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Spruch war inzwischen so oft in Tageszeitungen, Internet und Fernsehen wiederholt worden, dass er sogar zu mir vorgedrungen war.

      „Die Ziele sind doch eigentlich großartig!“, lobte mein Vater. „Dafür lohnt es sich doch zu arbeiten.“

      „Bitte jetzt keinen Vortrag“, protestierte ich. Doch da hatte Papa schon das Icon angeklickt. Ein Video zeigte Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, die sich mit ihren Handys per Video-Call unterhielten. Jung und Alt lachten sich von Kontinent zu Kontinent zu oder reichten sich über Staatsgrenzen hinweg die Hände.

      „Ich habe verstanden, Papa“, stöhnte ich und tippte auf das Stoppzeichen des Videos. „Du wirst dort arbeiten. Von mir aus. Aber warum hat dieser Konzern seine Europazentrale ausgerechnet in Regensburg? In einer Provinzstadt am Ende der Welt?“

      Papa streckte sich in seinem Sitz und holte tief Luft.

      Oh je, dachte ich, jetzt kommt noch ein Vortrag. Die Stewardess verstand Papas Gymnastik als Meldung, dass er etwas bestellen wollte und eilte lächelnd auf unsere Sitzreihe zu, doch Papa winkte ab, bevor sie uns erreichte.

      „Also, das ist ganz einfach“, sagte Vater in sachlichem Vortragston. „Charles Braxton hatte persönliche Gründe, Regensburg als Standort für BRAXWORLD auszuwählen. Die Ansiedlung eines IT-Giganten in einer strukturschwachen Region kann sich kein Politiker entgehen lassen. Deshalb bekam Braxton gute Bedingungen für seine Pläne. BRAXWORLD bringt Arbeitsplätze und Steuereinnahmen, die ...“

      „Papa!“, protestierte ich und unterbrach seinen Universitäts-Vorlesungs-Modus. Politik, besonders Wirtschaftspolitik, war nicht gerade das Thema, das mich interessierte. „Ist das jetzt so, dass nur weil dieser Braxton mit Regensburg sentimentale Erinnerungen an seine Großmutter oder seine erste Liebe verbindet, ich dahinziehen muss?“, fragte ich gereizt.

      „Nein! Du ziehst nach Regensburg, weil ich nach Antworten zu dem Unfall deiner Mutter suche. Hast du das vergessen?“

      „Nein“, antwortete ich.

      „BRAXWORLD bietet mir einen attraktiven Arbeitsplatz. Das ist erstmal alles.“

      „Verstanden. Dann habe ich ja mit diesem Braxzeugs nichts zu tun“, stellte ich erleichtert fest.

      Wieder holte Papa tief Luft. Nicht gut, dachte ich sofort. Jetzt kommt die schlechte Nachricht.

      „So ganz stimmt das nicht“, gestand er und klickte einen Button auf dem Monitor an.

      „Braxton bekam, was er wollte und obendrein hervorragende Bedingungen für den Aufbau seiner Modellstadt.“

      „So eine Art Disney World?“, fragte ich amüsiert.

      „Nein, natürlich nicht. Schau dir das erstmal an.“

      Ich beobachtete mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, wie sich eine Textzeile aufbaute:

       „BRAXCITY - Das Modell für die Zukunft!“

      

      „Braxton konnte in Regensburg mit der Europazentrale auch seinen lang gehegten Traum verwirklichen“, sagte mein Vater. „Das gesamte Firmengelände von BRAXWORLD ist eine Art Versuchsstadt der digitalen Zukunft. Hier werden die Computerprogramme für den weltweiten Markt entwickelt und gleichzeitig an und mit den Bewohnern erprobt. Es wird mit Daten experimentiert, die die Bewohner durch ihr normales Leben an das System liefern. Dadurch kann das Verhalten der Menschen in einer zunehmend digitalisierten Lebens- und Arbeitswelt genauestens studiert werden. BRAXWORLD optimiert seine Angebote und …“

      „Ja, ja, schon gut“, unterbrach ich Papas Werbesendung. „Das hört sich richtig gruselig an. Damit habe ich aber nichts zu tun, oder?“

      „Na ja, irgendwie schon“, murmelte mein Vater, beugte sich vor, tippte auf die Tastatur und zeigte auf das Bild einer modernen Wohnsiedlung. Reihen- und Mehrfamilienhäuser in verschiedenen Formen gebaut, quadratische Geschäftsgebäude, breite Fahrbahnen, akkurat geschnittene Rasenflächen, die alle gleich aussahen, irgendwie steril, ohne ein Staubkorn auf der Straße.

