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oder an meinen Fingernägeln herumzuzupfen. »Wissen es ihre Eltern? Ich meine … also … habt ihr die Eltern schon benachrichtigen können?« Ich war mir nicht sicher, weshalb mir gerade diese Frage in den Sinn gekommen war, doch ich überlegte, ob es etwas mit dem Mann im marineblauen Pullover zu tun hatte, der sich mit Mr. Pastore im Lebensmittelladen unterhalten hatte.

      »Ja.« Wieder bewegte sich mein Vater in der Dunkelheit.

      »Und … was ist mit ihr passiert?« Das war es eigentlich, was mich brennend interessierte, und für einen Augenblick dachte ich auch tatsächlich, er würde es mir erzählen. Ich hätte es besser wissen müssen.

      »Jemand hat ihr etwas Furchtbares angetan«, erwiderte er mit leiser Stimme. »Es ist krank und grausam. Mehr brauchst du nicht zu wissen.«

      »Oh. Okay …«

      »Wenn du aus dem Haus gehst«, wollte mein Vater wissen, »dann bist du doch immer mit deinen Freunden zusammen, nicht wahr?«

      »Ja.«

      »Gut. Das ist gut. Ihr solltet immer in der Gruppe bleiben.«

      »Dad«, setzte ich an, doch meine Stimme überschlug sich. »Hat das irgendetwas mit den anderen vermissten Jugendlichen zu tun? Mit dieser Person, die alle den Piper nennen?«

      »Es ist noch zu früh, um es mit Sicherheit sagen zu können. Aber du bist alt genug, um mit den Tatsachen konfrontiert zu werden. Ich muss in dieser Hinsicht nichts mehr für dich beschönigen, oder?«

      »Nein, Sir.« Meine Stimme fühlte sich schrecklich schwach an.

      »Irgendetwas geht hier vor sich. Etwas Schlimmes. Wenn du mit deinen Freunden weggehst, halte dich mit ihnen immer nur an menschenreichen, öffentlichen Plätzen auf, aber besser noch bei ihnen zu Hause. Hast du verstanden?«

      »Ja.«

      »Haltet euch von abgelegeneren Orten fern – dem Wald, den Schleusen unten im ärmeren Teil der Stadt, dem Radweg und allen Parks nach Einbruch der Dunkelheit. Bleibt weg von diesen leerstehenden Hütten entlang des Kaps, den Shallows und dem alten Bahnhof am Ende der Farrington Road. Und von dieser Brücke am Deaver’s Pond, wo sich die Obdachlosen im Winter aufhalten. Ich möchte nicht, dass du dich bei dieser Unterführung herumtreibst – nicht mit deinen Freunden und erst recht nicht allein. Verstanden?«

      »Ja, verstanden.«

      »Das ist mein voller Ernst, Angelo. Ich möchte, dass du das begreifst.«

      »Ich begreife doch«, versicherte ich ihm. »Versprochen.«

      »Ich sage dir das alles, weil du vorsichtig und dir einer möglichen Gefahr bewusst sein sollst.«

      »Ich weiß«, entgegnete ich nur.

      Sein Nicken war in der Dunkelheit kaum zu erkennen. »Gut. Nun geh ins Bett.«

      Eine Sekunde lang dachte ich, es wäre ein Trick. Ich hatte mich auf einen verbalen Schlagabtausch oder allerwenigstens auf eine scharfe Maßregelung gefasst gemacht, dass ich mich nicht an meine Ausgangszeiten gehalten hatte.

      Mein Vater musste meine Unsicherheit wohl bemerkt haben; als ich nicht gleich aus dem Sessel aufstand, zeigte er mit dem Finger auf mich und dann in Richtung Tür, als wäre ich ein Hund, der spezielle Anweisungen brauchte.

      Ich stand auf, ging zur Tür und drehte vorsichtig den Knauf um. Das Schlafzimmer meiner Großeltern lag im Erdgeschoss, und meine häufigen nächtlichen Ausbrüche aus dem Haus über die Jahre hatten mich in der richtigen Technik geschult, das Ächzen der Türangeln zu vermeiden: den Knauf drehen und hochziehen, damit sich die Tür im Rahmen etwas anhob, dann nach innen drücken. Mucksmäuschenstill.

      »Und glaub bloß nicht, ich lasse dir das Zuspätkommen so einfach durchgehen«, rief mein Vater mir noch nach.

      »Ja, ich weiß. Tut mir leid, dass ich zu spät nach Hause gekommen bin.«

      »Nein, tut es nicht«, focht er an. Dann seufzte er wieder. Er hörte sich uralt an. »Wir unterhalten uns morgen noch darüber.«

      »Okay …« Ich konnte mich nicht rühren, meinen Blick nicht von seiner dunklen, gebeugten Gestalt auf der anderen Seite der Veranda abwenden. »Kommst du auch rein?«

      »Gleich.«

      »Gute Nacht«, wünschte ich ihm und schlich nach drinnen.

