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nächsten Haltestelle stieg er dann würdevoll ab und schlug den Weg zum Holzplatz ein. Auch für ihn war dort das Kinderparadies. Dieses reizende Kind mit seinen drolligen Einfällen war natürlich eine unerschöpfliche Freudenquelle für die Großmutter und für uns alle. Aber als er etwas größer wurde, bot seine Mutter alles auf, um ihn an sich zu fesseln und von uns loszulösen. Sobald er anfing, in die Schule zu gehen, machte sie mit ihm die Schularbeiten, und das nahm mit jedem Jahr mehr Zeit in Anspruch. Die glänzende Begabung der ersten Jahre schien verschwunden, er blieb trotz aller Anstrengungen ein mittelmäßiger Schüler. Wenn ich mich manchmal mit ihm beschäftigte, merkte ich wohl, woran es lag. Er war unglaublich zerfahren, hatte immer tausend Dinge im Kopf und konnte sich keine fünf Minuten auf eine Aufgabe konzentrieren.

      Dagegen war er ganz bei der Sache, wenn er bei seinen selbst erdachten Spielen war. Kam er jetzt einmal zu uns, so trug er die Stühle aus dem ganzen Haus zusammen, um sie zu einer Eisenbahn zusammenzukoppeln. Wenn er mit den Vorbereitungen fertig war, dann war gewöhnlich seine Zeit abgelaufen, und er mußte nach Hause. Später war die Lieblingsbeschäftigung, elektrische Leitungen anzulegen. Aber auch sie erlebten es niemals, fertig zu werden. Wenn er das ganze Haus auf den Kopf stellte und am liebsten noch alle Tanten als Hilfsarbeiter beschäftigen wollte, war er natürlich kein gern gesehener Gast mehr. Besonders von seiner Tante Rosa, die ja als Hausfrau die Hauptleidtragende war, bekam er die längsten Standpauken zu hören. Dadurch ließ er sich aber nicht im mindesten beirren. Als er sein Abitur bestanden hatte und sein Studium an der Technischen Hochschule begann, hatten seine Tanten nicht viel Zutrauen, daß etwas dabei herauskommen würde. Tatsächlich nahm auch die Versuchsanordnung für seine Arbeiten immer unglaublich lange Zeit in Anspruch. Schließlich kam er aber doch ans Ziel. Eines Abends bat er seine Eltern, sich mit ihm bei der Großmutter zu treffen. Er erschien in Gehrock und Cylinder und teilte uns mit, daß er eben seine Doktorprüfung bestanden habe. Das war wieder mal ein Tag, an dem alle mit ihm zufrieden waren. Sonst hatte die Großmutter oft Kummer über den ehemaligen Liebling. Je größer er wurde, desto mehr waren auch die Eigenheiten seiner Mutter an ihm hervorgetreten. Die Bewunderung, mit der er zu Hause umgeben wurde, machte ihn eitel und egoistisch. Die Eltern mußten sich nach seinen Wünschen richten, er selbst nahm keine Rücksichten. Sein Vater kränkte sich oft schwer darüber, vermochte aber nichts zu ändern. In seinem Beruf wußte er sich durchzusetzen; er war erst jahrelang Assistent an der Technischen Hochschule in Breslau. Dann wurde er bei der A.E.G. in Berlin angestellt, mit der Möglichkeit, in ihren Instituten weiter wissenschaftlich zu arbeiten. Auch ihm ist diese Stellung und die Aussicht auf die akademische Laufbahn durch die antisemitische Welle genommen worden.

      3.

      Wenn die Eheschließung des ältesten Sohnes meiner Mutter so viel Kummer bereitet hatte, so war die Nachricht von der Verlobung der ältesten Tochter eine große Freudenbotschaft. Else war ja für sie immer ein Sorgenkind. Sie war nach ihrer Lehrerinnenprüfung in verschiedenen Familien als Hauslehrerin, manchmal in Breslau nur für die Nachmittage zur Beaufsichtigung der Schularbeiten, einigemal auch in kleinen Provinzstädten, wo sie den Unterricht und die Erziehung der Kinder ganz übernahm. Sie war mit ganzer Seele Erzieherin, hatte starken Einfluß auf ihre Zöglinge und wurde sehr von ihnen geliebt. Aber nirgends blieb sie lange. Manchmal war Eifersucht der Hausfrau auf die schöne, junge Hausgenossin für sie die Veranlassung zu gehen. Die Beziehungen zu den Kindern blieben oft bestehen; meine Schwester ist überhaupt eine treue Freundin und hat manche Verbindungen mit Lehrerinnen und Schulgefährtinnen das ganze Leben hindurch erhalten.