      „Das ist Braxcity. Fast alle Mitarbeiter von BRAXWORLD wohnen hier …“, erklärte Papa.

      „Nein! Das kannst du vergessen!“, protestierte ich sofort. Vater legte beschwichtigend seine Hand auf meinen Arm. „Ich war noch nicht fertig mit meiner Erklärung. Also, mit dem Arbeitsvertrag willigt man ein, sein Leben in Braxcity digital überwachen zu lassen. Mit den Daten, die man der Zentrale liefert, werden die Computerprogramme optimiert und weiterentwickelt.“

      „Ich bin keine Laborratte!“, sagte ich etwas zu laut, denn die anderen Fluggäste sahen verwundert zu uns rüber. Vater grinste, als sei ihm ein guter Witz gelungen. „Du wirst nur in Braxcity in die Schule gehen, wie alle anderen Kinder der Mitarbeiter auch. Wohnen werden wir in der Altstadt“, erklärte er.

      Sollte ich jetzt weiter protestieren oder erleichtert sein? Typisch mein Vater. Die schlechte Nachricht verpackte er in das Glanzpapier der guten Nachricht und übergab mir das Paket mit einem Lächeln.

      „Muss das sein? Kann ich nicht auf eine normale Schule in Regensburg gehen?“, fragte ich vorsichtig.

      Mein Vater klappte den Laptop zu und sah mich ernst an.

      „Nein. Mehr konnte ich bei den Verhandlungen nicht rausholen. Dass wir außerhalb des BRAXWORLD-Geländes wohnen, ist bereits ein Entgegenkommen der Firma.“

      „Und wenn du woanders arbeitest? Da kannst du doch genauso nachforschen, was Mamas Unfall betrifft“, entgegnete ich, entschlossen, alles zu versuchen, um mit diesem BRAXWORLD-Zeug nichts zu tun haben zu müssen.

      „Lara, du wirst sehen, dass meine Entscheidung richtig war“, entgegnete er. „Lass dich einfach erstmal auf das Neue ein. Geht das?“

      Ich wälzte diese Flut an neuen Informationen in meinem Kopf hin und her. Was sollte ich jetzt noch ändern? Wir flogen tausende Meter über der Erde auf Frankfurt zu. In Indien hatte ich dem Umzug zugestimmt. Aber nur wegen Mamas Unfall und nur für ein halbes Jahr!

      „Für ein halbes Jahr werde ich es wohl überleben“, sagte ich mir und tippte auf das Startsymbol des Marvel-Superheldenfilms. Maximale Ablenkung!

       Januar des siebten Jahres mit der Grünen Feder:

      

      Charles Braxton war hier! Wieso überrumpelt er mich jedes Mal? Woher weiß er, dass ich allein zu Hause bin? Thomas und ich machen alles, um keine Datenspuren zu hinterlassen! Und dennoch kommt Charles Braxton genau dann, wenn Thomas und Lara für einige Tage in die Berge gefahren sind.

      „Schreib die Arundoveridis für mich!“, verlangte er genauso wie vor drei Jahren. Nein! Ich bin die Federschreiberin! Die Magie der Schreibfeder lässt sich nicht belügen! Sie drückt nur die innersten Gefühle und Gedanken ihrer Schreiber machtvoll aus. Jede Faser meines Körpers wehrt sich dagegen, dem Internetmogul zu helfen, Politik und Gesellschaft zu manipulieren.

      „Schreibst du nicht für mich, darfst du auch nicht für die Gilde schreiben, sonst ...“ Ich weiß, was sonst passiert! Seit drei Jahren lebe ich mit seiner Drohung, die Existenz der Gilde und ihrer Mitglieder zu zerstören. Datenmanipulation und millionenfach geteilte Falschmeldungen über die BRAXWORLD Internetangebote – das sind seine Waffen. Sollte ich auch nur einem verfolgten Journalisten durch ein Schreiben mit der Grünen Feder zur Freiheit verhelfen, würde Braxton das erfahren, behauptet er. Ich glaube ihm. Es gab immer wieder Menschen, die die Macht der wahrhaftigen Schreiber und der Grünen Feder für die Durchsetzung ihrer Ziele missbrauchen wollten. In den Archiven der Gilde kann man unzählige solcher Fälle nachlesen. Meist wehrte die Gilde diese Angriffe erfolgreich ab. Doch Braxtons Methoden durch IT-Kompetenz und Internet sind wirkungsvoller, als jede Bedrohung, mit der die Gilde vorher konfrontiert war. Ein Klick und Millionen User lesen seine intriganten Nachrichten. Wahrhaftige Schreiber brauchen für einen Brief tausendmal länger.

      Peter Jordan Jones,

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