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Gesichtern zu lesen, in denen gar keine Bestätigung ihren Niederschlag gefunden hat.

      Wanda und ich verhielten uns eher wie die menschlichen Erwachsenen auf dem Gemälde der Vier Weltteile. Diese nahmen zwar gut drei Viertel der Leinwand ein, waren allerdings ausschließlich miteinander beschäftigt oder hingen irgendwelchen Gedanken nach, starrten vor sich ins Leere.

      »Die vier damals bekannten Weltgegenden und die jeweils wichtigsten Flüsse«, klärte uns Wanda auf, aber das schien im Augenblick niemanden zu interessieren. Mich interessierte es nicht, denn von der Kontroverse, die sich zu ihren Füßen zwischen zwei ihrer Schoßtierchen anbahnte und versprach, ihren eigenen Nachwuchs in Gefahr zu bringen, schienen diese Menschen von Welt nichts zu bemerken. Vier erwachsene Männer mit gepflegtem, wallendem Haar und modischen Rauschebärten sowie vier junge Damen, allesamt leicht bekleidet, zwei von ihnen auf umgestürzte Krüge gelehnt (Iggy: »Die haben sie aber selbst umgeschmissen«, Wanda, deren Hilflosigkeit sich einmal mehr in ihrer Informiertheit bemerkbar machte: »Vielleicht sollen die Krüge auf die Flüsse hinweisen«).

      Eine dunkelhäutige Frau, deren Gesicht sich ziemlich genau im Mittelpunkt des Bildes befand, hatte sich von den anderen abgewandt und blickte, im Schatten der Szenerie schwerer auszumachen als der Rest, aus dem Gemälde heraus, durchbrach also zumindest an einer Stelle die Runde des Desinteresses.

      »Warum schaut uns die dunkelhäutige Frau an?«, wollte Emily wissen, und Iggy – schlagfertig wie es seine Art war – antwortete ihr.

      »Sie schaut gar nicht uns an, sondern jeden, der das Bild betrachtet.«

      »Wahrscheinlich ist das Afrika«, versuchte es Wanda, während ich nach wie vor leise Wut empfand, weil die ignoranten Erwachsenen ihre Kinder und Tiere einem kurz bevorstehenden Gewaltakt überließen und diese Vernachlässigung ihrer Aufsichtspflicht mit klugen Sprüchen (Mein Gott, Wanda!) wettzumachen versuchten.

      »Wieso sollte sie Afrika sein?«

      Mir ging es im Augenblick nur darum, Wandas Besserwisserei zu torpedieren.

      »Na ja, wenn ich an Vier Weltteile denke, unter denen sich zweifellos auch Afrika befindet, dann ist diese Frau die einzige, von der ich weiß, wo sie hingehört«, antwortete Wanda, ein pfiffiges Grinsen auf ihren Lippen, als spielten wir das alles den Kindern im Rahmen eines Bildungsprogramms bloß vor.

      »Liegt darin irgendein Vorteil?«

      Ich hätte das selbst nicht zu beantworten gewusst.

      »Kyra sieht ebenfalls so aus, und die wohnt nicht in Afrika, sondern auf Stiege 5«, steuerte die tapfere Emily bei – nicht unbedingt um sich damit auf meine Seite zu schlagen, obwohl ich das in diesem Moment gerne geglaubt hätte.

      »Ja, natürlich, ich meine ja auch …«

      Allmählich dämmerte Wanda, wohin sie ihre Schlauheit gebracht hatte. »Du«, stammelte sie, an Emily gewandt, »sprichst da jetzt von …«

      Wanda war endgültig in der Ahnungslosigkeit angekommen.

      »Vielleicht ist es auch Stiege 6.«

      »Weißt du… damals kannte man die Welt … noch nicht so …«

      »Zwischen Stiege 5 und Stiege 6 befindet sich nämlich der Lift, deswegen sind die leicht zu verwechseln.«

      Man hätte den Eindruck gewinnen können, das Kind – Emily – spüre, dass sich die Erwachsene – Wanda – selbst in Bedrängnis gebracht hatte, und versuche sie davor zu bewahren, noch tiefer hineinzugeraten, was unweigerlich geschehen würde, würde das Kind der Erwachsenen einfach nur zuhören.

      »Ich kann mich noch an die Irmi aus dem Zwergengarten erinnern.«

      Das kam von Tessa, die abrupt aufgehört hatte, darauf zu achten, ausschließlich auf die Parketten zu treten, als hätte jemand einen Schalter umgelegt und damit sämtliche Markierungen auf dem von Tessa imaginierten Spielfeld zum Erlöschen gebracht. Mir fiel ein, dass Tessa sich der Erlösung eines gemeinsamen Schauderns hingegeben hatte, noch bevor sie das Krokodil gesehen hatte.

      »Der Ali sieht auch so aus«, sagte Konrad. Der Anblick des Krokodils schien ihm nichts mehr auszumachen.

