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denn das Schuljahr lief schon seit Ostern, und ich konnte zwar große Balladen aufsagen und mit meinen Geschwistern »Dichterquartett« spielen, weil ich alles auswendig wußte, was auf den Karten stand, aber lesen und schreiben konnte ich noch gar nicht. Meine älteste Schwester ging zum Direktor der Viktoriaschule und bat ihn, mich probeweise aufzunehmen; sie wollte sich dafür verbürgen, daß ich mitkäme. Da sie selbst eine ausgezeichnete Schülerin gewesen war und kürzlich ihr Lehrerinnenexamen bestanden hatte, wurde ich auf ihre Fürsprache hin angenommen. An meinem ersten Schultage fragte mich der gestrenge Herr Direktor, ob ich schon meine Geburtstagsgeschenke bekommen hätte, und der Lehrer, der die unterste Vorschulklasse hatte, brachte mir eine Tüte mit Chokoladenplätzchen mit. Es war anfangs recht schwer, ohne jede Vorübung sofort mit Feder und Tinte zu schreiben und ganze Worte zu lesen. Aber Ostern wurde ich mit den andern versetzt, und von da an behauptete ich immer einen der ersten Plätze.

      Von den Freuden und Leiden des Schullebens habe ich schon erzählt. Ich war eine übereifrige Schülerin. Ich konnte mit hochgerecktem Zeigefingerchen bis zum Katheder vorhüpfen, um nur ja »dranzukommen«. Meine Lieblingsfächer waren Deutsch und Geschichte. Zu Beginn des neuen Schuljahres verschlang ich immer sofort das neue Lesebuch und das neue Geschichtsbuch. Ich fing schon am frühen Morgen an zu lesen, während mich meine Mutter frisierte. Aufsätze zu schreiben war mir ein Vergnügen. Da konnte ich doch etwas von dem anbringen, was mich innerlich beschäftigte. Ich hatte auch keine Scheu, sie den Lehrern abzugeben. Dagegen liebte ich es gar nicht, sie zu Hause lesen zu lassen, erst recht nicht, sie Fremden zu zeigen, die zu Besuch kamen und denen man von meinen Leistungen erzählt hatte. Ich wurde überhaupt außerhalb der Schule still und schweigsam, so daß es in der ganzen Familie auffiel. Das lag wohl daran, daß ich in meiner inneren Welt eingesponnen war. Z{{um}} T{{eil}} war vielleicht auch die herablassende Art mit schuld, in der Erwachsene mit Kindern zu verkehren pflegen. Wenn ich anfing, über Dinge zu reden, für die ich ihnen zu klein schien, dann konnten sie lachen und es sich gegenseitig als Kuriosität erzählen. Da schwieg ich lieber still. In der Schule wurde ich ernst genommen. Vielleicht sagte ich im Unterricht manches, was die meisten Mitschülerinnen nicht verstanden. Aber ich merkte das nicht, und auch die Lehrer ließen nichts merken, als daß sie mich mit guten Noten auszeichneten.

      III. Von Sorgen und Zerwürfnissen in der Familie

       Inhaltsverzeichnis

      1.

      Der Anfang des folgenden Kapitels – etwa 30 Seiten in der Handschrift – fehlt; es ist nicht geklärt, wann und auf welche Weise die Blätter abhanden kamen. In den ersten Nachkriegsjahren waren sie schon nicht mehr vorhanden.

      …am liebsten für sich allein haben und nicht mit seinen vielen Verwandten teilen wollte. Aber wenn sie im Bad war und der Onkel allein zu Hause, dann lud er alle seine Geschwister mit sämtlichen Kindern zusammen ein. Ich sehe ihn noch auf der Freitreppe stehen, die zum Garten hinunterführte. Wir erhielten unsere Abendmahlzeit draußen auf dem Rasen, und seine Augen leuchteten vor Freude, während er uns ermunterte, es uns recht schmekken zu lassen. Als wir ihn das letztemal besuchten, wohnte er nicht mehr in diesem schönen Hause. Er hatte es aufgeben und mit einer Mietswohnung vertauschen müssen. Bei diesem Besuch war er besonders weich und gütig, nahm uns auf die Knie und fragte eingehend nach unsern Schulangelegenheiten. Ich war damals 10 Jahre alt. Ich glaube, es war nicht lange danach, als wir plötzlich die Nachricht von seinem Tode erhielten. Meine Mutter ging sofort hin, obgleich es Werktag und Geschäftszeit war. Es herrschte eine schreckliche Aufregung in der ganzen Familie; wir Kinder sollten nichts Näheres erfahren, aber allmählich sickerte es doch zu uns durch, daß er sich erschossen hatte. Geschäftliche Sorgen hatten ihn dahin gebracht. Seine eigene Geschäftsführung war tadellos; aber er hatte seinen Brüdern ausgeholfen, die in Schwierigkeiten waren – einem in Rumänien und einem in Breslau –, und wurde in ihren geschäftlichen Zusammenbruch mithineingezogen. Als er keinen Ausweg mehr sah, wie er seine Gläubiger befriedigen könnte, wollte er den drohenden Verlust seiner Ehre nicht überleben. Man sagte nachher, daß es sehr wohl möglich gewesen wäre, seine Angelegenheiten zu ordnen.

