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zwischen die Lippen geklemmt. Ich fischte mein Dirtbike aus dem dichten Efeuteppich, der sich die Hausseite emporrankte, stieg auf und trat flott in die Pedale, ohne mich auf den Sattel zu setzen.

      Es war klirrend kalt. Die Straßen im Wohnviertel waren düster und nur spärlich beleuchtet und fast keine Autos waren unterwegs. Anstatt auf den Straßen zu bleiben, beschloss ich, die Abkürzung zu nehmen. Ich fegte die Einfahrt der Mathersons hinauf, schnitt quer über ihren Rasen und preschte durch eine Gruppe Hemlocktannen, die mächtig und schwarz bedrohlich vor dem Nachthimmel aufragten.

      Einen Augenblick später ratterte ich auf einem Pfad durch den Wald und meine Zähne klapperten mit der Vibration meines Rads. Der Wald war nicht allzu dicht hier und ließ gelegentlich die Verandalichter der nahegelegenen Häuser durch das Gebüsch blinzeln, sodass ich mich fühlte wie Magellan, dem die Sterne den Weg zeigten. Ich hatte diese Abkürzung bereits unzählige Male benutzt – meistens nachts – doch sie war jedes Mal anders. Der Wald war ständig in Bewegung, ständig im Wandel.

      In flottem Tempo ließ ich die letzten Bäume hinter mir und brauste auf ein offenes Feld, das zwar weitgehend nur aus Buschland und wildwucherndem Wiesenrispengras bestand, doch jemanden auf einem alten Dirtbike mit abgefahrenen Reifen ganz schön ins Kämpfen geraten ließ. Das Feld fiel nach Osten hin langsam in eine kleine, von noch mehr Wald umgebene Senke ab. Ein kleines weißes Farmhaus, das schon solange ich zurückdenken konnte herrenlos war, lag inmitten dieser Senke und wurde in dieser Nacht von einem schweren Nebelschleier verdeckt. Das Einzige, was ich erkennen konnte, war der Schein der einsamen Straßenlaterne am Rand des Anwesens, der wie eine gespenstische gelbe Lichtnadelspitze durch den Nebel stach.

      Meine Freunde und ich nannten es Werwolfhaus, weil es genauso aussah, wie die verfallene Landhütte aus einem Werwolf-Film, den wir uns ein paar Jahre zuvor im Juniper angesehen hatten.

      Hinter dem Werwolfhaus lag das Butterfield-Gehöft.

      Im Winter nach starkem Schneefall tummelten sich auf der Familienfarm der Butterfields immer zahllose Kinder aus der Umgebung, die farbenfrohe Plastikschlitten umherzogen und sich gegenseitig mit eisigen Schneebällen bewarfen. Jetzt in der Herbstzeit aber war der Hof schier überfüllt mit verschiedensten Kürbissen, buntem Mais, Cider in etikettenlosen Plastikflaschen und einer unglaublichen Vielfalt an Obst und Gemüse.

      Am hinteren Ende des Anwesens standen Holstein-Rinder – massige, träge Tiere – und wenn man ein paar Büschel Gras abrupfte, konnte man an sie herantreten und durch die Zaunlatten ihrer Weide füttern, wobei ihre lilafarbenen, schleimigen Zungen aus ihren dampfenden Mäulern schleckten und sich wie die Tentakel eines Oktopus um die Halme schlangen. Während sie fraßen, konnte man die Hände auf das glatte Fell ihrer Flanken legen und fühlen, wie die Hitze von ihren Körpern abstrahlte.

      Ich trat fester in die Pedale. Die Grashalme peitschten gegen meine Schienbeine und ich hielt das Gesicht gegen den eisigen Wind gesenkt. Die Kälte trieb mir Tränen aus den Augen und durch den Gegenwind liefen sie meine Schläfen entlang, wo sie mir kühl an der Haut trockneten. Als ich das Gräserdickicht überwunden hatte und den schummrigen, natriumfarbenen Schein der Straßenlaternen vor mir durch den sich lichtenden Nebel ausmachte, konnte ich getrost wieder ruhiger treten, ohne befürchten zu müssen, dass sich meine Reifen und die Kette im hohen Gras verfingen und mich mit einem plötzlichen Ruck jäh zum Stehenbleiben zwangen.

      Ein Paar Scheinwerfer tauchte in etwa hundert Metern Entfernung zu meiner Linken auf. Kurz darauf hörte ich das keuchende Brummen des Wagens, der sich relativ schnell in meine Richtung bewegte. Zuerst dachte ich mir nichts dabei, denn es war nicht ungewöhnlich, dass jemand, besonders bei Nacht, zum Geländefahren in dieses Feld kam. Stattdessen richtete ich meine Aufmerksamkeit auf die Lichtpunkte der Laternen entlang der Straße vor mir. Das Gras war gefrorenem, holprigem Erdboden gewichen, und es fühlte sich an, als würde ich über den Brustkorb eines gewaltigen Gerippes poltern.

