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eines Gießbaches hochreißt. Als sie dies Geständnis vernahm, blickte sie die Bankiersfrau stumpf an. Die Glut des Schreckens dörrte ihre Tränen und ihre Augen blieben starr.

      »Bist du denn auch in einem Abgrund, mein Engel?« fragte sie leise.

      »Meine Leiden werden deine Schmerzen nicht stillen.«

      »Erzähle sie mir, liebes Kind. Ich bin noch nicht so selbstsüchtig, um dir nicht zuzuhören. Wir leiden also wieder gemeinsam, wie in unserer Mädchenzeit?«

      »Aber wir leiden getrennt,« entgegnete die Bankiersfrau schwermütig. »Wir leben in zwei feindlichen Lagern. Ich gehe in die Tuilerien, seit du nicht mehr hingehst. Unsere Gatten gehören zwei entgegengesetzten Parteien an. Ich bin die Frau eines ehrgeizigen Bankiers, eines schlechten Menschen, mein Schätzchen! Du hast einen guten, edlen, hochherzigen Mann.«

      »Oh! keine Vorwürfe,« versetzte die Gräfin. »Um sie zu verdienen, müsste eine Frau den Kummer eines trüben, farblosen Daseins ausgekostet haben und davon befreit sein, um ins Paradies der Liebe einzugehen. Sie müsste das Glück kennen, das man zeitlebens bei einem andern fände, müsste an den unendlichen Gefühlen einer Dichterseele teilnehmen, ein Doppelleben führen, mit dem Geliebten durch den Weltraum fliegen, mit ihm die Welt der Ehrsucht durchmessen, seinen Kummer mitleiden, auf den Flügeln seiner grenzenlosen Sehnsüchte emporsteigen, auf einer ungeheuren Bühne agieren – und zugleich in den Augen der beobachtenden Welt kalt und heiter erscheinen. Ja, meine Liebe, man muss oft ein ganzes Meer in seinem Herzen tragen und dabei, wie wir jetzt, zu Hause auf einem Lehnstuhl beim Feuer sitzen. Und doch, welches Glück, in jedem Augenblick einen ungeheuren Anteil zu nehmen, der alle Fibern des Herzens vervielfältigt und weitet, gegen nichts kalt zu sein, in raschem Laufe mitgerissen zu werden und aus der Menge ein Auge aufleuchten zu sehen, vor dem die Sonne erblasst, jeden Aufenthalt als Störung zu empfinden und Lust zu haben, einen lästigen Menschen zu töten, der uns einen jener seltenen Augenblicke raubt, wo das Glück auch in den kleinsten Adern pocht. Welcher Rausch, endlich zu leben! Ach, Liebste, leben, wo so viele Frauen auf den Knien um Gefühle betteln, die vor ihnen entfliehen! Bedenke, Kind, dass es für solche Gedichte nur eine Zeit gibt, die Jugend. In ein paar Jahren kommt der Winter, der Frost. Ach, besäßest du diese lebendigen Schätze des Herzens und ihr Verlust drohte dir ...«

      Frau du Tillet hatte entsetzt ihr Gesicht in den Händen verborgen, als sie diese furchtbare Litanei hörte.

      »Ich habe nicht daran gedacht, dir den mindesten Vorwurf zu machen, meine Liebste,« sagte sie endlich, als sie heiße Tränen über das Gesicht ihrer Schwester rollen sah. »Du wirfst in einem Augenblick mehr Feuerbrände in meine Seele, als meine Tränen auslöschen könnten. Ja, das Leben, das ich führe, könnte in meinem Herzen die Liebe rechtfertigen, die du mir eben geschildert hast. Ich möchte glauben, wenn wir uns öfter gesehen hätten, stände es mit uns anders als jetzt. Hättest du meine Leiden gekannt, du hättest dein Glück richtig eingeschätzt, hättest mich vielleicht zum Widerstand ermutigt, und ich wäre jetzt glücklicher. Dein Unglück ist ein unglücklicher Zufall, dem ein anderer Zufall abhelfen wird. Ich dagegen lebe in stetem Unglück. Für meinen Mann bin ich der Kleiderständer seines Luxus, das Aushängeschild seines Ehrgeizes, eine seiner befriedigten Eitelkeiten. Er besitzt für mich weder wahre Zuneigung noch Vertrauen. Ferdinand ist hart und glatt wie dieser Marmor,« sagte sie, an den Kaminmantel schlagend. »Er misstraut mir. Alles, was ich für mich erbitten könnte, ist im voraus abgeschlagen, aber was ihm schmeichelt und seinen Reichtum verkündet, brauche ich mir nicht erst zu wünschen. Er stattet meine Zimmer aus, vergeudet Riesensummen für meine Tafel. Meine Leute, meine Theaterlogen, alles Äußere ist vom feinsten Geschmack. Seine Eitelkeit spart nichts. Er würde die Windeln seiner Kinder mit Spitzen besetzen, aber er hört ihre Schreie nicht, errät ihre Bedürfnisse nicht. Verstehst du mich? Ich bin mit Diamanten behängt, wenn ich zu Hofe gehe; in der Stadt trage ich die kostbarsten Sachen, aber für mich habe ich keinen Heller. Frau du Tillet, auf die man vielleicht neidisch ist, die im Golde zu schwimmen scheint, verfügt über keine hundert Franken. Wenn der Vater sich nicht um seine Kinder kümmert, dann noch viel weniger um ihre Mutter! Ach, er hat es mich recht roh fühlen lassen, dass er mich gekauft hat, dass meine Mitgift, über die ich nicht verfüge, ihm entrissen ist. Käme es nur darauf an, Macht über ihn zu gewinnen, vielleicht könnte ich ihn gefügig machen. Aber ich unterliege einem fremden Einfluss, dem Einfluss einer Frau von über fünfzig Jahren, die Ansprüche macht und herrscht, der Witwe eines Notars. Ich fühle es, ich werde erst bei ihrem Tode frei sein.

