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der Situation: Ich bin ein Engländer in New York – gesungen in England? Was den Künstler wohl dazu bewegt hat, dieses Lied in sein Repertoire aufzunehmen? Ist er vielleicht gar kein Engländer, sondern ein Ausländer – a legal alien, ein rechtmäßiger Fremder? Hat er – falls er gebürtiger Engländer ist – vielleicht schon mal eine vergleichbare Situation im Ausland erlebt? Oder kennt vielleicht auch er jenes Gefühl, sich in der eigenen Heimat fremd zu fühlen? Energisch gebiete ich meinem inneren Gedankenkarussell Einhalt. Möglicherweise hat sich der Sänger all diese Gedanken gar nicht gemacht, sondern war schlicht und einfach überzeugt von dem Song und seiner positiven Wirkung auf die Passanten.

      Während wir am Quai zum Musiker aufschließen, neigt sich der Song bereits dem Ende zu. Die Musik tanzt mit dem Frühlingswind um die Wette und versinkt in der Geräuschkulisse des geschäftigen Aprilmorgens. Gebannt lausche ich den letzten Worten des Liedes: Be yourself no matter what they say. – Sei du selbst, egal was die anderen sagen. Erst als der Straßenmusiker in meine Richtung schaut, fällt mir auf, dass ich die Einzige bin, die stehen geblieben ist. Schnell eile ich meinem Sohn nach, der sich schon wundert, wo ich geblieben bin. Federleichte Klänge und Worte, aber so unfassbar schwer und gewichtig in der Umsetzung …

      Nichtsdestotrotz will ich dranbleiben und weiter an mir arbeiten. Ich will mehr und mehr wagen, ich selbst zu sein. Und ich möchte auch andere dazu ermutigen, genau das zu tun. Die Vorstellung davon, was geschehen könnte, wenn ganz viele Introvertierte damit beginnen, ihrer Persönlichkeit entsprechend zu leben und zu handeln (auch und ganz besonders im christlichen Kontext), beflügelt meine Schritte und pulsiert durch die Zeilen dieses Buches.

      Debora Sommer, Strengelbach (Schweiz), im Juli 2017

      EINLEITUNG

      Als zwei Monate nach unserer Israelreise im Januar 2012 Susan Cains Buch Quiet – The Power of Introverts in a World That Can’t Stop Talking1 erschien, war nicht abzusehen, was dieses Buch weltweit auslösen würde. Es war in der Tat eine nicht geringe Überraschung, als sich die attraktive Amerikanerin, die als erfolgreiche Anwältin an der Wall Street gearbeitet hatte, als Introvertierte zu erkennen gab und damit unter anderem ihren Rücktritt aus jenem Berufsfeld begründete. Quiet (Still) ist ein Plädoyer für die Stärke und Kraft der Introversion, die bis heute – so Cain – von vielen Menschen verkannt wird. Mit ihrem Buch wollte sie in erster Linie Vorbehalte gegenüber Introvertierten entkräften. »Unsere Schulen, Arbeitsplätze und religiösen Institutionen sind für Extrovertierte gemacht, und viele Introvertierte glauben, mit ihnen stimme etwas nicht und sie sollten versuchen, als Extrovertierte ›durchzugehen‹. Diese negative Voreinstellung führt zu einer kolossalen Verschwendung von Talenten, Energie und letztlich von Glück.«2

      Mit ihrem Buch über die stille Hälfte der Menschheit landete Susan Cain einen Volltreffer.3 Das Buch wurde in vielen Ländern zum Bestseller. Mehr als drei Jahre hielt es sich gar auf der prestigeträchtigen The New York Times-Bestsellerliste. Cains Buch wurde in den vergangenen fünf Jahren in sechsunddreißig Sprachen übersetzt.4 Tausende von Menschen rund um den Globus haben sich seither der Stillen Revolution5 angeschlossen. Es besteht kein Zweifel: Introversion ist ein globales Thema. Introversion macht nicht halt vor den unterschiedlichsten Nationalitäten!

      Soziale Netzwerke als Weltcafé

      Dies bestätigt auch ein Blick in die sozialen Netzwerke. Seit einigen Jahren folge ich mit großem Interesse den Beiträgen einiger Introversionsseiten auf Facebook, zum Beispiel Introverts are Awesome (»Introvertierte sind fantastisch«). Diese Seite wurde im Jahr 2011 von einer introvertierten jungen Frau ohne bestimmte Absicht ins Leben gerufen. Heute (im Mai 2017) zählt ihre Facebook-Seite rund eine halbe Million Fans weltweit! Gar über zwei Millionen Menschen folgen den Bildern und Zitaten auf Introvert Problems (»Probleme der Introvertierten«). Auch Seiten wie Introvert Nation oder Introvert, Dear6 sind rege besucht.

