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in ihre Richtung, doch wir waren immer noch zu weit entfernt, als dass wir irgendwelche wichtigen Details hätten mitbekommen können. »Was tragen die da? Siehst du es, Angie?«

      »Ja«, antwortete ich. »Sehe ich.«

      Es war lang und weiß. Es war ein Tuch. Es war ein Tuch, das etwas bedeckte. Mir wurde flau im Magen. Ich hatte genug ferngesehen, um zu erkennen, was ich da vor Augen hatte.

      »Oh, heilige Scheiße«, fluchte Peter mit zittriger Stimme. »Das ist ein Mensch.«

      Die Leiche wurde auf einer Stahltrage mit eingeklappten Füßen getragen und von einem einfachen weißen Tuch bedeckt, das teilweise an der Trage angebunden war. Einer der uniformierten Officers hielt eine Hand auf die Mitte des Tuches gedrückt, um zu vermeiden, dass der Wind es trotz der Befestigung aufbauschen konnte.

      Eine Leiche.

      Sie brachten die Trage auf die uns abgewandte Seite des Krankenwagens und verschwanden somit kurz aus unserer Sicht. Als sie am Heck des Krankenwagens wieder zum Vorschein kamen, hatten sie ihre Positionen getauscht.

      Nicht in der Lage, meinen Blick von der Szenerie loszureißen, bemerkte ich, dass der Officer, der seine Hand auf das Tuch gehalten hatte, nicht mehr dort war – und als hätte meine Beobachtung direkt den Zorn des Schicksals provoziert, fegte eine eisige Windböe über die Böschung, knisterte durch die Bäume wie durch Geschenkfolie und wirbelte Sand und tote Blätter auf.

      Eine Seite des Stoffes blähte sich im Wind wie ein gewaltiges Schiffssegel. Plötzlich stülpte sich die lose Ecke des Tuches um und entblößte das ausgemergelte, gräuliche Profil einer Frau mit einem nassen, verfilzten Geflecht aus schwarzen Haaren und Laub auf dem Kopf. Angedeutet sah man einen geprellten Arm, die Rippen, die sich an ihrer Seite deutlich abzeichneten, und die Wölbung einer winzigen weißen Brust.

      Es war die erste Leiche, die ich jemals gesehen hatte, und seltsam irreal. Die Unmengen von Kunstblut und Eingeweiden, die sich meine Freunde und ich jedes Wochenende in Form von seichten Horrorfilmen im Juniper reinzogen, fühlten sich irgendwie wesentlich authentischer als all das hier an.

      Der Kopf war leicht nach links geneigt und ich sah etwas, das man nur als blutige Delle in der rechten Seite ihres Kopfes beschreiben konnte. Diese Seite sah wie eingedrückt aus und das rechte Auge blinzelte gerade so unter der unnatürlichen Einbuchtung ihres Schädels hervor.

      »Heilige Scheiße«, entfuhr es Scott. Offensichtlich hatte er es auch gesehen.

      Die Sanitäter hatten alle Mühe, den Körper wieder zu bedecken. Sie überstürzten jedoch ihr Vorhaben und machten sich hektisch nestelnd am Tuch zu schaffen. Eine Sekunde lang sah es fast schon nach Tauziehen aus, bevor sie den Stoff schließlich wieder über den Kopf des toten Mädchens drapiert bekamen. Einer der Polizeibeamten steckte das Tuch, um es zusätzlich zu fixieren, sicherheitshalber unter ihr fest.

      Zu meiner Linken starrte Scott über die Straße und seine Kopfhörer lieferten eine eher unpassende musikalische Untermalung der Situation, die sich vor unseren Augen abspielte. Peter stand, die Hände in die zu engen Hosentaschen seiner Jeans gezwängt, knapp vor uns, und die Seiten seiner Jacke schlugen im aufziehenden Wind. Auch er hatte es gesehen.

      Niemand sagte auch nur ein einziges Wort. Wir verfolgten, wie sie den Leichnam in den Krankenwagen luden. Alle Beteiligten bewegten sich mit einer derart unglaublichen Gemächlichkeit, dass es schon unangemessen schien. Der Fund einer Leiche im Wald sollte doch nicht Anlass zu solch einer Trägheit geben. Das konnte nicht echt sein – nichts davon!

      »Der Piper«, flüsterte Scott verschwörerisch.

      »Nein.« Ich konnte immer noch nichts von all dem fassen. Das Gesicht des toten Mädchens ging mir nicht mehr aus dem Kopf und ich befürchtete, es würde in der Nacht meine Träume heimsuchen. »Sie haben die Opfer des Pipers nie gefunden. Und überhaupt, vielleicht gibt es ja nicht mal einen Piper.«

      »Es gibt einen Piper«, widersprach Scott mit unerschütterlicher Bestimmtheit.