      »Und auf welchem Bild kann man den Ali sehen?«, wollte Iggy wissen.

      »In der Pizzeria Roma«, beeilte sich Konrad, stolz, diesmal sogar eine Folgefrage beantwortet zu haben.

      »Ist das ebenfalls woanders auf der Welt?«

      Das war wieder Iggy, beim Versuch, sich mit dem jüngeren Konrad seinen Spaß zu machen.

      »Klar, die Pizzas kommen aus einem anderen Land,« antwortete Konrad voller Begeisterung, weil er sogar einer dritten Prüfung standhielt.

      Iggy: »Sind das Menschen?«

      Ich: »Menschen aus Afrika?«

      Die kluge Wanda: »Aber das ist doch eine Stadt.«

      Mehr oder weniger wir alle: »Pizza?«

      »Roma.«

      Wanda war gerade mitsamt ihrem Wissen der herrlichsten Missverständlichkeit auf den Leim gegangen, als eine Frau den Saal mit den Vier Weltteilen betrat, der – ohne dass einem von uns Betrachtern klar gewesen wäre, woran nun genau – eine viel tiefer sitzende Verwirrung anzusehen war. Ich sah ihr diese Verwirrung an, Wanda sah sie und erkannte darin wohl eine Möglichkeit, den Holzweg, auf den sie sich begeben hatte, gleich wieder zu verlassen. Emily sah die Verwirrung der vielleicht vierzigjährigen, vielleicht aber auch schon älteren Frau – das ließ sich nicht so genau sagen, als wäre selbst ihr Alter durcheinandergeraten. Natürlich wusste Emily nicht, was sie der Frau da ansah. Konrad sah die Verwirrung, Tessa sah sie und Iggy, dem, stellvertretend für alle Kinder, am ehesten zuzutrauen war, eine Ahnung davon zu haben, dass das, was die Frau verwirrte, sie von den Erwachsenen abrücken ließ und den Kindern ein Stückchen näher brachte. Einige Haarsträhnen hatten sich aus ihrer üblicherweise – da gab es gar keinen Zweifel – perfekt sitzenden Frisur gelöst und baumelten ihr wie lose Kabel in die Stirn. Etwas Farbe war aus dem Verlauf einer Augenbraue ausgebrochen und ließ mich, ganz im Bann der Kinder, daran denken, dass die verwirrte Frau vielleicht ebenso nur hierhergemalt war wie die Figuren auf den Gemälden. Ihre Handtasche hing eher an ihrer Hand als dass sie von dieser gehalten wurde und stand überdies offen, als wolle sie etwas sagen, was die verwirrte Frau, an der die Tasche hing, zu sagen nicht imstande war. Deutlicher als an diesen zugegebenermaßen geringfügigen Mängeln ihrer äußeren Erscheinung war der Frau die Verwirrung an ihren Blicken abzulesen. Anscheinend ziellos sandte sie diese aus, als weise der Raum, in dem sie sich zu befinden glaubte, eine ganz andere Struktur auf als der Schausaal mit den Vier Weltteilen, in den sie sich verirrt hatte. Vielleicht, dachte ich, in diesem Moment wieder erwachsen geworden, hielt sie sich im Geiste noch in jenem Raum auf, in dem sie von der Verwirrung erfasst worden war. Instinktiv musste ich an die technischen Probleme denken und daran, dass wir möglicherweise ebenso verwirrt wären, hätten wir gesehen, was diese Frau gesehen hatte.

      Keiner von uns interessierte sich noch für die Vier Weltteile, fasziniert schauten wir auf die mal hierhin, mal dorthin ausscherenden Schritte der verwirrten Frau, die den Anschein erweckten, sie wolle gleichzeitig in verschiedene Richtungen gehen. Während sie auf uns zusteuerte, trieb etwas sie von uns weg, und obwohl uns einige ihrer Blicke erreichten, hatte ich den Eindruck, sie sehe durch uns hindurch. Als Wanda ihr einen Schritt entgegenkam, blieb die Frau stehen und sagte etwas von einem Anschlag, einem Attentat, richtete ihre Worte allerdings eher an die Figuren auf den Vier Weltteilen als an einen von uns, vielleicht weil etwas ihr durch ihre Verwirrung hindurch riet, sich Kindern gegenüber in Zurückhaltung zu üben. Auf den Vier Weltteilen tummelten sich zwar ebenfalls Kinder, allerdings bestanden die nur aus Pinselstrichen.

      Zu diesem Zeitpunkt hatte keiner von uns eine Ahnung, dass kurz zuvor im Foyer des Museums, gerade mal ein Stockwerk unter uns, ein bewaffneter Kampf stattgefunden hatte, aus dem zwei Menschen schwer verletzt hervorgegangen waren.

      Als wir der Frau vor dem Gemälde mit den Vier Weltteilen begegneten,

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