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mit, dem Colleville gewissermaßen seine Stelle weggenommen hatte; denn Herr Leudigeois, seit zwanzig Jahren städtischer Beamter, hatte als Belohnung für seine langjährigen, Dienste auf die Sekretärsstelle, die Colleville erhalten hatte, gerechnet. So bildeten die Phellions eine Phalanx von sieben zuverlässigen Getreuen; nicht weniger zahlreich war die Familie Colleville, so dass an manchen Sonntagen dreißig Personen im Salon Thuillier zusammenkamen. Thuillier machte auch die Bekanntschaft der Saillards, der Baudoyers und der Falleix, angesehener Leute des Viertels der Place-Royale, die häufig zum Diner eingeladen wurden.

      Frau Colleville war die distinguierteste Dame dieser Gesellschaft, ebenso wie der junge Minard und der Professor Phellion ihre geistig bedeutendsten Männer waren; denn alle anderen, ohne eigene Gedanken, ohne Kenntnisse, aus den unteren Ständen hervorgegangen, waren komische Typen des Kleinbürgertums. Obgleich jedes mühsam erworbene Vermögen gewisse Verdienste zur Voraussetzung hat, war Minard doch nur ein aufgeblasener Ballon. Sich in wilden Phrasen ergießend, Unterwürfigkeit für Höflichkeit und Redensarten für Geist haltend, gab er Gemeinplätze mit einem Aplomb und einer Ungeniertheit von sich, dass das für Beredsamkeit gehalten wurde. Solche Worte, die nichts bedeuten und auf alles eine Antwort sind, wie: Fortschritt, Dampfkraft, Asphalt, Nationalgarde, Ordnung, demokratisches Element, Geist der Einigkeit, Gesetzmäßigkeit, Bewegung und Widerstand, Einschüchterung, schienen bei jeder politischen Phase für Minard neu erfunden zu sein, der dann damit die Sätze seiner Zeitung ausschmückte. Julian Minard, der junge Advokat, litt ebenso unter seinem Vater wie sein Vater unter seiner Frau. Zélie Minard hatte mit dem Reichtum Prätentionen angenommen, ohne je richtig Französisch gelernt zu haben; sie war dick geworden und sah in ihrem reichen Staat wie eine Köchin aus, die ihren Herrn geheiratet hat.

      Phellion, dieses Musterbild eines Kleinbürgers, besaß ebenso viele Vorzüge wie lächerliche Eigenschaften. Ein Subalterner während seiner ganzen Amtstätigkeit, hatte er Respekt vor den sozial Höherstehenden. Deshalb verhielt er sich auch Minard gegenüber schweigsam. Die kritische Zeit der Pensionierten hatte er für seinen Teil vortrefflich überstanden, und zwar in folgender Weise: Niemals vorher hatte dieser würdige, ausgezeichnete Mann seinen Neigungen entsprechen können. Er liebte die Stadt Paris, er interessierte sich für Baufluchtlinien, Verschönerungen, er konnte zwei Stunden lang vor Häusern, die abgebrochen wurden, stehen bleiben. Man konnte ihn dabei überraschen, wie er unerschütterlich, auf seine zwei Beine hingepflanzt, die Nase in der Luft, auf das Herabfallen eines Steins wartete, den ein Maurer oben auf der Mauer mit seiner Brechstange gelockert hatte, und wie er nicht eher vom Platze wich, als bis der Stein heruntergefallen war; und wenn er dann gefallen war, ging er weiter, glücklich wie ein Akademiker über den Durchfall eines romantischen Dramas. Als echte Statisten bei der großen menschlichen Komödie, übten Phellion, Leudigeois und ihresgleichen die Funktionen des antiken Chors aus. Sie weinten, wenn man weinen, sie lachten, wenn man lachen musste, und sangen ihren Refrain zu den öffentlichen Leiden und Freuden, indem sie in ihrem Winkel über die Triumphe von Algier, Konstantinopel, Lissabon, Saint-Jean-d'Ulloa mit triumphierten und ebenso den Tod Napoleons und die verhängnisvollen Katastrophen von Saint-Merri und in der Rue Transnonnain bejammerten und berühmte Leute beklagten, die ihnen völlig unbekannt waren. Nur Phellion zeigte ein doppeltes Gesicht: er teilte seine Ansichten gewissenhaft zwischen der Opposition und der Regierung. Bei Straßenkämpfen besaß Phellion den Mut, vor seinen Nachbarn hervorzutreten; er begab sich nach der Place Saint-Michel, wo sich sein Bataillon versammelte, bedauerte die Regierung und tat seine Pflicht. Vor und während einer Emeute stand er auf Seiten der Julimonarchie; aber sobald ein politischer Prozess eingeleitet wurde, ging er zu den Angeklagten über. Dieses ziemlich unschuldige »Wetterwendische« trat auch bei seinen politischen Ansichten hervor; seine Antwort auf alles war der nordische Koloss. England war für ihn, wie für den alten Constitutionel, eine Gevatterin mit zwei Gesichtern; abwechselnd war es das macchiavellistische Albion und das Musterland: macchiavellistisch, wenn es sich um die Interessen des beleidigten Frankreichs und Napoleons handelte; Musterland, wenn von den Fehlern der Regierung die Rede war. Er billigte wie seine Zeitung, das demokratische Element und lehnte in der Unterhaltung jedes Paktieren mit dem republikanischen Geiste ab. Der republikanische Geist, das war das Jahr 1793, das war die Emeute, der Terror, das Agrargesetz. Das demokratische Element, das war die Entwicklung des Kleinbürgertums, das war die Herrschaft der Phellions.

