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auf der Ladefläche des Lastwagens hin und her zu laufen. Nicht denken. Bewegen. Nicht hinterfragen. Bewegen. Nicht denken, wozu überhaupt dieser Krieg? Nicht denken, was sein wird. Bewegen. Eins. Zwei. Kniebeuge. Eins. Zwei. Kniebeuge. Zählen wie oft man hin und her gegangen ist. Und das Wichtigste: Nicht denken. Nicht hinterfragen. Weitermachen. Eine ganze Generation verbot sich das Denken. Nicht hinterfragen.

      In meinen Gedanken war ich auf einmal viele Jahre später. Der gleiche Mann sitzt in einem schönen Wohnzimmer. Frau und Kind lachen ihm zu. Das ist es wofür ich gekämpft habe, denkt er sich. Dafür? Nicht hinterfragen. Der Krieg ist vorbei. Gott sei Dank. Nie wieder. Und der Soldat versucht die Kriegsbilder aus seinem Gedächtnis zu streichen.

      Ich hingegen, versuchte mir alle Geschichten zu merken. Ich saugte sie richtiggehend auf. Die Bilder aus vergangenen Zeiten kamen mich besuchen. Ich mochte sie. Ich fand sie spannend. Ich fragte mich, wie Menschen in früheren Zeiten gelebt hatten, was sie überleben ließ und was sie geprägt hatte.

      Heutzutage war es ja wirklich einfach zu überleben. Es gab eine eigene Wohnung für jede Familie. Es gab ein gutes Sozialsystem. Keiner musste verhungern oder verdursten. Das war bei meinen Großeltern oder Ur-ur-urgroßeltern anders gewesen.

      Auch im Mittelalter war das Leben sehr mühsam gewesen, wusste ich. Eine Burg oder auch ein Hof, wo alles reibungslos ablief, garantierte damals das Überleben. Diese Erkenntnis hatten mir die Märchen der Gebrüder Grimm vermittelt, die mein ganz persönliches Paradies waren. Ich träumte mit Aschenputtel um die Wette, wünschte mir lange Haare wie Rapunzel oder überlegte wer wohl glücklicher war: Schneeweißchen oder Rosenrot?

      Eines war dabei besonders auffällig: Ich fand mich nie in der Rolle der Hauptperson wieder, nämlich der (unentdeckten) Prinzessin oder der glücklichen Maid, die vom Prinzen gerettet wurde. Ich schlüpfte meist in die Person des Küchenmädchens oder bestenfalls des Stallburschen und bekam dadurch eine ganz besondere Wichtigkeit. Es war eine Rolle, die sich dadurch auszeichnete, dass sie – wie die Magd im Stall – durch ihre Arbeitskraft unverzichtbar war. Wer würde die schmutzigen Töpfe putzen? Wer sorgte dafür, dass die Laken geflickt und genug Essen auf dem Tisch war. Diese Personen waren in ihren Tätigkeiten unverzichtbar.

      Die Aufgaben einer Prinzessin erschienen mir hingegen entbehrlich. Da war es doch weit wichtiger die ungeliebten, mühsamen Arbeiten des Dienstpersonals zu verrichten. Ohne das Gesinde, ohne die kleinen, unzähligen, fleißigen Hände der Knechte und Mägde gab es kein funktionierendes Burgleben. Natürlich brauchte es eine königliche Familie. Ein König musste regieren und er musste sich darum kümmern, dass seine Burg nicht auseinanderfiel. Da hatte er eine Menge zu tun. Und dazu benötigte er vor allem Dienstpersonal und Soldaten, die die Burg verteidigten. Eine Prinzessin schien mir aber in dem Zusammenhang weniger wichtig. Und wofür brauchte es einen Prinzen? Nun, ein Prinz musste irgendwann die Regierung übernehmen, aber wozu waren seine Brüder, seine Cousins, seine Onkels da? Es konnten schließlich nicht alle regieren.

      Ich beschloss, dass ich auf keinen Fall Prinzessin werden wollte. Lieber eine Ritterin, oder noch besser eine liebevolle Magd im Dienst ihrer Herren. Ich wollte mich mit den wirklich wichtigen Dingen des Lebens beschäftigen: kochen, putzen, Kinder großziehen. In meinen Gedanken wurde ich ein unverzichtbarer Teil meines märchenhaften Dienstpersonals und damit auch gleichzeitig unentbehrlicher Teil der Dynastie. Ich war diejenige, die für das Aschenputtel und ihren Prinzen kochte. Ich war die Goldmarie aus Frau Holle (allerdings ohne Goldregen, denn ich wusste ja, dass es den Goldregen erst im Himmel gab). Ich war diejenige, die nachdem der Jäger das Rotkäppchen aus dem Bauch des bösen Wolfes befreit hatte, Steine holte um den Wolfsbauch damit zu füllen. Ich war diejenige, die das Stroh in die Kammer trug, das die Königin in der Rumpelstilzchen-Geschichte zu Gold spinnen musste. Ich putze die Spindel, reparierte das Spinnrad und das Wichtigste: Ich war immer dabei. Ich war dabei, als der Prinz das Dornröschen küsste und ich war dabei, als das vergiftete Apfelstück aus dem Mund des Schneewittchens sprang. Ich war mitten im Geschehen. Mein Leben war aufregend. Ich wusste alles immer aus nächster Nähe und lernte daraus für mein Leben.

