kommt eben die leidige Schule. Ohne gute Durchschnittsnoten kommt man da nicht durchs Ziel.«

      Sophie stellte die Teekanne geräuschvoll auf den Tisch. »Du weißt genau, dass wir idiotische Lehrer haben. Außerdem hasse ich Mathematik!«

      Mireille blinzelte ihr zu. »Ich auch!« Da mussten beide Mädchen lachen. Die Eltern wechselten einen vielsagenden Blick, während Mireille zum dritten Mal vom Käseauflauf nahm.

      »Hast du ein eigenes Pferd?«, fragte Sophie, um vom heiklen Thema abzulenken.

      »Wenn ich bei Tante Justine bin, reite ich immer Follet, eine fünfjährige Stute. Auch Alain hat sein Pferd; es heißt Caprice, also Trotzkopf, weil es sehr schwer zuzureiten war. Aber der schönste Hengst in der Herde ist Etoile, unser Stern. Leider hat ihn noch niemand geritten, und er wird wohl auch niemals geritten werden.«

      »Warum?«

      »Weil er einen Knacks hat.« Mireille tippte sich an die Stirn. »Als er noch ein Fohlen war, raste ein Betrunkener mit seinem Motorrad in die Herde und machte sich einen Spaß daraus, die Pferde zu erschrecken. Der Idiot verletzte das Fohlen so schwer, dass Tante Justine glaubte, es müsste getötet werden. Etoile hat sich erholt, aber er lässt niemanden an sich heran.« »Und was ist mit dem Kerl geschehen, der dies gemacht hat?«, fragte Sophie.

      »Die Gardians haben ihn verprügelt.« Geringschätzig schloss Mireille: »Er war nicht aus der Gegend. Einer aus der Camargue hätte sich so etwas niemals einfallen lassen.«

      Zwei Tage lang waren Sophie und Mireille unzertrennlich. Mireille zeigte ihrer neuen Freundin die Stadt. Sie schlenderten am Limmatquai entlang, picknickten auf einer Bank am Seeufer und warfen den Schwänen

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