      Reaktionen auf einen Beitrag im Herbst 2016 haben mich dermaßen überrascht und bewegt, dass ich eine Menge Screenshots auf meinem Smartphone gespeichert habe. Leider habe ich in meiner Faszination vergessen festzuhalten, zu welcher Facebook-Seite dieser Beitrag gehörte, und ich konnte es nachträglich nicht mehr feststellen. Ganz beiläufig wurde am Ende des Posts in die (eher passive) Runde der Introvertierten gefragt: »Hey, wo kommt ihr denn eigentlich her?« Und dann ging es los … Tausende von Menschen rund um den Globus meldeten sich innerhalb kürzester Zeit zu Wort: Apapa aus Nigeria, Sushmita aus Indien, Rookeya aus Südafrika, Mauri aus Finnland, Miguel aus Südkalifornien, Eleonora aus Italien, Beth aus einem Vorort von Chicago, Jagadish aus Nepal, Elin aus Schweden, Syahnaz aus Singapur, Ole aus Norwegen, Zsófia aus Ungarn, Frits aus Holland, Kerry aus Australien, Janet aus Schottland, Joe aus England, Gaby aus Deutschland und – um noch ein letztes verblüffendes Beispiel zu nennen – Rene von der Kenai-Halbinsel in Alaska. Viele von ihnen öffneten ihr Herz und erzählten, wie es ihnen als Introvertierte erging in ihrem Umfeld, ihrem Land, ihrer Kultur. Andere äußerten ihre große Dankbarkeit für diese Gruppe, die ihnen das Gefühl gab, nicht so einsam zu sein. Ich lag auf dem Sofa, als ich mich durch diese Flut von Beiträgen scrollte. Dabei liefen mir Tränen über die Wangen, weil mich dieses globale Zusammentreffen auf seltsame Weise anrührte.

      Das Zeitalter von Web 2.0 eröffnet dem »Volk der Introvertierten« ganz neue Möglichkeiten, sich zu sammeln. Nicht zuletzt deswegen, weil viele Introvertierte die schriftliche Kommunikation bevorzugen. Dies erinnert mich an den englischen Slogan, den ich neulich auf einem T-Shirt im Internet gesehen habe (ja, es gibt tatsächlich Artikel für Introvertierte!): Introverts unite – separately in your own homes (»Introvertierte, vereinigt euch – alle separat, in euren eigenen Häusern«)! Dieser Slogan kommt tatsächlich nicht von ungefähr. Social Media machen aus der Welt ein Dorf. Die sozialen Netzwerke werden zum virtuellen Marktplatz oder Weltcafé. Dies birgt selbstverständlich Gefahren, aber (und ganz speziell für Introvertierte) auch ganz viele Chancen! So ist dieses globale »Dorfwissen« auch maßgeblicher Bestandteil dieses Buches, indem vieles mit einfließt, was mir im Laufe der vergangenen Wochen, Monate und Jahre im Netz begegnet ist.

      Die Rolle der Kultur

      Introversion ist global und doch gibt es kulturelle Gegebenheiten, die das Leben von Introvertierten vereinfachen oder erschweren. So ist es zumindest in diversen Büchern und Artikeln zu lesen. Anne Heintze schreibt beispielsweise in ihrem Buch Auf die leise Weise, dass introvertierte Menschen in Asien sehr geschätzt werden.7 Dies liege besonders an deren Zurückhaltung und der damit verbundenen Bescheidenheit, die dort nicht nur als angenehm, sondern auch als Erfolg versprechend eingestuft werde. In der asiatischen Kultur hätten das Stetige und Stille von jeher einen höheren Stellenwert gehabt. Ebenso Qualitäten wie Hingabe, Konzentration, Entschlossenheit und Achtsamkeit.

      Wiederholt begegnete mir die Äußerung, dass Amerika ein sehr extrovertiertes Land sei, in dem es Introvertierte schwer hätten. Nicht zuletzt deshalb, weil extrovertiertes Verhalten viele begeistert. Großbritannien und nordische Länder wie Schweden, Norwegen und Dänemark werden hingegen oft als introvertiertenfreundlicher beschrieben. In der kulturellen Diskussion kommt verwirrend hinzu, dass die extrovertierte Art häufig positiv, die introvertierte Art hingegen negativ assoziiert wird. So schwärmte etwa die Bloggerin und Fotografin Andrea Monica Hug nach einem dreiwöchigen Aufenthalt in Los Angeles von der unglaublichen Herzlichkeit und Nächstenliebe der Amerikaner. Zurück in der Schweiz musste sich Hug erst wieder an ihre Heimat gewöhnen: »Ich fühlte mich in L. A. mehr zu Hause als hier. Die Schweizer sind so introvertiert und distanziert – das ist schlimm.«8 Undifferenzierte Aussagen dieser Art sind alles andere als hilfreich. Denn genau mit solchen Vorurteilen sehen sich Introvertierte konfrontiert. Im Gegensatz zu den lebensfreudigen, freundlichen, hilfsbereiten und großzügigen Extrovertierten werden Introvertierte nicht selten als unfreundlich,

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