      »Glaubt ihr, es ist jemand, den wir kennen?«, fragte Peter. »Habt ihr von irgendwelchen weiteren Vermissten gehört?«

      Ich schüttelte den Kopf, doch er nahm mich nicht wahr, da er den Sanitätern dabei zusah, wie sie den Krankenwagen anließen.

      Eine Rauchwolke stieß aus dem Auspuff und ich wartete darauf, dass die Sirenen einsetzten, doch sie taten es nicht. Natürlich nicht. Warum sollten sie auch? Welchen Anlass zur Eile sollte es jetzt noch geben? Aus irgendeinem Grund jedoch wollte ich, dass sie sich beeilten. Es kam mir gegenüber der Person unter diesem Tuch, wer auch immer sie sein mochte, pietätlos vor, dass diese Polizisten und Sanitäter nur so gemächlich handelten.

      »Konntet ihr einen Blick darauf werfen?«, fragte Peter weiter. »Hast du sie erkannt, Angie?«

      »Ich glaube nicht. Schwer zu sagen. Ihr Gesicht war nicht …« Doch ich musste den Satz erst gar nicht zu Ende bringen. Ihr Gesicht war zertrümmert gewesen und Peter und Scott hatten es genauso klar und deutlich gesehen wie ich selbst.

      »Ich frage mich, ob sie jemand aus der Schule war«, überlegte Peter und drehte sich schließlich zu uns um. Seine Wangen waren rot von der Kälte und seine Augen glänzten. »Denkt ihr, sie könnte auch auf die Stanton gegangen sein?«

      »Ich habe von niemandem gehört, der sonst noch vermisst wird«, berichtete ich.

      »Sie war noch jung«, meinte Scott. Ich bemerkte einen Anflug von Zweifel in seiner Stimme. »Keine Erwachsene meine ich. Habt ihr sie gesehen?«

      »Ja«, entgegnete ich. »Hab ich! Hab ich!«

      »Sie könnte in Stanton gewesen sein«, meinte Peter. »Ich habe sie zwar nicht erkannt, aber es könnte durchaus möglich sein …«

      Die Blicke zu vieler Cops waren nun auf uns gerichtet. Nach all dem Tumult waren wir nicht mehr länger nur neugierige Schaulustige. In unseren Leinenparkas mit Nirvana- und Metallica-Aufnähern an den Ärmeln mussten wir vielmehr wie halbstarke Unruhestifter aussehen.

      »Lasst uns abhauen«, beschloss ich.

      Wir trotteten die Counterpoint gegen den Wind hinunter. Das Treffen heute Abend unten bei den Docks sausen zu lassen, war vielleicht gar keine schlechte Idee. Allein die Vorstellung des eiskalten Windes, der über das schwarze Wasser der Chesapeake Bay hereinpeitschte, reichte, um etwas tief in meiner Körpermitte zusammenkrampfen zu lassen.

       Diese eingestoßene Seite des Kopfes, diese widernatürliche Einwölbung ihrer rechten Gesichtshälfte. Habe ich das alles wirklich gesehen?

      Ich schauderte.

      In kollektivem Schweigen suchten wir in einem Bushaltestellenhäuschen am Ende des Blocks Schutz vor der Kälte. Scott wechselte die Kassetten in seinem Walkman und Peter ließ eine Runde neuer Zigaretten herumgehen. Rauchend beobachteten wir den Verkehr auf dem Governor Highway. Die zwei- und dreistöckigen Betonbauten auf der anderen Straßenseite sahen im grauen und allmählich nachlassenden Licht des Nachmittags wie Bleistiftzeichnungen aus. Bunte Vinylfahnen flatterten über dem halbleeren, mit Schlaglöchern übersäten Parkplatz des örtlichen Gebrauchtwagenhändlers OK Used Kars.

      Weiter die Straße hinunter gingen abrupt die Lichter in der Bagel Boutique aus, die ihr Geschäft für den Tag beendete. Vergangenen Sommer hatte ich dort gearbeitet. Jeden Tag um vier Uhr früh hatte ich mich aus dem Bett schleifen müssen, nur um Teig zu Ringen zu formen, diese dann in einen Kessel mit kochendem Wasser zu geben und danach die kurz angekochten Bagels bei etwa dreihundert Grad in den Ofen zu schieben. Obwohl ich dabei immer Handschuhe getragen hatte, war die Hitze so stark gewesen, dass sich meine Fingernägel an den Spitzen vom Nagelbett gelöst hatten. Eine unmenschliche Angelegenheit – besonders für einen Faulpelz wie mich.

      »Was denkt ihr, ist mit ihr passiert?«, fragte Scott. »Irgendjemand hat ihr das angetan. Irgendjemand hat sie umgebracht.«

      »Vielleicht war es Lucas Brisbee«, mutmaßte Peter.

      »Wer ist das?«, wollte ich wissen.

      »Du hast noch

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