      Wenn ich mich recht erinnere, war seine Beerdigung die erste, die ich mitmachte. Wir saßen vorher mit unserer Mutter unter den Leidtragenden in dem Vorraum der Leichenhalle, entferntere Verwandte und Freunde traten an uns heran und reichten uns die Hand zum Zeichen der Teilnahme; meine Mutter sagte mit einem Blick auf uns: »Der zweite Vater«. Dann öffneten sich die Türen der Leichenhalle, und alles strömte hinein. Eine ernste Musik empfing uns, der Raum war feierlich geschmückt; vorn stand zwischen grünen Bäumen der Sarg, ganz mit Blumen bedeckt. Der Rabbiner begann die Leichenrede. Ich habe viele solcher Reden gehört. Sie warfen einen Rückblick auf das Leben des Verstorbenen, hoben hervor, was er Gutes getan, und rührten damit den ganzen Schmerz der Angehörigen auf; etwas Tröstendes enthielten sie nicht. Es wurde zwar mit feierlich erhobener Stimme gebetet: »Und wenn der Leib zu Staub zerfällt, so kehrt der Geist zu Gott zurück, der ihn gegeben.« Aber dahinter stand kein Glaube an ein persönliches Fortleben und an ein Wiedersehen nach dem Tode. Als ich viele Jahre später zum erstenmal einem katholischen Leichenbegängnis beiwohnte, machte mir der Gegensatz einen tiefen Eindruck. Es war ein namhafter Gelehrter, der zu Grabe getragen wurde. Aber von seinen Verdiensten, ja von dem Namen, den er in der Welt getragen hatte, war nicht mehr die Rede. Nur unter ihrem Taufnamen wurde die arme Seele der göttlichen Barmherzigkeit empfohlen. Doch wie tröstend und beruhigend waren die Worte der Liturgie, die den Toten in die Ewigkeit geleiteten!

      Ein schrecklicher Augenblick war es immer, wenn die Träger am Schluß der Leichenfeier den Sarg aufhoben und hinaustrugen. Die Trauernden folgten paarweise über den weiten Friedhof zum geöffneten Grabe. Dann kam wieder etwas Fürchterliches: das Herablassen des Sarges und das dumpfe Aufstoßen, wenn er den Grund erreicht hatte. Dagegen empfand ich es tröstlich, wenn ich an die Reihe kam, drei Schaufeln Erde hinabzuwerfen. Das war so wie ein letzter Gruß. Am Schluß wurde noch einmal in der Leichenhalle gebetet.

      Ein Jahr später, genau um dieselbe Zeit, kam ein ganz ähnlicher Schlag. Der jüngste Bruder meines Vaters, der das großelterliche Geschäft in Gleiwitz übernommen hatte, machte wegen geschäftlicher Schwierigkeiten seinem Leben ein Ende. Wir hatten ihn wenig gekannt, denn er besuchte uns selten; aber das Ereignis als solches und die Parallele zu dem im Vorjahre wirkte erschreckend. Daß der Selbstmord etwas Furchtbares sei, ganz anders furchtbar als der Tod als solcher, das fühlte ich wohl. Und meine Mutter mit ihrer unverwüstlichen Lebensfrische pflegte in solchen Fällen zu sagen, nur in einer augenblicklichen Geistesverwirrung könne ein Mensch einen solchen Entschluß fassen und durchführen; bei gesundem Verstande sei es nicht möglich. Wenn ich später erwog, wie so etwas möglich sei, und zugleich bedachte, warum wohl gerade bei Juden der Selbstmord ziemlich häufig ist, fand ich noch eine andere Erklärung. Auch der wirtschaftliche Kampf gegen die Juden, der im vorigen Jahr so viele mit einem Schlage ruinierte, hat ja zu einer erschreckenden Anzahl von Selbstmorden geführt. Ich glaube, die Unfähigkeit, dem Zusammenbruch der äußeren Existenz ruhig ins Auge zu sehen und ihn auf sich zu nehmen, hängt mit dem mangelnden Ausblick auf ein ewiges Leben zusammen. Die persönliche Unsterblichkeit der Seele ist nicht Glaubenssatz. Das ganze Streben ist ein diesseitiges. Selbst die Frömmigkeit des Frommen ist auf Heiligung dieses Lebens gerichtet. Der Jude kann zähe, mühevolle, unermüdliche Arbeit und die äußersten Entbehrungen Jahr um Jahr ertragen, solange er ein Ziel vor Augen sieht. Nimmt man ihm dies, dann bricht seine Spannkraft zusammen; das Leben erscheint ihm nun sinnlos, und so kommt er leicht dazu, es wegzuwerfen. Den wahrhaft Gläubigen freilich wird die Unterwerfung unter den göttlichen Willen davon zurückhalten.

      Der Onkel in Gleiwitz hinterließ 6 Kinder. Die beiden ältesten Töchter – Zwillinge – wurden durch die Trauernachricht von einer Vergnügungsreise zurückgerufen. Sie waren sehr verwöhnt und hatten bisher keine ernste Arbeit kennengelernt. Nun wurden sie nach Breslau geschickt, um einen Kursus in einer Handelsschule durchzumachen und möglichst schnell kaufmännische Stellungen anzunehmen. Man brachte sie, getrennt voneinander, bei Schwestern ihrer Mutter unter. Wir hatten auch sie früher selten zu sehen bekommen. Jetzt besuchten sie uns öfters am Sonntag und schütteten

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