      Der Pick-up scherte seitlich aus und ich verlor seine Scheinwerfer aus dem Augenwinkel, konnte aber weiterhin den Motor hören; seltsamerweise aber etwas lauter als noch einen Moment zuvor. Mir wurde erst klar, dass mich der Wagen tatsächlich verfolgte, als sein Scheinwerferlicht meinen Schatten auf den kalten schwarzen Boden vor mir warf und ihn immer länger werden ließ. Ich konnte förmlich die Hitze der Scheinwerfer auf meinem Rücken spüren.

      Ich riskierte einen Blick über meine Schulter. Es war wirklich ein Pick-up, und sein Fahrer schien ohne Zweifel nicht hier zu sein, um nur zum Spaß Kreise ins Feld zu fahren. Der Wagen war mir dicht auf den Fersen – keine zwanzig Meter mehr entfernt – und kam rasch näher und näher. Ironischerweise hallten mir Mr. Pastores Worte in den Ohren, sofort nach Hause zu gehen und nicht herumzutrödeln.

      Ich blickte wieder nach vorne. Meine Beine pumpten wie eine Maschine und mein Atem keuchte mir stoßweise die Luftröhre empor. Ich hätte schwören können, selbst über das Knurren des Motors hinweg zu hören, wie die Grashalme gegen den massiven Kühlergrill peitschten und die Reifen sich in die kompakte, gefrorene Erde schürften und dabei Steine zu Staub zermalmten.

      Ich hatte fast die Straße erreicht. Aus irgendeiner Lächerlichkeit heraus setzte ich das Erreichen der Straße mit dem eines Freimals beim Fangenspielen gleich, als mir schlagartig und schmerzlich bewusst wurde, dass Pick-ups auf Asphalt sogar noch schneller waren.

      Der Fahrer des Pick-ups ließ den Motor aufheulen. Trotz der Kälte fühlte ich, wie sich Schweißperlen auf meiner Stirn bildeten und dort eiskalt stehen blieben.

      Die Straßenlaternen kamen näher. Durch den Nebel konnte ich die spitzen Giebeldreiecke der nächsten Häuser ausmachen wie die Silhouette eines entfernten Gebirgsmassivs.

      Inzwischen war ich mir sicher: Ich konnte die Hitze des Wagens spüren, der mir im Nacken saß, konnte die von den Reifen aufgewirbelten Staub- und Schmutzpartikel im Licht der Scheinwerfer tanzen sehen. Auch bildete ich mir ein, die winzigen Steinchen und Splitter, die an meine Waden katapultiert wurden, zu spüren.

      Das plötzliche Aufschmettern der Hupe fuhr mir durch Mark und Bein und ich geriet ins Schlingern. Ich verriss den Lenker und mein Vorderreifen krachte über eine Furche im starren Erdboden. Bevor ich wusste, wie mir geschah, wurde ich vom Fahrrad gerissen und landete im Dreck.

      Der Pick-up kam keine zwei Meter von mir entfernt bebend zum Stehen. Dampf stieg aus dem Grill empor und ich konnte den verbrannten Reifengummi riechen. Es zischte, simmerte, klickte. Wie gelähmt vor Angst starrte ich einfach zum Wagen hinauf. Plötzlich öffnete sich die Fahrertür und vor dem Schein der Deckenleuchte zeichnete sich der Umriss meines besten Freundes Peter Galloway ab, der von einem hysterischen Lachanfall geschüttelt wurde.

       »Das«, sagte er und ließ sich aus dem Fahrerhaus des Pick-ups hängen, »war unbezahlbar! Heilige Scheiße! Ich wusste ja gar nicht, dass du so rasen kannst. Ich wette, du hast mich für irgendeinen Irren gehalten, was?«

      »Hätte ich da so falsch gelegen?« Ich stand auf und klopfte mir den Dreck von der Hose. Der Stoff über meinem linken Knie war zerrissen. »Vollidiot. Was zum Teufel machst du da überhaupt? Ist das der Pick-up deines Stiefvaters?«

      Immer noch vor sich hin prustend stieg er aus dem Fahrerhaus herunter und ging zu meinem Rad. Mit einer Schuhspitze hob er den Lenker aus dem Dreck, bis er ihn, ohne sich danach bücken zu müssen, greifen konnte. »Überraschung! Hab gestern nach der Schule meinen Schein bekommen.«

      »Ohne Scheiß? Das ist ja hammermäßig!«

      Gemeinsam hoben wir mein Fahrrad auf die Ladefläche des Pick-ups seines Stiefvaters, dann stiegen wir in die Kabine und schlugen synchron die Türen zu. Er hatte die Heizung volle Kanne aufgedreht und leise Temple of the Dog auf dem Kassettendeck laufen.

      Ohne zu zögern, presste ich meine Handflächen auf die Lüftungsschlitze, um wieder Gefühl in meine tauben Finger zu bekommen. Ich war immer noch völlig außer Atem und mein Herz raste nach wie vor. »Ich kann nicht fassen, dass du jetzt fährst«, gestand ich und fügte hinzu: »Ich kann erst recht nicht fassen, dass dir dein Stiefvater den Wagen überlassen hat.«

      »Ich weiß, cool was?« Peter lenkte den Wagen auf die Straße. Wir waren das einzige Paar Scheinwerfer im dichter werdenden Nebel.

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