      »Hier ist mein Leben geregelt wie das einer Königin. Man schellt zu meinen Mahlzeiten wie in deinem Schloss. Unfehlbar fahre ich zu einer bestimmten Stunde ins Bois. Ich werde stets von zwei Lakaien in voller Livree begleitet und muss stets zur gleichen Stunde zurück sein. Statt Befehle zu geben, erhalte ich sie. Beim Ball, im Theater kommt ein Lakai zu mir und sagt: »Gnädige Frau, der Wagen ist vorgefahren.« Und oft muss ich mitten in meinem Vergnügen fort. Ferdinand würde böse werden, wenn ich mich der für seine Frau festgesetzten Etikette nicht fügte, und ich habe Angst vor ihm. Mitten in diesem verfluchten Luxus sehne ich mich zurück und finde, dass unsere Mutter eine gute Mutter war. Sie ließ uns wenigstens die Nächte, und ich konnte mit dir plaudern. Kurz, ich lebte mit einem Wesen, das mich liebte und mit mir litt. Hier dagegen, in diesem prunkvollen Hause, bin ich in einer Wüste.«

      Bei diesem schrecklichen Geständnis ergriff die Gräfin ihrerseits die Hand ihrer Schwester und küsste sie unter Tränen.

      »Wie kann ich dir helfen?« fragte Eugenie leise. »Wenn er uns überraschte, schöpfte er Misstrauen und verlangte zu wissen, was du mir seit einer Stunde erzählt hast. Dann müsste man lügen, und das ist bei einem schlauen und verschlagenen Mann schwer, er würde mir Fallen stellen. Aber lassen wir mein Unglück und denken wir an dich. Deine 40 000 Franken, Liebste, wären nichts für Ferdinand, der mit einem andern Großbankier, dem Baron von Nucingen, Millionen verdient. Manchmal bin ich bei Diners zugegen, wo sie sich Dinge sagen, bei denen man schaudert. Du Tillet kennt meine Verschwiegenheit, und so wird in meiner Gegenwart frei gesprochen; meines Schweigens ist man ja sicher. Nun, mir scheinen Morde auf der Landstraße noch Akte der Nächstenliebe im Vergleich mit gewissen Finanzplänen. Nucingen und er leben davon, dass sie andere zugrunde richten, wie ich von ihrer Verschwendung lebe. Bisweilen besuchen mich arme Opfer, von denen ich tags zuvor gehört habe, was ihnen bestimmt ist, und die sich zu Geschäften hergeben, in denen sie ihr Vermögen lassen sollen. Dann habe ich Lust, wie ein Leonardo in der Räuberhöhle zu ihnen zu sagen: ›Sehen Sie sich vor!‹ Aber was sollte dann aus mir werden? Ich schweige. Dies Prunkhaus ist eine Mördergrube. Und du Tillet und Nucingen werfen die Tausendfrankscheine zur Befriedigung ihrer Launen mit vollen Händen hinaus. Ferdinand kauft in Le Tillet die Stätte des alten Schlosses, um ein neues zu bauen. Er will einen Wald und herrliche Domänen dazu kaufen. Sein Sohn soll Graf werden und im dritten Geschlecht will er adlig sein. Nucingen ist seines Hauses in der Rue St. Lazare überdrüssig und baut sich einen Palast. Seine Frau ist mit mir befreundet ... Ach!« rief sie aus, »sie kann uns von Nutzen sein. Sie ist ihrem Manne gegenüber dreist, sie hat freie Verfügung über sein Vermögen, sie wird dich retten.«

      »Liebe Kleine, ich habe nur noch ein paar Stunden. Gehen wir heute Abend zu ihr, sofort,« sagte Frau von Vandenesse, indem sie sich in die Arme ihrer Schwester warf und in Tränen ausbrach. »Wie kann ich um elf Uhr abends ausgehen?« »Ich habe meinen Wagen.«

      »Was für ein Komplott schmiedet ihr da?« fragte du Tillet, die Tür des Boudoirs öffnend. Er zeigte den beiden Schwestern ein harmloses Gesicht, das von falscher Liebenswürdigkeit strahlte. Die Teppiche hatten seine Schritte gedämpft, und die beiden Damen waren derart miteinander beschäftigt, dass sie das Vorfahren seines Wagens nicht gehört hatten. Bei der Gräfin waren Geist und Klugheit durch das Leben in der großen Welt und die Freiheit, die Felix ihr ließ, entwickelt worden, während sie bei ihrer Schwester durch die Tyrannei ihres Gatten, die der mütterlichen Tyrannei gefolgt war, unentwickelt geblieben waren. Sie sah, dass Eugenie sich durch ihr Erschrecken fast verriet, und rettete sie durch eine kecke Antwort.

      »Ich hielt meine Schwester für reicher als sie ist,« antwortete sie, ihren Schwager anblickend. »Die Frauen befinden sich manchmal in Verlegenheiten, die sie ihren Männern nicht sagen mögen, wie Josefine bei Napoleon, und ich hatte sie um eine Gefälligkeit gebeten.« »Die

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