      Dieser ehrenwerte Alte gab sich immer würdevoll; aus dieser würdevollen Haltung erklärt sich sein ganzes Leben. Er hatte seine Kinder würdig erzogen; er war in ihren Augen immer der Vater geblieben, und er hielt darauf, dass ihm zu Hause Achtung erwiesen wurde, wie man Achtung vor der Regierung und den Vorgesetzten haben soll. Niemals hatte er Schulden gemacht. Als Geschworener schwitzte er Blut und Wasser, um der Verhandlung des Prozesses folgen zu können, und niemals lachte er, selbst nicht, wenn der Gerichtshof, die Zuhörer und der Staatsanwalt lachten. Außerordentlich dienstwillig, opferte er seine Bemühungen, seine Zeit, nur nicht sein Geld. Sein Sohn Felix, der Professor, war sein Idol; er hielt ihn für fähig, Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu werden. Thuillier, ein neutrales Element zwischen der vorlauten Nichtigkeit Minards und der gravitätischen Albernheit Phellions, neigte sich mit seinen trüben Erfahrungen bald auf die eine, bald auf die andere Seite. Er verbarg die Leerheit seines Kopfes hinter Banalitäten, wie er seinen gelben Schädel unter den fadenscheinigen Strähnen seines grauen Haars versteckte, die der Kamm des Friseurs mit außerordentlicher Geschicklichkeit von unten hinaufzog.

      »In jeder andern Karriere«, pflegte er zu sagen, wenn er von der Verwaltung sprach, »hätte ich mir ein ganz anderes Vermögen erworben.«

      Er hatte gesehen, wie das Gute theoretisch möglich, aber praktisch unmöglich war, und wie die Ergebnisse mit den Erwartungen in Widerspruch standen, und er erzählte von Ungerechtigkeiten, Intrigen und der Affäre Rabourdin.

      »Hiernach kann man an alles und an nichts glauben,« sagte er. »Ach, so eine Verwaltung, das ist eine verdrehte Sache; ich bin glücklich, dass ich keinen Sohn habe, der solch eine Karriere einschlagen könnte.«

      Colleville, immer lustig, rund und gutmütig, Witze erzählend und Anagramme machend, war das Bild des tüchtigen, spottlustigen Bourgeois, die Begabung ohne Erfolg, die hartnäckige Arbeit ohne Resultat, aber auch die gutmütige Resignation, der Witz ohne Bosheit und die nutzlose Kunst, denn er war ein ausgezeichneter Musiker, spielte aber nur für seine Tochter.

      Dieser Salon war also eine Art Provinz-Salon, aber von dem Reflex des dauernden Pariser Leuchtfeuers überstrahlt: mit seiner Mittelmäßigkeit, seinen Plattitüden folgte er dem Strom des Jahrhunderts. Das Modewort und die Modesache, denn in Paris verhalten sich Wort und Sache zueinander wie Pferd und Reiter, gelangten erst aus zweiter Hand dorthin. Man wartete ungeduldig auf Herrn Minard, der bei wichtigen Angelegenheiten die Wahrheit wissen musste. Die Frauen im Salon Thuillier standen auf Seiten der Jesuiten, die Männer verteidigten die Universität; aber im allgemeinen hörten die Frauen zu. Ein geistvoller Mann, der die Langeweile solcher Abende hätte ertragen können, würde wie bei einem Lustspiel Molières gelacht haben, wenn er nach langen Diskussionen solche Dinge gehört hätte wie:

      »Konnte die Revolution von 1789 vermieden werden? Die Anleihen Ludwigs XIV. waren ein starker Anstoß dazu. Ludwig XV., ein Egoist, ein Mann von beschränktem Geiste (er hat gesagt: »Wenn ich Polizeileutnant wäre, würde ich die Kabriolets verbieten«), ein liederlicher König, man kennt seinen Hirschpark! hat viel dazu beigetragen, dass sich der Abgrund der Revolution öffnete. Herr von Necker, ein übelgesinnter Genfer, hat den Anstoß dazu gegeben. Das Maximum hat der Revolution sehr unrecht getan. Von Rechts wegen hätte Ludwig XVI. nicht verurteilt werden dürfen; von einer Geschworenenbank wäre er freigesprochen worden. Weshalb hat Karl X. den Thron verloren? Napoleon war ein großer Mann, und die Einzelheiten, die sein Genie bezeugen, sind in. Anekdoten enthalten: er nahm fünf Prisen Tabak in der Minute und aus ledergefütterten Taschen, die in seine Westen eingenäht waren. Er bezahlte alle Rechnungen der Lieferanten; er ging selbst nach der Rue Saint-Denis, um den Preis der Waren zu erfahren. Er hatte Talma zum Freunde; Talma brachte ihm seine Gesten bei, und trotzdem hat er sich immer geweigert, Talma einen Orden zu verleihen. Der Kaiser ist auf Wache gezogen für einen Soldaten, der verschlafen hatte, damit dieser nicht erschossen würde. Deshalb beteten ihn die Soldaten an. Ludwig XVIII., der ein geistvoller Mann war, hat doch darin unrecht getan, dass er ihn mit Herr von Buonaparte anredete. Der Fehler der gegenwärtigen

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