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kultureller Art sind eine Sackgasse. Selbst wenn gewisse Tendenzen auszumachen sind: So wenig wie es den introvertierten Schweizer gibt, gibt es den extrovertierten Amerikaner oder die introvertierte Asiatin. (Dasselbe gilt auch für die Introversion an sich: Es gibt nicht die oder den Introvertierten.)9 Was »die introvertierte Asiatin« betrifft, relativiert Christine Tan, eine introvertierte Asiatin, in einem Artikel10 den Mythos der introvertierten Asiaten. Sie selbst wurde von einem extrovertierten chinesisch-malaysischen Elternpaar in Kanada großgezogen. Nachdem sie immer wieder mit dem Vorwurf der »introvertierten Asiatin« konfrontiert worden war, begab sie sich auf eine Reise der Selbstfindung nach Asien: zunächst nach Singapur und nach einem Aufenthalt in London nach Schanghai. Heute lebt sie ein ruhiges Leben in Malaysia. Was sie auf ihrer Reise lernte: Es gibt introvertierte Asiaten. Aber auch extrovertierte. Und genau dies wiederholt sich überall auf der Welt. Mit Verweis auf die Art und Weise, wie sich einige chinesische Studenten verhalten oder wie Chinesen feilschen, einen Streit klären oder miteinander plaudern, schreibt sie: »Unterstehen Sie sich, mir zu sagen, dass Asiaten von Natur aus ein schüchterner, introvertierter Haufen sind!«11

      Introversion ist also kein kulturell bedingtes Phänomen. Andererseits beeinflussen das Land und die Kultur, in der wir leben, maßgeblich, wie es Introvertierten im Alltag geht. So finden sich auch in jeder Kultur und jedem Land christliche Gemeinschaften, die stärker oder weniger stark extrovertiert ausgerichtet sind. Und ich wage zu behaupten, dass introvertierte Christen verschiedener Länder und Kulturen mit ähnlichen Herausforderungen zu kämpfen haben.

      Dass ich über Introvertierte schreibe, könnte für einige überraschend sein. »Wieso schreibt Debora Sommer über Introversion? Ich habe sie bei Vorträgen erlebt. Dabei hat sie kein bisschen introvertiert gewirkt.« Solche und ähnliche Reaktionen wären durchaus nachvollziehbar, da sich mein öffentliches Auftreten nicht unbedingt mit der Vorstellung eines introvertierten Menschen deckt. Allerdings können mein Ehemann und meine Kinder ein Lied davon singen, wie ich bin, wenn ich aus dem Rampenlicht zurückkehre. Sie wissen um meine stark introvertierte Seite.

      Das Anliegen für dieses Buch entspringt primär meinem persönlichen Ringen um meinen Lebens- und Berufungsweg. Vor ungefähr eineinhalb Jahren hielt ich in meinem Tagebuch fest, dass folgende drei Adjektive mein Leben und meinen Dienst prägen, herausfordern und begrenzen wie keine anderen: weiblich, introvertiert und hochsensibel. Die Auseinandersetzung mit jedem dieser Adjektive hat mich viele schlaflose Nächte gekostet, mich letztendlich aber auch einen großen Schritt weitergebracht. Nach jahrelangem Ringen um meine Rolle und meinen Dienst als Frau im christlichen Kontext setzte ich mich als Nächstes intensiv mit dem Thema Hochsensibilität auseinander. Und nun ist das dritte Adjektiv an der Reihe: introvertiert. Genau wie die Weiblichkeit und Hochsensibilität ist auch die Introversion ein Teil von mir. Sie berührt den innersten Kern meiner Persönlichkeit und somit alle Lebensbereiche. Auch mein Christsein. Und genau dieser Aspekt liegt mir ganz besonders am Herzen, weil ich hier eine große Not feststelle.

      Introvertiertes Christsein

      Schweren Herzens habe ich in den vergangenen Monaten zahlreiche Aussagen von introvertierten Christen gelesen, die zum Schluss kamen, sie hätten in einer christlichen Gemeinde nichts verloren. Oder schlimmer noch, dass man mit einer solchen Persönlichkeit vermutlich gar kein echter Christ sein könne. Neulich sprach ich mit einer Christin, die vehement abstritt, introvertiert zu sein, obwohl es für mich ihrer Beschreibung nach offensichtlich schien. Als ob es etwas ganz Schlimmes wäre, als »introvertiert« entlarvt zu werden. Dies zeigt, wie wichtig und dringend notwendig Aufklärungsarbeit in diesem Bereich ist. Introvertiert zu sein, ist keine Schande, sondern vielmehr eine wunderbare Gabe, die es zu entdecken und zu entfalten gilt. Mit diesem Buch möchte ich introvertierten Christen, die an sich zweifeln, eine Stimme geben und Mut machen. Leise Menschen – wie Sylvia Löhken Introvertierte auch gern in ihren Büchern12 bezeichnet – haben besondere Fähigkeiten, brauchen aber auch besondere Rahmenbedingungen, um diese Fähigkeiten und Gaben kraftvoll auszuleben.

