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Ich schnappte mir die regionale Tageszeitung aus Tante Ediths Stapel, biss in mein Brötchen und blätterte zu den Nachrichten aus Regensburg. Ich suchte Veranstaltungstipps, die mich interessieren könnten. Obwohl ich bezweifelte, dass ich allein zu einem Konzert oder in einen Club gehen würde. Aber ein bisschen Orientierung konnte nicht schaden.

      Wenig später schleppte Tante Edith schwer schnaufend Kisten aus ihrem Zimmer in den Flur.

      „Ziehst du wieder aus?“, fragte ich bestürzt.

      „Nein, nein“, ächzte Edith und stellte eine Bücherkiste ab. „Das Zeug muss aus der Wohnung geschafft werden. Wenn der Schnüffler Späth hier wieder auftaucht, will ich sie lieber nicht hier haben.“

      Inzwischen hatte ich mich an die Paranoia meiner Tante gewöhnt. Die Aktion hielt ich für absolut übertrieben, sagte aber nichts, weil Frau Doktor sowieso nicht auf mich hören würde. Die Kisten erinnerten mich an unsere Umzugskisten. Wann die wohl eintreffen würden? Ich sehnte mich nach meinen persönlichen Sachen. Doch der Inhalt von Ediths Kisten lenkte mich schnell ab.

      Ich stöberte darin und fand alte ledergebundene Bücher, Pergamentrollen und überquellende Papiermappen.

      „Sind das Schriftsachen, an denen du gerade etwas untersuchst?“, fragte ich.

      Tante Edith packte in ihrem Zimmer eine weitere Kiste. „Ja, das eine oder andere“, antwortete sie gedankenverloren. Ihr Blick tastete die drei mit Schreibblöcken und Notizbüchern überladenen Tische ab. Zwei Regalfächer waren nun leergeräumt. „Ich glaube, ich habe alles“, stellte sie zufrieden fest.

      Meine Hand strich über den Rücken des Buches, das Tante Edith vorhin vor Herrn Späth verstecken wollte. Ich erkannte es an den grünen Schriftzeichen. Vorsichtig zog ich es aus der Kiste. Der braune Ledereinband fühlte sich weich und warm an. Manche Stellen glänzten von den unzähligen Händen, die das Buch in den vielen Jahren seiner Existenz gehalten hatten. Auf dem Einband war mit verschlungenen Schriftzeichen in dunkelgrüner Farbe „Historia Scriptorum“ eingraviert. Ich fuhr mit den Fingern leicht über die Gravur einer geschwungenen, grünen Schreibfeder, die wie ein Ornament an den Buchstaben lehnte. In dem Augenblick sah ich nur dieses tiefe Grün der Feder, den Glanz reflektierenden Lichtes darauf und ich hätte schwören können, dass sie sich sanft bewegte.

      „Finger weg, Lara!“, befahl Tante Edith und riss mir das Buch aus den Händen. „Wie kommt das denn in diese Kiste! Ich bin schon ganz konfus wegen diesem Schnüffler Späth!“

      Ich schnaubte verärgert. Denn mein Blick war noch ganz auf die Feder fixiert. „Diese Feder ist wunderschön, so plastisch und lebendig, als könnte man sie einfach in die Hand nehmen.“ Tante Edith betrachtete die Gravur auf dem Buchdeckel und schüttelte den Kopf. „Was meinst du, Lara? Das ist einfach nur ein grüner Gänsekiel“, sagte sie schroff.

      Warum war sie so aufgebracht und abweisend? Als ich noch einmal danach griff - ich konnte einfach nicht anders - drehte sich Tante Edith demonstrativ weg, ging in ihr Zimmer zu einer Kommode und schob sie zur Seite. Dahinter tauchte ein Wandsafe auf. Tante Edith tippte den Zahlencode ein. Sie versuchte nicht einmal, das Tastenfeld zu verdecken. Ich erkannte die Ziffernfolge. Es war mein Geburtsdatum. Dann erst fiel Tante Edith ein, den Schlüssel aus einer Schublade der Kommode zu holen.

      „Wie konnte ich nur so leichtfertig sein und das Buch hierher bringen“, schimpfte sie vor sich hin, als sie den Schlüssel in das Schloss steckte. Die Tür sprang auf und Tante Edith legte das Buch hinein.

      „Historia Scriptorum — heißt das: Die Geschichte der Schrift?“, fragte ich, während ich zusah, wie sie den Safe schloss und die Kommode wieder davor schob.

      „So ähnlich. Du hast gut aufgepasst in Latein, was? Es heißt: Geschichte der Schreiber“, antwortete Edith. „Eine Chronik der Schreiber der Gilde. Sag niemandem, dass du es hier gesehen hast. Hast du gehört? Kein Wort!“ Fordernd sah sie mich an, bis ich es versprach. „Geht klar, wenn dir das so wichtig ist. Aber warum? Das ist doch auch nur ein altes Buch, genau wie die anderen hier.“

      „Du mit deinen Fragen“, schnaubte sie und überprüfte den Inhalt der Kisten, bevor sie die Deckel schloss.

