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Nein, jetzt mal ehrlich.“

      „Erst wird abgerechnet“, forderte er, beugte sich vor zum Kuss, der durch mein Ausweichmanöver auf meiner Wange landete. Damit war ich jedoch in Robins Reichweite gelangt und diesmal trafen seine Lippen. Mitten auf meinen Mund.

      „Gemeine Bande!“, schmollte ich und stieß beide von mir.

      „Na ja, weißt du, die Iris war …“, begann Robin nachdenklich, doch Markus fiel ihm ins Wort: „Man soll nicht schlecht über Verstorbene reden. Zusammenfassend könnte man Iris’ Leben als eine Aneinanderreihung von Katastrophen bezeichnen. Wobei sich die Dinge am Schluss zugespitzt haben. Sie war ein gefühlvoller Mensch, der in seiner Naivität und Unentschlossenheit seinesgleichen suchte. Das bisschen Geld, das sie verdiente, reichte hinten und vorne nicht. Ich glaube, ihr Vater hat ihr immer wieder mal was zugesteckt, sonst wäre sie längst auf der Straße gelandet. Kevin, ihren Angetrauten, bekam sie nur zu Gesicht, wenn das Thermometer unter den Gefrierpunkt sank oder wenn er pleite war, denn arbeiten war seine Sache nicht. Wenn sie ihm nichts geben konnte, schlug er sie oder beklaute sie. Als sie endlich die Scheidung einreichte, war es wie eine Erlösung. Und dann kam der Unfall.“ Seine Stimme erstarb traurig.

      Robin nutzte den Moment und erzählte, was er eben schon hatte loswerden wollen: „Iris war herzlich, lieb und blauäugig, romantisch und verträumt. Ich habe sie damals kennengelernt, nachdem sich meine langjährige Freundin per SMS von mir getrennt hatte. Die dumme Kuh, zu feige, um es mir direkt ins Gesicht zu sagen. Derart abserviert zerfloss ich in Kummer und Selbstmitleid. Iris kellnerte zu der Zeit in der Linde. Sie nahm sich meiner an, wenn ich mich hinter leergetrunkenen Biergläsern vor der Welt versteckte. Ihr Lächeln war mein einziger Lichtblick in den Tagen. Fürsorglich drückte sie mich an ihr großes Herz. Wenn Polizeistunde war, half sie mir auf die Beine und brachte mich nach Hause.“ Betroffen machte er eine Pause, dann fuhr er leise fort: „Wir hatten uns angefreundet. Ich bin ihr ewig dankbar für ihre Hilfe. Später, als ich meine Säufer-Mitleid-Selbstzerstörungs-Phase beendet hatte, wurde mir klar, dass wir nicht zusammengehörten. Sie sah das anders und klammerte umso mehr und mit solcher Verzweiflung, dass es für mich unerträglich wurde. Wir trennten uns. Ich versuchte, die unvermeidliche Enttäuschung abzufedern, aber sie nahm es sehr schwer.“

      „Ach was, das meinst vielleicht du“, warf Markus ein.

      „Und Kevin? Wann haben die beiden geheiratet?“

      „In der Hinsicht hielt ich mich auf Distanz. Das war, nachdem wir Schluss gemacht hatten.“

      „Genau, das ist das richtige Stichwort: Schluss! Aus. Feierabend. Pack den Sherlock Holmes mal wieder weg. Nach meiner Buchführung bist du mir noch einen Kuss schuldig“, mahnte Markus.

      „Wenn es sein muss.“ Ich pflanzte ihm einen Schmatzer auf den Mund.

      Er strahlte.

      „Etwas anderes, Janet. Gerade eben haben Robin und ich abgewägt: Wenn wir drei Tage für einen Ausflug haben, könnten wir eine Bodenseerundfahrt machen. Erste Etappe am Freitag von Romanshorn nach Konstanz, dann Samstag bis Friedrichshafen, von da am Sonntag bis Bregenz und mit dem Zug wieder zurück nach Hause. Na?“

      Ich verschluckte mich bei dem Versuch, im Kopf die Geschwindigkeit zu berechnen, die das Schiff zum Bewältigen dieser Tour fahren würde. Bevor ich damit klarkam, setzte sich Dora zu uns und bestellte ein Rivella.

      „Halt. Dora, auch du musst Brüderschaft trinken“, verlangte ich und orderte die zweite Runde Mojitos.

      Dora hatte einen großen Faltprospekt mitgebracht, den sie jetzt auf dem Tisch ausbreitete.

      „Wir hatten auch mal die Idee für einen Ausflug, und als Uschi Teamanlass gesagt hat, hat es bei mir sofort Klick gemacht. Du musst den Prospekt mitbringen, habe ich mir gesagt, und hier ist er. Wie ihr seht, ist es eine Zusammenstellung von Aktivitäten zu allen möglichen Mitarbeiteranlässen. Wir können Pralinen anfertigen, River-Rafting machen oder uns wie die Wikinger verkleiden und in Zelten schlafen.“

      Neugierig geworden, gruppierten wir uns um sie herum und studierten die Angebote. Am Ende würde es wohl auch eine Kostenfrage sein, viele der Angebote waren von einhundert Franken an aufwärts veranschlagt. Das war etwas teuer.

