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Reglemente. Genau da kam die Behörde ins Spiel, sie würde die Bestimmungen im Sinne der Bürger auslegen.

      Die Mitglieder der Sozialbehörde trafen sich jeden ersten Montag im Monat zur Sitzung. So auch am Abend vor Furrers Auftritt in meinem Wohnzimmer. Im Raum war es stickig warm, was der reibungslosen Abwicklung der Geschäfte nicht gerade förderlich war. Schon den ganzen Tag über hatte eine ungewöhnliche Hitze geherrscht und auch die weit geöffneten Fenster hatten keine Erleichterung gebracht.

      Die Gemeinderätin Uschi hatte den Vorsitz. Sonst immer duschfrisch, hatten sich sogar bei ihr Schweißperlen über den Lippen gebildet. Ursula Brenner, verheiratet mit einem Beamten, schlank mit leichtem Hang zur Auszehrung, war spezialisiert auf Frauenfragen und setzte sich für mehr Gleichberechtigung ein. Ständig um ihre Stellung bemüht, kippte ihr Ton schnell ins Quengelige; wenn das nichts brachte, flossen schnell mal Tränen. Unterstützung holte sie sich bei der Christlichen Volkspartei. Ihr aktueller Familienzuwachs hieß Lasso von Hohenklaue, ein Shetland-Terrier, in den sie furchtbar vernarrt war.

      Der Dienstälteste im Team war Markus Kehl, „Bankkaufmann a. B.“, wie er mit einem Grinsen erklärte, bei dem er nur die Unterlippe verzog. „A. B.“ hieß bei ihm: auf Bewährung.

      „Mit ü-sechzig sucht der Chef immer einen Grund, dich zu zwangspensionieren. Egal ob du drei oder dreißig Jahre für die Firma geschuftet hast, bist du jetzt zu alt, zu teuer und zu unflexibel geworden. Mit dem kleinsten Fehler lieferst du ihm den Steilpass, dich elegant loszuwerden.“ Das ehemalige Nachwuchstalent im Radsport, und immer noch leidenschaftlicher Radler, war geschieden und sprach im Namen der Freisinnig-Demokratischen Partei. Sein kohlschwarzes Haar verdankte er seiner sizilianischen Mutter. Das Bankeroutfit mit blauem Anzug, Hemd und Krawatte umspielte seine ansehnliche Wampe, die er nicht ohne Stolz trug. Bei Sitzungen hängte er sein Sakko über die Stuhllehne, reckte zwischendurch seine Arme und zeigte offen, wo sein Deo versagt hatte.

      Robin Haas, vierundzwanzig Jahre jünger, gelernter Automechaniker, der sich zum Informatiker hatte umschulen lassen, war der Dritte im Team. Er besaß ein Start-up-Unternehmen, bestehend aus einem Lehrling und der Frauenstimme eines Telefonservice-Dienstleisters. Sein Handy klebte ihm in Form eines Headsets ununterbrochen am Ohr, während der Sitzungen tippte er immer wieder verstohlen eine SMS. Ebenfalls der FDP angetan, fühlte er sich verpflichtet, erfolgreich zu sein und der Welt seinen Stempel aufzudrücken. Mit Vorliebe führte er den freispielenden Markt ins Feld und beklagte wiehernde Amtsschimmel. Ständig musste er seine Intelligenz unter Beweis stellen und riss gerne guerillamässig die Gesprächsleitung an sich. Seine Taktik war so einfach wie effektiv: Er quatschte so lange auf die Kontrahenten ein, bis sie überdrüssig einknickten. Am liebsten trug er bügelfreie Polos und Jeans. Auch ihm hatten bei der gestrigen Sitzung die halblangen Locken, die einem Hausdach ähnelten, verschwitzt und welk am Kopf geklebt.

      Dora Battaglia war ein Jahr jünger als er und unsere Finanzvorsteherin. Als Hausfrau und Mutter von drei süßen Kindern und Mitglied der Schweizer Volkspartei wirkte sie dankbar, sich auch außerhalb ihres Haushaltes nützlich machen zu können. Trotz ihres quirligen Naturells gab sie sich bodenständig couragiert, ihre Argumente untermauerte sie gerne mit Rechenaufgaben. In der Hitze der Sitzung war ihr sonst so sprühendes Wesen verdorrt.

      Jüngstes und neuestes Mitglied der Sozialbehörde war ich, Janet, Protokollführerin und keiner Partei zugetan. Für die Linken war ich zu liberal, für die Freisinnigen zu sozial, die Volkspartei mit ihrer Schweizer-Kreuz-Manie gab mir stets das Gefühl, der falschen Religion anzugehören, und die Christlichen überließen mir zu oft den Letztgenannten das Feld. Meine politische Meinung berücksichtigte von allem ein bisschen. Das genügte offenbar auch meinen Wählern.

