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den stolperte der lange Schreiber in das Zimmer hinein, und bei dem Versuch, sich an einem Stuhl festzuhalten, plumpste er mit samt dem Stuhl um und rutschte, so lang er war, in das Zimmer hinein.

      Diesem bösen Anfang folgte eine Flut von Schimpfworten, die alle Raoul galten. »He, er spitznasiger, eingebildeter Zierbengel er, warum ist er gestern abend weggelaufen, he? Er hat wohl die Faulkrankheit, was? Denkt wohl, so ein Sündengeld verdient man mit Herumvagabondieren?«

      Raoul sagte kein Wort, er wußte genau, daß eine Widerrede oder der leiseste Versuch, sich zu verteidigen, nur die Sache verschlimmern würde.

      »Laß ihn sich austoben,« hatte einmal Karl Wagner geraten, aber an diesem Morgen dauerte das Toben recht lange. Zum Unglück war der Herr Advokat selbst nicht da, so konnte der lange Schreiber schimpfen und schreien nach Herzenslust, und Raoul bekam so viele Schelte, so viele harte Worte zu hören, daß es ihm war, als prassele ein Hagelwetter auf ihn herab.

      Endlich, endlich, nachdem er dies hatte tun müssen und jenes holen, konnte er sich an seinen Arbeitsplatz setzen. Eben setzte er an, um zierlich und fein geschnörkelt einen Satz zu beginnen, als Paul Neumann ihn unsanft an den Arm stieß. Ein Schrei, und über den großen Aktenbogen rann eine dunkle Tintenflut.

      »Was hat er da wieder angerichtet, er Dummerjan?« schrie der Schreiber wütend, aber da klang plötzlich ganz ruhig in das Schreien hinein Karl Wagners Stimme: »Du hast ihn gestoßen, er kann nichts dafür!«

      Der kleine Verwachsene hatte zwar schon oft die Erfahrung gemacht, daß seine Verteidigung dem armen Schreiberlein wenig nützte, er brachte es aber nicht fertig, zu dieser Ungerechtigkeit zu schweigen, und just wollte er noch etwas sagen, als eine mächtige Ohrfeige auf Raouls Wange herniedersauste. »Will doch sehen, ob der nicht Strafe bekommt, der sie verdient,« rief der Lange zornig.

      Mit einem Schrei war Raoul emporgefahren, Tränen der Wut und Scham entstürzten seinen Augen. »Ich lasse mich nicht schlagen,« schrie er, »ein Steinberg läßt sich nicht schlagen!« In leidenschaftlichem Zorn wollte er sich auf seinen Peiniger stürzen, aber da fühlte er sich von hinten festgehalten, und Karl Wagners ernste, graue Augen sahen ihn mahnend, liebevoll an. »Sei ruhig!« und ganz leise, nur ihm verständlich, klang es an sein Ohr: »Denk an deine Mutter!«

      Stumm senkte Raoul den Kopf. Die Mutter, ihre Freude gestern, sein Stolz, seine Hoffnung, ihr immer mehr eine Stütze werden zu können, — alles fiel ihm ein. Er mußte still sein, aushalten, sein Amt durfte er nicht verlieren.

      »Die Madame läßt sagen, das wär'n Lärm wie auf der Messe und nicht wie in 'ne anständige Schreibstube, und sie würd's dem Herrn berichten,« kreischte mit einemmal die Magd in das Zimmer hinein, und schwapp krachte sie die Türe mit solcher Gewalt wieder zu, daß leise der Kalk von den Wänden herabrieselte.

      »Da sieht er's, was er angerichtet hat,« knurrte Neumann, dem es sehr unangenehm war, daß man drinnen in der Wohnung des Advokaten den Lärm gehört hatte. Herr Schnabel pflegte in solchen Fällen nicht ihn allein nach dem Grund zu fragen, und daß Karl Wagner nicht auf seiner Seite stand, fühlte er. Darum hielt er es für besser zu schweigen, der Blick aber, den er Raoul zuwarf, verhieß nichts Gutes für die Zukunft.

      Als der arme, kleine Schreiber zu Mittag heimeilen wollte, — die Schreibstube war trotz des Langen Zorn zu rechter Zeit geschlossen worden, — hielt Karl Wagner ihn fest. »Komm mit mir,« sagte er freundlich. »Hast du ein paar Minuten Zeit?«

      Raoul nickte nur, er konnte nicht sprechen, die gewaltsam unterdrückten Tränen erstickten ihn fast, und der Gedanke, so niedergeschlagen und gedemütigt vor seine Mutter treten zu müssen, lastete schwer auf ihm. Er war zum erstenmal froh, daß der Heimweg hinausgeschoben wurde, und willig folgte er Karl Wagner in die nahe Thomaskirche, die dieser durch eine Seitenpforte betrat.