      Als stark introvertierte und hochsensible Christin in den frühen Vierzigern habe ich schon diverse Facetten dieser Thematik durchlebt und durchkämpft. Als Pfarrerstochter und spätere Pfarrersfrau sind mir die Erwartungen, denen Introvertierte in einer christlichen Gemeinschaft ausgesetzt sind, bestens vertraut. Trotz aller Herausforderungen bin ich heute wieder aktives Mitglied einer christlichen Gemeinde. Gott hat mich in den vergangenen zwanzig Jahren einen Weg geführt, der mich wiederholt vor die Entscheidung gestellt hat, mich ängstlich zurückzuziehen oder aber eine Horizonterweiterung zu wagen. Obwohl ich stark introvertiert bin und mich die Begegnung mit Menschen viel Mut und Energie kostet, sehe ich einen Teil meines Lebensauftrags darin, anderen Menschen zu dienen. Zum Beispiel, indem ich Referate, Schulungen oder Predigten halte oder Lobpreiszeiten leite. Das Tagebuchschreiben und die Autorentätigkeit gehören zu meinen kostbarsten Lebensoasen. Hier schöpfe ich besonders viel Lebensenergie, da ich mein Leben schreibend bewältigen kann. Auch die Leitung und Betreuung eines Fernstudiums13 entspricht zu einem großen Teil meiner introvertierten Natur. Trotzdem bleiben immer noch genügend Spannungsfelder übrig, in denen ich in meinen Rollen als Ehefrau, Mutter von zwei lebhaften Teenagern, aktives Gemeindeglied, Vorstandsmitglied, Selbstständige etc. um einen gangbaren Weg zwischen persönlichen Begrenzungen und Auftrag ringe.

      Im Rückblick auf die vergangenen fünfzehn Jahre bin ich bewegt von dem, was Jesus geschenkt und möglich gemacht hat. Er hat mir Türen geöffnet, die ich nie erwartet hätte, und ich bin gespannt darauf, wie und wo mein Weg weitergeht. Auf dem Hintergrund dieser persönlichen Erlebnisse möchte ich mit diesem Buch auch andere ermutigen, einen kraftvollen Umgang mit ihrer Introvertiertheit zu finden und sichtbar zu werden. Mein extro-, zentro- und introvertiertes Familienleben ist und bleibt ein tägliches Übungs- und Bewährungsfeld. Dies ist auch der Grund, weshalb sich in diesem Buch sehr viele persönliche Einsichten und Erlebnisse finden.

      Kernanliegen

      Auf dem Hintergrund meiner persönlichen Erfahrungen verfolgt dieses Buch folgende Kernanliegen:

      1. Zunächst möchte ich introvertierten Christen Mut machen, ein Ja zu ihrer introvertierten Art zu finden. Und zwar nicht unbegründet, sondern indem sie die verborgene Stärke der Introversion als Geschenk erkennen. Es ist nichts, wofür man sich schämen oder entschuldigen müsste. Im Gegenteil: Es ist ein Schatz, der auch anderen zum Segen werden kann, wenn er sichtbar wird und Introvertierte den Mut aufbringen, andere daran teilhaben zu lassen. Als ich einen introvertierten Bekannten um seine Meinung zu einigen Aussagen in diesem Buch bat, schrieb er mir: »Schon nur zu wissen, dass jemand ein Buch darüber schreibt, hilft meiner Seele – ich fühle mich endlich ernst genommen.« Das hat mich zutiefst bewegt. Es wird höchste Zeit, dass introvertierte Christen ernst genommen werden!

      2. Ausgehend von dieser Erkenntnis möchte ich introvertierte Christen dazu ermutigen, ihre introvertierte Komfortzone zu erweitern, damit sie sich auf Gottes Abenteuer mit ihrem Leben einlassen. Ich möchte dazu ermutigen, dass introvertierte Christen ihren ganz eigenen Weg finden, wie sie ihren Glauben und Auftrag in Übereinstimmung mit ihrem introvertierten Wesen leben können. Introversion wird man – genauso wie Extroversion – nie ablegen können. Sie ist seit dem Tag der Geburt da und wird es bleiben.14 Aber wir können daran arbeiten, wie wir mit ihr umgehen, damit ein erfülltes, zufriedenes Leben, das uns und anderen zum Segen dient, möglich wird.

      3. Und schließlich möchte das Buch auch Nicht-Introvertierten Einblick in die Denk- und Lebensweise introvertierter Menschen geben und sie für das oft ungenutzte Potenzial introvertierter Menschen sensibilisieren. Besonders in Teams und somit auch in der christlichen Gemeinde kann eine konstruktive Zusammenarbeit von Introvertierten, Zentrovertierten (der Begriff wird in Kapitel 1 auf den Seiten 33–34 erklärt) und Extrovertierten ein großer Gewinn sein. Es wäre fantastisch, wenn in christlichen Gemeinschaften neu erkannt würde, wie kostbar diese ergänzende Vielfalt ist.

      Den Kernanliegen zufolge richtet

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