      Ihr Bestreben war es seit der Prüfung, eine Anstellung im Schuldienst zu bekommen. In Preußen war das fast unmöglich für eine Jüdin, und so folgte sie der Anregung einer Freundin, sich in Hamburg zu bemühen. Es glückte ihr auch, dort an einer Privatschule anzukommen. Es sollte nicht für lange Zeit sein. Sie traf in Hamburg mit einem Verwandten zusammen, einem Vetter unserer Mutter, der seit Jahren dort als Hautarzt niedergelassen war. Im September des Jahres 1903 erhielten wir die Nachricht von ihrer Verlobung. Ich erinnere mich noch deutlich an die näheren Umstände. Es war an einem schönen Sonntag, und die ganze Familie war zu einem Kunden in seinen großen Obstgarten eingeladen, um sich an den reifen Äpfeln und Pflaumen gütlich zu tun und soviel mitzunehmen, wie man selbst pflücken konnte und wollte. Gerhard leistete bei dieser Gelegenheit Erstaunliches. Er saß in seinem weißen Spitzenkleidchen im Gras unter einem großen Baum, hielt einen mächtigen Apfel mit beiden Händchen und vertiefte sich in den Genuß. Auf den Apfel folgten ein paar Pflaumen, dann wieder ein Apfel usw. Als er nach der Heimkehr noch etwas von dem mitgebrachten Obst verlangte und sein Vater fand, daß es nun endlich genug sei, kam er zu mir und sagte in anklagendem Ton: »Edi, der gibbt nischt.« (Er sprach als kleines Kind ganz stark Schlesisch, obgleich niemand in der Familie das tat außer seiner Mutter, wenn sie sich etwas gehen ließ und in den Tonfall ihrer Heimat Ohlau verfiel.)

      Mitten in die Fröhlichkeit der Obstlese kam der Eilbrief aus Hamburg, in dem Max Gordon seiner Cousine Gustel in wenigen Worten mitteilte, daß er sich mit ihrer Else verlobt habe. Später erzählte uns meine Schwester, er hätte ihr diesen Brief fertig vorgelegt und nur ihre Zustimmung zur Absendung verlangt. So hatte sich die Verlobung vollzogen. Ebenso ungewöhnlich war die Brautzeit. Sie dauerte nur zwei Monate. Else blieb noch bis Oktober im Schuldienst und kam dann nur noch für ganz kurze Zeit nach Hause. In ihrer Abwesenheit rüsteten wir mit Fiebereifer und größter Freude die Aussteuer. Es wurden Kataloge durchgesehen, manches wurde fertig angekauft, mehr aber im Hause genäht. Es kam eine Weißnäherin ins Haus, unter deren geschickten Händen aus Leinwand, Damast und Schweizer Stickereien die erstaunlichsten Kunstwerke entstanden. Meine Schwester Frieda half fleißig mit. In unserer schulfreien Zeit durften auch wir mitwirken. Manchmal kamen sogar noch unsere Cousinen dazu. Dann saßen wir im großen Kreis zusammen, nähten und strickten, und eine las etwas Lustiges vor. Schließlich war alles vollendet, die ganze Herrlichkeit verschwand in großen Kisten und ging nach Hamburg ab. Eine Enttäuschung für uns war es, daß die Hochzeit in Hamburg gefeiert wurde und daß wir nicht dabei sein konnten. Der neue Schwager verreiste niemals, außer manchmal für 2 Feiertage zu seiner Mutter nach Berlin. Er wollte seine Sprechstunde nicht ausfallen lassen und auch keinen Vertreter nehmen, denn er stand mit seinen Kollegen auf Kriegsfuß. Meine Mutter mußte da manches in Kauf nehmen, was keineswegs in ihrem Sinn war. Am schmerzlichsten war es, daß das Brautpaar von einer kirchlichen Trauung nichts wissen wollte. Beide waren völlig ungläubig. Es war ein großes Opfer, daß meine Mutter trotzdem zur Hochzeit mit nach…

      {Hier fehlen in der Handschrift 5 Blätter, die bisher nicht aufgefunden wurden.}

      …Schwagers, der ebenfalls die Menschen abschreckte, sobald eine Meinungsverschiedenheit zur Sprache kam. Er hatte sich eine Reihe von Ansichten gebildet, die zu denen der Umwelt in scharfem Gegensatz standen und ihm auch die äußere Existenz immer mehr erschwerten. Er hatte wiederholte Zusammenstöße und lange gerichtliche Auseinandersetzungen mit dem Leipziger Ärzteverband, dessen Begriff der »Standesehre« er sich nicht zu eigen machen konnte. Als junger Arzt hatte er sich seine Existenz in Hamburg damit begründet, daß er seine Sprechstunden regelmäßig durch Inserate in den Zeitungen bekanntgab. Bei seinem Spezialfach (Haut- und Geschlechtskrankheiten) und in der Hafenstadt mit dem beständigen Zustrom von Fremden hatte sich das sehr bewährt. Der Ärzteverband sah in diesem kaufmännischen Verfahren »unlauteren Wettbewerb« und eine Verletzung der Standesehre. Mein Schwager konnte es nicht einsehen, warum ein tüchtiger und gewissenhafter Arzt die leidenden Mitmenschen nicht auf einfache und praktische Weise wissen lassen sollte, wo sie Hilfe finden könnten. Er sah in dem Eifer der Kollegen für die Standesehre nur einen maskierten Konkurrenzneid, ließ sich ruhig aus dem Ärzteverband ausschließen und damit auch gesellschaftlich isolieren; in wiederholten Verhandlungen hat er sich selbst mit großem Scharfsinn und der ehrlichen Entrüstung eines guten Gewissens verteidigt. Wer auf dieses Thema zu sprechen kam, der rührte natürlich an einen wunden Punkt.

      Max war sonst liebenswürdig und humorvoll und nicht leicht aus der Ruhe zu bringen. Aber hier konnte er sehr scharf werden, wie er überhaupt Widerspruch gegen seine Ansichten nicht vertrug. Die Wandlungen in der ärztlichen Praxis während der letzten Jahrzehnte verwickelten ihn in neue Schwierigkeiten. Er war immer ein Feind der Krankenkassen, weil er sagte, daß bei der Massenpraxis der Kassenärzte eine gewissenhafte Behandlung unmöglich sei. Dabei blieb er auch, als durch

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