      Die Kirche war völlig leer. Das trübe Licht des Nebeltages fiel nur matt durch die bunten Fenster in den gewölbten Raum, den ein schönes, sanftes Klingen durchrauschte. Jemand spielte die Orgel, der Kantor von Sankt Thomas, Herr Müller, war es, wie Karl Wagner leise seinem Schützling zuflüsterte. Vorsichtig, den Schall der Schritte dämpfend, gingen die beiden bis in das Mittelschiff und setzten sich dort nieder.

      Raoul war noch nie in einer leeren Kirche gewesen, er hatte auch noch nie ein so wundervolles Orgelspiel gehört.

      »Den Anfang, Mitt' und Ende, ach Herr, zum besten wende,« sang Karl Wagner ganz leise die Worte des Liedes nach, das oben der Kantor spielte.

      Immer rauschender und voller, wie Bittgesang und Dankesjauchzen tönte es durch die Kirche, und ganz wundersam feierlich wurde es dem armen, geplagten Schreiberlein ums Herz. Sein Kopf sank leise an die Schulter des Verwachsenen, und die schmerzlichen Tränen, die er vorher krampfhaft herabgeschluckt hatte, rannen und rannen, und als sie endlich versiegt waren, da konnte er den Kopf wieder heben und wieder frei und mutig um sich schauen. Er dachte an seine Mutter, an ihre Freude gestern abend, und auf einmal schien ihm alles nicht mehr so schwer zu sein. Ich ertrag's schon, dachte er mutig, es muß gehen, Mama darf nichts merken!

      Ein Weilchen saßen die beiden Schreibgenossen noch still zusammen, bis die letzten Töne verhallt waren und ein Klappen und Schließen oben anzeigte, daß auch der fromme Spieler heimging. »Vielen Dank,« sagte Raoul draußen und schüttelte herzhaft Karl Wagner die Hand, »es war schön!«

      »Kannst du nun zur Mutter gehen?« fragte der Schreiber freundlich.

      Raoul nickte froh. »Sie soll nichts merken, bestimmt nicht. Ich schluck's hinunter!«

      »So ist's recht, immer tapfer voran! Nach bösen Stunden kommen auch gute. Nun Gott befohlen! Am Nachmittag sind wir allein, da wollen wir zusammen fleißig sein und nachholen, was wir am bösen Morgen versäumt haben,« sagte Karl Wagner und wandte sich rasch dem kleinen Haus im Winkel des Thomaskirchhofes zu, in dem er wohnte.

      Einen Herzschlag lang sah Raoul ihm noch dankbar nach, dann lief er eilig den vertrauten Weg entlang. Er flog fast, so geschwind ging es, und die frische Luft kühlte ihm die heißen Wangen und Augen. Er kam sehr vergnügt bei seiner Mutter an, und diese merkte nicht, wie schwer der Morgen gewesen war. Nur Gottlieb erfuhr am Abend den Auftritt in der Schreiberstube, und er geriet darüber in einen solchen Zorn, daß er seine lateinische Grammatik aus den Boden warf. »Man muß ihn verdreschen, aber feste,« schrie er.

      »Den langen Neumann?« Raoul mußte doch lachen; sein kleiner, stämmiger Freund und der lange dünne Schreiber schienen ihm auch ein zu ungleiches Paar zu sein. »Wie wolltest du das anfangen?«

      »Ach was, das krieg' ich schon fertig,« brummte Gottlieb, »David ist mit dem Goliath auch fertig geworden. Freilich, merken dürft' er's nicht, von wem die Dresche stammt, sonst geht dir's schlecht. Vater sagt, Lehrjahre sind nicht Herrenjahre, und Ohrfeigen gehören dazu, die müssen sein!«

      »Wenn's aber ungerecht ist,« rief Raoul finster, »nur aus Niedertracht, dann« — er seufzte, »ich muß doch still halten, um der Mutter willen!«

      »Ja freilich,« stimmte Gottlieb kleinlaut zu, »aber — seine Dresche kriegt er noch. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, sagte unser Geselle immer, wenn er nicht alles auf einmal essen konnte. Er kriegt sie noch, aber feste!«

      Mit dieser düsteren Prophezeiung trennte sich Gottlieb Käsmodel von seinem bewunderten Freund. Wer dem was tat, dem war er gram, der sollte sich vor ihm in acht nehmen.

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