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verkleidet, bei uns hier oben angekommen war. Später sollte offiziell verlautbart werden, dass ein Mann mit einem Messer – einige würden behaupten, einen orientalischen Dolch erkannt zu haben – auf einen mit dem Schutz des Museums beauftragten Polizeibeamten losgegangen wäre, nachdem dieser darauf bestanden hätte, einen Blick in den Rucksack des Mannes zu werfen. Ein zweiter Polizist hätte daraufhin auf den Angreifer geschossen und ihn an drei Stellen seines Körpers (darunter, als schwerste Verwundung, in den Bauch) getroffen. Der Beamte, den der Attentäter angegriffen hatte, trug mehrere Stichverletzungen davon, in denen ein hinzugezogener Psychologe später die Handschrift der Ziellosigkeit eines in Panik geratenen Menschen wiedererkennen sollte.

      Ungeachtet der Tatsache, dass wir uns die ganze Zeit über in jenem Gebäude befunden hatten, in dem diese Ereignisse stattfanden, erfuhren wir, nicht anders als die Mehrheit der Bevölkerung, erst im Nachhinein aus den Zeitungen und in Nachrichtensendungen Genaueres darüber, so zum Beispiel, dass der Mann bis zu seiner brutalen Attacke nicht den geringsten Anlass zu einer Verdächtigung gegeben hätte. Einem pensionierten Lehrer, der in unmittelbarer Nähe des Ticketschalters eine Zeit lang neben ihm verbracht haben wollte (»Mich interessieren Menschen nun mal mehr als Bilder«), waren keinerlei Anzeichen einer bevorstehenden Eskalation aufgefallen (»Er sah aus wie jemand, der eine strapaziöse Reise hinter sich gebracht hat, um die Kunstwerke in diesem Museum zu sehen«). Keine Spur von Nervosität oder gar einer unterdrückten Wut, wie sie Gewalttätern laut Psychologen unmittelbar vor einer Aggression mitunter anzusehen sind. Wenn überhaupt etwas, würde der pensionierte Lehrer später einem Reporter gegenüber zugeben, dann habe er eine gewisse Traurigkeit an dem Mann festgestellt. Am Tag nach den Ereignissen sollte die Ticketverkäuferin mit ähnlichen Worten zitiert werden. Sie habe den Eindruck gehabt, in den Augen des Mannes die Traurigkeit einer ganzen Nation erblickt zu haben, was ein Boulevardblatt übrigens zum Anlass nehmen sollte, der Angestellten des Museums – anders als dem pensionierten Lehrer – ein Naheverhältnis zu jener Ideologie zu unterstellen, die den Mann, seiner eigenen, späteren Aussage zufolge, zumindest indirekt dazu gebracht hatte, auf die Sicherheitskraft loszugehen.

      Damals – da bin ich mir hundertprozentig sicher – hatte die verwirrte Frau, die angesichts der Vier Weltteile etwas von einem Attentat stammelte, keine Ahnung, was wirklich im Foyer des Museums vor sich ging oder soeben vor sich gegangen war. Nicht einmal der Aufseher war informiert worden. Seine Vorgesetzten hatten ihn mit dem Hinweis auf ein technisches Problem abgespeist, weshalb seine Aufgabe, genauso wie die seiner Kollegen, darin bestand, sämtliche Ein- und Ausgänge der Schausäle im oberen Stockwerk abzuriegeln und die Museumsbesucher um Geduld zu bitten. Zwischen Wanda und mir verursachte der Hinweis auf einen Anschlag, mochte er auch einer wirren Ahnung entsprungen sein, dennoch ein betretenes Schweigen, dem sich, als fänden sie das zur Abwechslung ganz lustig, auch die Kinder anschlossen. Zumindest so lange, bis Konrad, der, von uns unbemerkt, in den nächsten Saal voraus gelaufen war, im Türrahmen erschien.

      »Das müsst ihr euch unbedingt ansehen, das bricht jeden Moment in sich zusammen.«

      Erschrocken blickten wir – ich jedenfalls – zu ihm hin, und kurz meinte ich, in Konrads so unerwartet auftauchendem Gesicht, einer grauen Haarsträhne auf einem Kinderkopf vergleichbar, die Zukunft auf uns zurückblicken zu sehen.

      Unverzüglich setzten wir uns in Bewegung, diesmal ich voran, vor Schreck ganz bleich – ich glaube, ich sah mein bleiches Gesicht während der paar Schritte in den anderen Saal vor mir wie morgens nach einer durchwachten Nacht in meinem Badezimmerspiegel –, dahinter Iggy johlend, als wäre er nach dem Schweigen, das er, ohne so recht zu wissen warum, mit den anderen geteilt hatte, der Stille doppelt so viel schuldig, und Emily, die Tessa bei der Hand genommen hatte, damit Tessa gar nicht erst auf die Idee komme, dem, was Konrad uns zeigen wollte, durch ihre umständliche Art der Fortbewegung etwas von seiner dramatischen Wirkung zu nehmen. Wanda bildete diesmal die Nachhut, als wäre, was sie da drüben zu sehen befürchtete, so lange nicht weiter schlimm, bis jemand sie dazu brächte, es sich anzuschauen. Obwohl selbst beinahe schon im anderen Saal musste ich bei Wandas Geziertheit an Konrad und das Krokodil denken. Wie sich herausstellen sollte, bildete Wanda übrigens gar nicht die Nachhut, das tat die verwirrte Frau. Als hätte die Dynamik unseres Aufbruchs ihren vom Weg abgekommenen Schritten eine neue Orientierung gegeben, schloss sie sich uns unaufgefordert an.