      Genauso lebensnah waren mir die Erzählungen der Bibel. Sie berührten mich und lehrten mich das Leben in seiner Vielschichtigkeit wahrzunehmen. Manche Menschen betrachteten die Bibel als etwas Geheimnisvolles, Kompliziertes und vor allem Unberührbares. Aber das Gegenteil war der Fall. Ich fand die Bibel weder geheimnisvoll noch kompliziert. Sie faszinierte mich. Mehr noch, ich fühlte mich verstanden. In den biblischen Geschichten begegnete ich Menschen, die mein Innerstes berührten. Sie waren in die kleinen und großen Herausforderungen des Lebens verstrickt. Es waren Menschen, die Gott begegnet waren und dann versuchten, all das Erfahrene mit eigenen Worten auszudrücken. Von Wundern war in den biblischen Erzählungen die Rede. Es waren Zaubermächte, die Hunger und Tod besiegten, wie bei der Witwe von Sarepta, bei der Elija bewirkte, dass das Mehl im Topf und das Öl im Krug nicht versiegte und darüber hinaus noch ihren Sohn zum Leben erweckte.1

      Das hebräische Volk war in meinem Kopf eine eingeschworene Gemeinschaft, wie ich sie mir für das wahre Leben wünschte. Durch kriegerische Feinde bedroht, fürchteten die Israeliten immer wieder um ihr Leben und waren von Hungersnot oder Krankheiten bedroht. Aber die Geschichten hatten ein Happy End, denn im letzten Moment gab es immer einen überirdischen Helfer. Es war Jahwe, der sich in feindlicher Bedrohung als kriegerischer Gott, als himmlischer Beschützer oder auch nur als kongenialer Ideengeber zeigte und so seinem Volk böse Feinde zu besiegen half.

      Die lebhaften Bilder meiner Phantasie, die von alten Zeiten erzählten, prägten meinen Zugang zu meinen Mitmenschen. Sie thematisierten zwischenmenschliche Konflikte oder zeigten das Entwicklungspotenzial von Außenseitern auf.

      Besonders mochte ich deshalb auch Geschichten über Jesus. Wenn ich diese hörte, dann waren es nicht einfach Erzählungen, sondern die Figuren wurden lebendig und die Begebenheiten lustig und lehrreich. Jesus hatte runde, braune Augen, mit denen er die Menschen liebevoll anblickte und er hatte eine große Nase, die ihm etwas Seriöses verlieh. Natürlich trug er ein langes, weißes Gewand.

      Ich erinnere mich noch gut an die Geschichte des Zachäus,2 so wie i c h sie erlebte.

      Nach einem langen Fußmarsch war Jesus in ein unscheinbares Dorf gekommen. Es war eine Ansiedlung aus kleinen Lehmhütten und viel Wüstensand mitten in Palästina. Eine Gruppe Menschen hatte sich neugierig auf dem staubigen Dorfplatz versammelt, wo Jesus in langem, weißem Gewand stand und predigte. Auch Zachäus wohnte dort. Er war etwas später hinzugekommen und fühlte sich von der kleinen Menge angezogen. Schon aus der Ferne hatte er Jesu Stimme gehört und war ihr gefolgt, denn dieser Mann hatte etwas an sich, das ihn begeisterte und innerlich glücklich machte. Zachäus hatte lange Locken und einen finsteren Blick. Sein Kittel war etwas zu groß, aber er war aus besserem Stoff gemacht. Kleidung war schließlich eine Prestige-Sache. Als er nun in die Nähe seines Hauses kam und sah, dass Jesus dort predigte, wurde er neugierig. Er kletterte auf einen Baum, um Jesus zu sehen.

      Natürlich stand mir damals so eine Art riesiger Christusdorn vor den Augen. Das ist dieser stachelige Baum mit wenigen kleinen Blättern und roten Blüten, der das Fensterbrett meiner Großmutter zierte. Sie erklärte mir damals sehr stolz, dass dies die Pflanze sei, aus der einst die Dornenkrone Jesu gemacht wurde. Dass dieser kleine Strauch aus Madagaskar und nicht aus Israel stammte und erst im 19. Jahrhundert überhaupt woanders bekannt wurde, hinterfragte sie nicht. Es war auch egal. Es war die Dornenkrone, die es ihr angetan hatte.

      Wie gesagt, in meiner Vorstellung kletterte also Zachäus auf diesen Christusdorn und stach sich Finger und Füße blutig. Aber er konnte Jesus sehen und Jesus sah Zachäus. Wie ein alter Kumpel winkte er Zachäus zu und dieser vergaß vor lauter Freude und Aufregung jeden Schmerz und begann hinunterzuklettern. In diesem Moment verfing er sich mit seinen langen Haaren in den Zweigen des Baumes. Hilflos hing er für einen kurzen Augenblick an den Zweigen fest. Was sollte er tun? Fest an den Haaren reißen oder am Baum rütteln? An den Haaren zu reißen schmerzte ziemlich, also riss er verzweifelt mit den Händen und voller Kraft die Zweige ab und sprang mit zerkratztem Gesicht und blutenden Händen auf den heißen Sand (Blasen auf den Füßen!) um in sein Haus zu laufen.

      Das muss ein Bild gewesen sein. Zachäus war vollkommen blutig, verschwitzt und dreckverschmiert und hatte große Dornenzweige

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