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sah meine Tante ungläubig an. Das konnte jetzt nicht aus dem Mund der Wissenschaftlerin Edith von Schelling mit ihrem rationalen, analytischen Verstand gekommen sein. Andererseits hatte sie auch diese irrationale Marotte in Bezug auf elektronische Geräte. Ich atmete bewusst ein und aus, um meine Miene zu kontrollieren. Ich wollte Tante Edith nicht beleidigen, indem ich lachte oder sie ungläubig anstarrte. Musste ich mir Sorgen um die alte Dame machen? Ich sah zu meinem Vater rüber, der ernst aus dem Fenster starrte, ohne auf Ediths Worte zu reagieren.

      „Das ist sicher schwer für dich zu glauben, Lara“, stellte Edith sachlich fest.

      „Ja, das klingt ziemlich absurd.“

      Tante Edith schnaufte hörbar aus. „Thomas, willst du nicht auch etwas dazu sagen?“

      „Nein. Ich denke, wir müssen Lara einfach nur etwas Zeit geben“, antwortete Papa und zog seinen Geldbeutel aus der Tasche, um zu zahlen.

      „Moment“, protestierte Tante Edith. „Wir sind noch nicht fertig.“ Sie sah Vater eindringlich an, bis er sich wieder in seinen Stuhl zurücklehnte.

      „Von mir aus, auch den Rest“, seufzte er.

      Seltsamer kann es nicht werden, dachte ich und war erleichtert, weil das bisher Gesagte für mich nichts mit Mama zu tun hatte, sondern eher mit Tante Edith.

      „Es ist so“, begann Tante Edith, „dass das Talent des wahrhaftigen Schreibens vererbt werden kann. Da deine Mutter diese Gabe in einem ausgeprägten Maß besaß, kann es sein, dass du ebenso veranlagt bist. Du bist in einem Alter, in dem sich dieses Talent zeigt, wenn es vorhanden ist.“ Ich wollte etwas sagen, doch Tante Edith fasste über den Tisch nach meiner Hand und schüttelte den Kopf. „Warte. Ich bin noch nicht fertig. In einigen Wochen führt die Gilde ein Testschreiben durch. Daran dürfen die Menschen teilnehmen, von denen angenommen wird, dass sie begabt sind. Dein Vater und ich wollen, dass du auch daran teilnimmst.“

      „An einem Schreibwettbewerb? Ihr werdet enttäuscht sein“, antwortete ich kopfschüttelnd und konnte den ganzen Irrsinn überhaupt nicht fassen.

      „Nein, nicht an einem Schreibwettbewerb“, korrigierte Tante Edith. „Du nimmst an dem Testschreiben der Gilde teil, damit du erfährst, ob du das Talent deiner Mutter geerbt hast. Wenn du wahrhaftig schreiben kannst, muss deine Gabe geschult werden.“

      Ich sah zu Papa und konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum er meiner Tante dieses Gerede einfach so durchgehen ließ. „Willst du auch, dass ich da mitmache?“

      Er beugte sich vor, den Blick auf die Tischplatte gerichtet, und nickte. „Ja. Vor allem deshalb bist du hier. Ich will nicht, dass du Sophies Eigenschaft geerbt hast. Im Gegenteil, ich hoffe, du versagst bei diesem Test.“

      Das hörte sich so an, als sollte ich bei einem medizinischen Test mitmachen, um zu erfahren, ob ich schwerkrank war.

      „Kein Problem, dann mache ich da mit. Wenn das der eigentliche Grund für meinen Umzug war, kann ich dann gleich nach dem Test zurück nach Indien?“, fragte ich hoffnungsvoll. Ich beschloss, diesem wirren Gerede Glauben zu schenken, solange das für mich bedeuten könnte, dass ich früher nach Indien zurückkam. Doch Vater schüttelte sofort den Kopf. „Das Argument mit der Vater-Tochter-Fernbeziehung gilt ja weiterhin.“

      „Ok. War nur so ein Versuch. Ich will dich nicht im Stich lassen“, erklärte ich. Mit einem Mal hellte sich die Stimmung wieder auf, als hätten die beiden mir ein schweres Vergehen gebeichtet. Erst auf dem Weg nach Hause merkte ich, dass es eine entscheidende Frage gab, die ich dringend beantwortet haben wollte. Tante Edith stieg vor mir die Haustreppe hoch, schloss die Wohnungstür auf und trat ein. Da drehte ich mich zu Papa um und fragte: „Warum erst jetzt? Warum hast du mir nicht früher davon erzählt?“

      Er vergrub seine Hände in den Taschen und überlegte kurz. „Ich wollte, dass du solange wie möglich unbehelligt von dem Talent deiner Mutter und allem, was damit zusammenhängt, aufwachsen kannst. Ich wollte und musste dich schützen.“

      Ich sah ihn erstaunt an. „Eigentlich habe ich nach der Sache mit dem Testschreiben gefragt. Dass du mich wegen dem hierher geschleppt hast. Das mit der komischen Schreiberei ...“

      „Ach so“, fiel mir Papa ins Wort. „Du glaubst, deine Tante hat wirres Zeug geredet?“

      „Eindeutig, ja. Du glaubst doch nicht etwa, Mama war so etwas wie eine wahrhaftige Schreiberin?“

      Papa nahm meine Hände in seine und sah mich ernst an. „Ich weiß vor allem eines, Lara. Ich habe Sophie sehr geliebt. So wie sie war.“ Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. In die Stille platzte Tante Ediths Frage, ob wir unser Gespräch nicht in der Wohnung weiterführen wollten.