      Später im Bett zwang ich mich trotz der drückenden Schwere des Schlafes, die in der Dunkelheit über mich kam, wach zu bleiben, bis ich die schweren Schritte meines Vaters dumpf über den Boden pochen hörte. Als seine Schlafzimmertür am anderen Ende des Flures knarzte, schloss ich schließlich meine Augen. Dicke, heiße Tränen stahlen sich daraus hervor und rannen meine Schläfen hinab. Ich war geschockt, dass mir so etwas passierte.

      Vor mir spielte sich noch einmal das schaurige Szenario des frühen Nachmittags ab – die Polizisten, wie sie die Bahre aus dem Wald trugen, die Leiche des Mädchens unter dem weißen Tuch, wie ein Windstoß den Stoff hochwehte und ihr eingeschlagenes Gesicht entblößte. Dieses Gesicht.

      Ich versuchte krampfhaft, mich mit tausend anderen, sichereren Gedanken abzulenken – Musik und Mädchen und Horrorfilme –, doch das Bild dieses zerschmetterten und blutigen Gesichts verfolgte mich wie ein hungriger Wolf bis in meine Träume. Nur in meinen Träumen war es das Gesicht meines Bruders.

      KAPITEL DREI

      Die Teufelsnacht

      Courtney Cole, Tochter von Byron und Sarah Beth Cole und große Schwester der siebenjährigen Margaret, war eine attraktive Fünfzehnjährige gewesen, die in der Fußballmannschaft der Girls’ Holy Cross Schule in den Palisades gespielt hatte. Auf dem Zeitungsbild, das wie ein Jahrbuchfoto aussah, hatte sie volles schwarzes Haar, faszinierende, für ein Mädchen ihres Alters erstaunlich verführerische Augen und diese Art halbschiefes, unvergessliches Lächeln, das einem wie das Nachbild eines Blitzlichtes hinter den Augenlidern nachwirkte.

       Der Bericht im Caller über ihren Tod war bestenfalls oberflächlich. Courtney hatte ein paar Freunde aus der Gegend nahe der Stanton School besucht und war dann zusammen mit Megan Meeks irgendwann am späten Nachmittag nach Hause gegangen. Laut Megan hatten sie sich am December Park voneinander verabschiedet. Megan hatte die Solomon’s Bend Road genommen und Courtney, die in den Palisades wohnte, war eine Abkürzung durch den Park gegangen.

      Doch Courtney Cole war nie zu Hause angekommen. Ein unbekannter Angreifer hatte ihr den Schädel eingeschlagen, und zwei Tage nachdem ihre Eltern sie als vermisst gemeldet hatten, waren zwei Stadtarbeiter, die nach Audrey MacMillans Autounfall Aufräumarbeiten im Wald durchführten, auf ihre Leiche gestoßen.

      Im Vorfeld des Fundes von Courtneys Leiche hatte es reichlich Spekulationen darüber gegeben, was aus den anderen drei Jugendlichen aus Harting Farms geworden war, die während der vorangegangenen zwei Monate einfach verschwanden: dem dreizehnjährigen William Demorest Ende August und dem sechzehnjährigen Jeffrey Connor sowie der dreizehnjährigen Bethany Frost im September. Ohne Hinweise auf Fremdverschulden – und ohne tatsächliche Leichen – hatte sich die Polizei äußerst zuversichtlich gegeben, dass es sich lediglich um eine Reihe von zu Hause fortgelaufener Jugendlicher handelte; Einzelfälle, die nicht miteinander in Verbindung stünden. Natürlich hatten die Eltern der Vermissten die Polizei gedrängt, die Möglichkeit einer Entführung nicht auszuschließen.

      Vor Courtney Coles Verschwinden war Polizeipräsident Harold Barber in mehreren Zeitungen mit der Aussage zitiert worden: »Was denken Sie, ist wahrscheinlicher? Dass irgendein namenloser, gesichtsloser Rattenfänger, ein Piper, in unsere Stadt gekommen ist, um systematisch unsere nichtsahnenden Kinder in den Sonnenuntergang davonzulocken, oder dass wir es hier mit einer Handvoll nicht in Zusammenhang stehender Fälle von Kindern zu tun haben, die schlicht und ergreifend von zu Hause Reißaus genommen haben?«

       So hatte Chief Barber dem gesichtslosen Monster also einen Namen gegeben, und das schien die ganze Bedrohung nur noch realer zu machen. Der Caller übernahm die Bezeichnung und behielt sie bei. Bald darauf sprachen Berichterstatter im Fernsehen von der vermeintlichen Existenz eines Kindesentführers

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