      „Sehr schön“, sagte sie endlich. „Lara, geh doch bitte zu den Nachbarn und frage nach, ob Juri Zeit hat, mir zu helfen.“

      „Wir haben Nachbarn! Habe ich voll vergessen. Wer wohnt denn noch alles hier? Wie sind die so?“

      „Braxton hat das Haus komplett gemietet. Extra für uns hat er zwei Wohnungen sanieren lassen. In den zwei Stockwerken über uns sind nur leerstehende Wohnungen und in den Keller möchte ich lieber nicht gehen. Wer weiß, wen Charles da alles vergraben hat.“

      „Tante!“, protestierte ich. „Das ist nicht lustig! Ich hasse Gruselgeschichten!“

      „Tja, dann bist du in dem Haus gut aufgehoben! Es spukt jede Nacht, hast du das noch nicht bemerkt?“, lachte Tante Edith. „Also los, geh jetzt rüber und frag nach Juri.“

      Zu den Dingen, die ich zu hundert Prozent nicht mochte, gehörte, bei fremden Menschen an der Wohnungstür zu klingeln. Aber gut, ich wollte Tante Edith nicht noch mehr reizen.

      „Stankiewicz“ stand auf dem Klingelschild der Wohnung gegenüber. Mir war die Wohnungstür mit dem Namen vorher gar nicht aufgefallen. Als sich die Tür auf mein Klingeln hin öffnete, stand ein untersetzter Mann mit Halbglatze vor mir. Die Träger seiner Arbeitshose hingen runter und sein Shirt hatte Ölflecken. Er sah mich mit eisblauen Augen aus einem rundlichen Gesicht freundlich an und erkundigte sich, was ich wolle.

      „Ich bin Lara Ritter und wohne seit ein paar Tagen nebenan“, stellte ich mich vor. „Meine Tante möchte etwas wegräumen und fragt, ob ein Juri Zeit hat, ihr zu helfen.“

      „Frau von Schelling braucht Hilfe? Aber ja, natürlich!“, antwortete der Mann sofort und rief etwas in einer fremden Sprache in die Wohnung hinein.

      Ein Junge trat aus einem Zimmer in den Flur. Er war etwas älter als ich, groß und schlank. Die wirren dunkelblonden Haare umrahmten seine kantigen Gesichtszüge. Er war komplett schwarz gekleidet, was ihn hart und kalt erscheinen ließ. Schon auf den ersten Blick wirkte er arrogant. Am liebsten hätte ich behauptet, ich hätte mich geirrt und Tante Edith bräuchte gar keine Hilfe. Dann hätte sich dieser Juri sofort in Luft auflösen können.

      „Entschuldigung, ich habe mich nicht vorgestellt“, sagte der untersetzte Mann mit rollendem Akzent. „Mein Name ist Pjotr Stankiewicz und das ist mein Sohn Juri.“ Er wischte seine Hand an der Hose ab und hielt sie mir entgegen.

      „Hallo“, murmelte ich, während ich sie schüttelte.

      Als Juri vor mir stand, musste ich leider feststellen, dass dieser Typ die Herzen aller meiner Freundinnen in Indien zum Schmelzen gebracht hätte. Nicht weil er so charmant wirkte, sondern wegen seiner blauen Augen. Die hatten irgendwie etwas freundliches und passten gar nicht zu seiner großspuriger Ausstrahlung. Juri unterhielt sich mit seinem Vater auf Russisch, wie ich jetzt vermutete. Als Herr Stankiewicz ihm auf Deutsch erklärte, wer ich sei, veränderte sich Juris Miene schlagartig. Aus gelangweilter Gleichgültigkeit wurde feindselige Kälte. Wie konnte es sein, dass ich einem Menschen, mit dem ich noch kein Wort gewechselt hatte, am liebsten einen Tritt gegen das Schienbein verpasst hätte? Bisher hatte ich nie ein Problem mit arroganten Schnöseln wie ihm gehabt. Ich ignorierte sie. Aber dieser Typ brachte es fertig, dass ich innerlich meine Krallen schärfte, um sie jederzeit wirkungsvoll gegen ihn einsetzen zu können.

      Ich musste ziemlich dämlich ausgesehen haben, als Juri grußlos an mir vorbei über den Flur in unsere Wohnung marschierte. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen, mit der Absicht, wortlos in mein Zimmer zu verschwinden. Aber leider hielt mich Tante Edith auf. Sie erklärte Juri die Situation mit Herrn Späth von heute Morgen und dass die Bücher in den Kisten besser oben aufgehoben seien. Was ging ihn das überhaupt an?, ärgerte ich mich.

      „Habt ihr euch schon bekannt gemacht?“, fragte Tante Edith. „Das ist Lara Ritter“, stellte sie mich vor.

      „Ja, alles klar“, nuschelte

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