      „Was hältst du von einer Rundfahrt mit dem Schiff?“, fragte ich.

      Markus hakte ein: „Genau. Dora, bevor du gekommen bist, haben wir über eine Radtour gesprochen. Von Freitag bis Sonntag, wäre zeitlich wunderbar passend für eine Fahrt rund um den Bodensee. Wir könnten …“

      Ich starrte ihn mit offenem Mund an. Radtour!

      Dora erklärte, sie fände das Berner Seeland wunderbar, die Landschaft um den Neuenburgersee sei einmalig.

      Ich versuchte zu protestieren, doch da trat Uschi mit Hund Lasso an den Tisch. Ich konnte ihr kaum in die Augen schauen. War das wirklich sie gewesen hinter dem Milchhäuschen?

      So oder so, in jedem Fall sollten alle dasselbe Schicksal teilen, also bestellte ich eine weitere Runde Mojitos, hoffend, sie damit vom Radfahren abzulenken. Aber Markus war einen Tick schneller: „Gut, dass du kommst. Wir haben gerade beschlossen, eine Radtour um den Bodensee zu machen.“

      Woraufhin Dora ihm mahnend mit dem Faltprospekt auf den Kopf klopfte. Und ich entsetzt die Hand hob zum Einspruch.

      „Markus – Bitte! So geht das nicht. Es gibt noch andere Vorschläge.“ Dora warf dazu ihren Prospekt auf den Tisch wie einen Fehdehandschuh.

      Uschi wollte die Angebote sehen und wir breiteten das gefaltete Papier auf dem Tisch aus. Nun wurden die Ideen besprochen, dann wieder verworfen, und mit jedem Drink wurden wir ausgelassener.

      Später wusste keiner wie, aber der Prospekt fing plötzlich Feuer. Unser Griff nach den Gläsern war sinnlos, sie waren ausgetrunken. Bis der Wirt mit einem Eimer Wasser herbei eilte, war schon alles verbrannt.

      „Mist! Egal. Das wichtigste konnten wir uns behalten: Also, da war die Schifffahrt, das kulinarische Erlebnis-Wochenende, oder die kulturelle Wanderung um den Neuenburger-See“, zählte Dora auf.

      Uschi fragte: „Warum fahren wir nicht ins Tessin, die Sonnenseite der Schweiz, ‚Bella Ticino, oder heißt es ‚Bello‘?“

      Robin wollte von Dora über den Neuenburger-See mehr wissen und Markus pries die Vorzüge einer Radtour. Um alle Zweifel auszuräumen gab ich eine weitere Runde in Auftrag.

      Dann ergriff ich die Chance, Dora für meinen Vorschlag einer Schifffahrt zu gewinnen. Aber sie erklärte mir, dass sie schon auf einem Ruderboot seekrank würde. Sie habe das einmal mit ihrem Mann Peter versucht. So kamen wir auf ihn zu sprechen und schweiften ab. Dora erzählte mir mit gedämpfter Stimme von Peters Beziehung mit Iris. Sie habe am Ende nur noch pro forma funktioniert, habe er zugegeben, und lange habe er es einfach nicht übers Herz gebracht, sich zu trennen, weil sie so verletzlich gewesen sei. Er und Dora hätten sich damals bereits heimlich getroffen, erklärte sie. Das ging so lange, bis Iris sie beide an der 1. Augustfeier hinter dem Festzelt ertappte. Vor Schreck habe Dora beinahe Peters bestes Stück abgebissen. „Oh, das war eine heiße Nacht“, schwelgte sie, ohne rot zu werden. „Mein Gott, ist das lange her.“ Ich leerte meinen Mojito in einem Zug, um das Bild loszuwerden.

      Nun zwängte sich Markus zwischen uns: „Janet! Ich habe dich erwischt. Zur Strafe bekomme ich einen Kuss.“

      Danach wurde es noch lauter und vor allem lustiger. Nach einer chaotischen Abstimmung über das Ziel unseres Ausflugs, setzte sich ,Bodensee‘ durch, vor ,Berner Seeland‘ und dem ,Tessin‘.

      „Bodensee hat gewonnen, Bodensee hat gewonnen!“, sang Markus.

      „Gut! Nun zur Feinplanung: Wer hat ein Rad?“

      In unserem Zustand konnte keiner die Frage mit Gewissheit beantworten und wir machten uns auf den Heimweg.

      Immerhin, ein paar Details über Iris und damit über den Fall Furrer hatte ich an diesem Abend ganz nebenbei einholen können. Jetzt, fast vierundzwanzig Stunden später, kam die Erinnerung an diese Details zurück, die sich plötzlich als lebenswichtig

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