      Zu Beginn der Sitzung forderte Uschi uns auf, uns kurzzufassen, um mit den Traktanden durchzukommen. Ein fataler Fehler, denn damit war ein schnelles Abhaken der Punkte bereits unmöglich geworden. Robin war nicht einverstanden, Fakten könnten nicht einfach weggelassen werden, um die Sitzung zu straffen, monierte er, man müsse sich schon die Zeit nehmen und alles gegeneinander abwägen und so weiter und so fort. Uschi unterbrach ihn und gestand ihm zu, wichtige Diskussionen nicht unterlassen zu müssen, was Markus Kehl zu der Bemerkung veranlasste, wir verplemperten sowieso viel zu viel Zeit. Wenn sich alle auf die Sitzung vorbereiten würden, wären wir schneller fertig. Das wiederum war das Stichwort für eines von Doras Rechenbeispielen und ich lehnte mich resigniert zurück, denn die nun folgende Diskussion über Belanglosigkeiten war nicht mehr aufzuhalten.

      „Das stimmt, stellt euch vor, wir würden jedes Traktandum sieben Minuten schneller erledigen? Oder besser, um fünf, oder nein, nehmen wir ein Mittel: Also …“

      Uschi zog die Bremse: „Bitte, Dora. Dafür haben wir keine Zeit.“

      Und Robin tröstete: „Du kannst das zu Hause in Ruhe durchrechnen und teilst uns das Ergebnis in der nächsten Sitzung mit. Einverstanden?“

      Dora runzelte die Stirn und bewegte weiter lautlos ihre Lippen, sie rechnete. Dann streckte sie auf wie eine Drittklässlerin: „Ich hab’s: Wenn wir fünfmal …“

      „Dora!“

      „Ist Okay. Mein Mann sagt auch immer: ,A little less conversation, a little more action please‘ das ist von Elvis. Wusstet ihr das?“

      Ich verdrehte die Augen und dachte, ach wie gut, dass niemand weiss, welche Einzeller noch existierten.

      Gleich bei meinem Antritt hatte ich aus diesem Grund einen Vorschlag eingebracht: Anstatt zusammenzukommen könnten wir uns in Zukunft mittels Skype in einer Konferenzschaltung bequem von zu Hause aus zuschalten. Meinen Hintergedanken, dass man bei längeren Diskussionen nebenher andere Dinge hätte erledigen können, verschwieg ich. Dabei hätte es so bequem sein können: Dora hätte ihre Kinder ins Bett bringen können; Uschi mit ihrem Hund Gassi gehen, während sie auf dem Smartphone zugeschaltet blieb; Robin und Markus hätten sich direkt aus dem Restaurant Linde zuschalten und ich nebenher meine Lieblingsserie „Two and a half Men“ schauen können. Doch mein Vorschlag wurde abgeschmettert.

      „Niemals, ich käme überhaupt nicht mehr von zu Hause weg“, hatte Dora protestiert. Und auch Markus war dagegen, da er „dem ganzen elektronischen Zeug“ misstraue, das nur ein weiterer Versuch sei, uns rund um die Uhr zu überwachen und auszuspionieren.

      So waren wir an diesem Abend also gefangen in dem schwülen Besprechungsraum und erst um neun Uhr abends klebte uns das dritte Traktandum unselig an den Händen.

      Markus Kehl schilderte uns die Umstände des von ihm bearbeiteten Falles der Familie Qantado aus Marokko und beantragte zur Verbesserung ihrer Integration den Besuch eines Deutschkurses für die Ehefrau. Darauf brach ein wahres Diskussionsgewitter los, als müsste sich die angestaute Hitze Luft verschaffen.

      Es ging hoch her, wir kamen einer Lösung keinen Schritt näher. Die einen wollten ihm die finanziellen Hilfen kürzen, die anderen ihn zu „echter Arbeit“ bringen.

      Letzteres immerhin versuchte er, das hatte ich herausgefunden und das trug ich meinen verblüfften Kolleginnen und Kollegen jetzt stolz vor. Familienvater Qantado ging verschiedenen Hilfsjobs nach, im Restaurant Linde, im Dorfladen und beim Gemüsebauer. Alles schwarz und schlecht entlohnt. Ich belegte meine Erkenntnisse mit ein paar Fotos, die ich bei der Arbeit von ihm geschossen hatte.

      „Sag mal, spionierst du mir jetzt auch nach?“, argwöhnte Markus, immerhin sei es sein Fall, nicht meiner, und überhaupt. „Warum sagst du mir nichts davon?“

      Die Diskussion ging in eine neue Runde. Dass Qantado schwarzarbeitete, wurde nun gegen ihn verwandt – Beiträge kürzen, Bußgeld verhängen. Robin und ich versuchten dagegenzuhalten, doch das Resultat unserer Abstimmung war niederschmetternd. Die Zuschüsse an die Familie Qantado wurden gestrichen und sie bekamen obendrein eine Busse von dreißig Franken.

      „Super! Qantado kann sich bei Janet bedanken. Das hast du allein, ihm mit deiner Schnüffelei eingebrockt“, brummte Markus.

      Auch ohne diese Tatsache noch einmal vorgesetzt zu bekommen, hätte ich mir vor Wut in den Arsch beißen können.

      Ich musste dringend Dampf ablassen und machte eine Zigarettenpause. Allerdings nicht,

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