      Konrad erwartete uns im benachbarten Saal wie an den Gestaden eines soeben von ihm entdeckten Eilands, und ich muss gestehen, dass ich ihn noch nie zuvor mit annähernd so stolzem Ausdruck in seinen Augen hinter den Brillengläsern gesehen hatte. Die Besorgnis, mit der er eben noch aus dem Saal, in den er als erster aus unserer Gruppe vorgedrungen war, herübergeschaut hatte, war jeder Menge triumphaler Euphorie gewichen.

      »Der ist schon kaputt, ehe sie ihn fertig gebaut haben.«

      Konrad zeigte auf ein Gemälde, das den Turmbau zu Babel darstellte und mir, da es zu den berühmtesten der Sammlung dieses Museums gehörte, recht gut bekannt war.

      Ein monströses Bauwerk schraubte sich schwerfällig in die Höhe, schien an manchen Stellen bereits vollendet, während woanders noch der Felsen zu erkennen war, aus dem nicht nur die Grundstruktur der Architektur, sondern auch das Material der Ziegel für ihre Verfeinerung gehauen wurden. Die Arbeit schien sich auf verschiedene Baustellen verteilt zu haben, die unabhängig voneinander ihr Soll zu erfüllen trachteten. Der Turm, den man in unmittelbarer Nähe eines Gewässers errichtete, wirkte nicht nur schief, sondern – wie Konrad treffend bemerkt hatte – bereits bei seiner Entstehung von seinem Verfall gekennzeichnet. In der obersten Etage, mit welcher der Turm die Höhe der Wolken erreicht hatte, schälte sich allem Anschein nach noch ein weiteres Gebäude aus seinem Inneren. Seine innere Struktur wiederum, in das die unvollständige Ummantelung zahlreiche Einblicke gewährte, mutete unüberschaubar an. Obgleich die Bautätigkeit auf dem Gemälde zum Stillstand gekommen war, meinte man zu begreifen, dass jedes Stück Fassade, das geschlossen wurde, woanders unweigerlich eine Lücke verursachen würde.

      »Der Turmbau zu Babel«, sagte ich mit einer gewissen Erleichterung in der Stimme, weil Konrad das Bild gemeint hatte und nicht etwa einen im Zusammenbruch begriffenen Flügel jenes Gebäudes, in dem wir offenbar vorläufig festsaßen.

      »Das nenne ich technische Probleme«, meinte Iggy, bei dem die detailliert geschilderte Baufälligkeit erneut ein Gefühl von Ausgelassenheit hervorzurufen schien. Vielleicht, dachte ich mir, ehe ich dazu ansetzte, ein paar Worte über die Legende hinter dem abgebildeten Bauwerk zu sagen, vielleicht weil hier etwas aus der ihm, Iggy, zugeschriebenen Welt des Chaos, der Unordnung und Unaufgeräumtheit, des Nichtbeachtens von Regeln und Außer-Acht-Lassens von Pflichten in einem Bild thematisiert wurde, dem Erwachsene ihre Bewunderung zollten. Für Iggy war eine solche Darstellung des Misslingens offenbar mit einer gewissen Hoffnung verbunden, dass auch für einen wie ihn, der wesentlich häufiger gemaßregelt als gelobt wurde, die Chance bestünde, einmal etwas Eindrucksvolles zustande zu bringen.

      Nachdem alle, inklusive der verwirrten Frau, vor dem Turmbau zu Babel angekommen waren, erklärte ich den Kindern, was sie hier sahen.

      »Mit diesem Turm, der bis in den Himmel reichen sollte, versuchten die Menschen es mit Gott aufzunehmen.«

      »Wollten sie ihn besuchen?«, fragte Emily.

      »Nicht unbedingt, sie wollten ihm zeigen, dass sie zu ebenso beachtenswerten Leistungen imstande sind wie er.«

      Wandas Blick verriet mir, sofern ich ihn diesmal richtig deutete, dass sie es für keine gute Idee hielt, die Kinder ausgerechnet mit der Geschichte vom Turmbau zu Babel von der Frage nach dem technischen Problem und dem Auftauchen der verwirrten Frau und ihrem Gefasel abzulenken.

      »Sind die Menschen jetzt wie er?«

      Schwer zu sagen, ob Emily diese zweite Frage aus ehrlichem Interesse stellte oder weil ihr kindliches Gemüt sich daran gewöhnt hatte, Erwachsene um eine Fortsetzung ihrer Ausführungen zu bitten.

      »Das weiß ich nicht. Über den Versuch, einen solchen Turm zu bauen, war Gott jedenfalls alles andere als erfreut. Er bestrafte die Menschen, indem er sie zwang, fortan verschiedene Sprachen zu sprechen und sich über die ganze Welt zu verteilen.«

      »Blabla.«

      Das

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