       Februar des siebten Jahres mit der Grünen Feder:

      Es war ein Reflex! Ich wartete auf Laras Anruf. Sie war bei ihrer Freundin Sahra und wollte anrufen, um zu sagen, wann ich sie abholen sollte. Ich war unbedacht und schnell. Erst auf dem Display lesen, wer anruft! Tausendmal habe ich mir das vorgebetet. Meine Hand war schneller als mein Gehirn. Ich nahm den Hörer ab und schon schimpfte mir Patros Katsaros ins Ohr. Wann ich endlich die Grüne Feder für die Journalisten in der Türkei einsetze. Viele wurden in den letzten Wochen grundlos verhaftet, weil sie darüber schrieben, was wirklich in dem Land passiert. Ob man sich vor mir in den Staub werfen müsse, bevor ich so gnädig sei, die Macht der Feder für die Freilassung der Journalisten einzusetzen. Er habe schon einige Briefe an den Vorstand mit der Bitte um Unterstützung geschickt. Deren Antwort: Die Federschreiberin ist nicht in der Lage, zu helfen! Katsaros ist ein mutiger, wahrhaftiger Schreiber. Er hat viel bewirkt in seinem Land. Er verachtet mich zutiefst, weil ich unfähig, schwach und feige erscheine. Ich sei eine Schande für die Gilde der Schreiber, schimpfte er. Natürlich muss er das von mir glauben. Etwas anderes darf ich ja nicht sagen. „Die Magie der Grünen Feder laugt mich aus“, lüge ich. „Sie macht mich krank. Ich bin ihr nicht gewachsen.“

      Ich schäme mich, dass ich die Journalisten im Stich lassen muss. Das macht mich wirklich krank!

      Ich zähle die Tage bis zum 31. Oktober. Dann wird die Arundoveridis sich einen neuen Schreiber wählen und ich werde endlich frei sein. Dann rede ich offen darüber, was mich wirklich davon abhielt, den Journalisten zu helfen!

       5.

      

      Die Türglocke schellte dreimal und riss mich aus dem Tiefschlaf. Fünf Uhr morgens. Ich quälte mich aus dem Bett, öffnete die Zimmertür und prallte fast gegen Herrn Späth. Wie aus dem Ei gepellt stand er da und wischte eifrig auf einem Tablet hin und her, das er meinem Vater unter die Nase hielt. „Guten Morgen, Fräulein Ritter. Entschuldigen Sie, dass ich Ihren Schlaf störe“, säuselte er und streckte mir seine Hand entgegen. Ich tat so, als bemerkte ich sie nicht. Vater war ebenfalls fertig fürs Büro. In dem dunklen Anzug, dem weißem Hemd und mit ordentlich frisierten Haaren wirkte er seltsam verwandelt. Lag es an seiner Kleidung oder an Herrn Späth, dass er härter und kälter wirkte als noch vor wenigen Stunden? Papa nestelte an seiner Krawatte, die nicht sitzen wollte. Ich half ihm und fragte dabei, ob etwas passiert sei. „Nein, nein“, antwortete Papa. „Es ist nur, weil die Verhandlungen mit einer Firma am anderen Ende der Welt festgefahren sind. Eine Einigung wäre für unsere Arbeit bei BRAXWORLD äußerst vorteilhaft.“

      „Wie redest du denn?“, fragte ich grinsend und zog den Krawattenknoten nach oben. Papa gab mir einen Wangenkuss und flüsterte dabei: „Das ist der offizielle Herr-Späth-ist-in-der-Nähe-Ton.“ Das gefiel mir. Ich wollte Herrn Späth auch ein bisschen Theater vorführen und fragte, als würde ich mich voll auskennen: „Um was für eine Firma handelt es sich denn?“

      „Herr Doktor Ritter, ich glaube“, kam Herr Späth einer Antwort von Papa zuvor, „es wird Zeit, aufzubrechen. In dreißig Minuten haben Sie den Telefontermin.“ Wollte er Papa daran hindern, zu antworten, oder drängte wirklich die Zeit? Papa sah seinen Assistenten ernst an, zog die Ärmel seines Sakkos zurecht und fragte

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