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Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften
Год выпуска 0
isbn 9788075830890
Автор произведения Edith Stein
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
V. Das Problem der Entstehung der Arten – Genus, Species, Individuum
I. Philosophie und positive Wissenschaft: Verfahren der exakten Wissenschaften; Verfahren der beschreibenden Naturwissenschaften; Gegensatz des wissenschaftlichen und des natürlichen Weltbildes; philosophische Deutung und Kritik des wissenschaftlichen Verfahrens und ihre methodischen Erfordernisse
Ehe wir in der Untersuchung der animalischen Welt fortfahren, möchte ich eine Besinnung über unser Verfahren und sein Verhältnis zum Verfahren der positiven Wissenschaften einschalten. Was wir tun, ist offenbar verschieden von all dem, was in den Einzelwissenschaften geschieht. Die Mathematik, Physik, Chemie beginnen mit der Definition gewisser Grundbegriffe wie Zahl, Größe, Ganzes – Teil oder Punkt, Linie, Fläche; Masse, Kraft, Energie; Element, Verbindung, Atom, Molekül, usw. Sie stellen Grundsätze auf, in denen diese Grundbegriffe vorkommen und leiten Lehrsätze daraus ab, oder sie suchen aus den Tatsachen der Erfahrung Gesetze abzuleiten, die es möglich machen, die Mannigfaltigkeit der Erfahrungstatsachen auf diese einfachen Grundbegriffe zurückzuführen. Die Welt der Erfahrung mit ihrer Fülle und Mannigfaltigkeit scheint etwas, wovon die »exakten« Wissenschaften hinwegstreben. Zwar suchen sie zunächst die Welt unserer Erfahrung zu erweitern, indem sie durch geeignete Hilfsmittel (Mikroskop, Fernrohr) die Sinne verfeinern. Aber an dem jeweils zugänglichen Erfahrungsmaterial vollziehen sie alle eine Abstraktion, und zwar eine jeweils verschiedene, und suchen die materielle Welt von einer bestimmten Seite her zu fassen. Uns dagegen ist es um die »Phänomene« in ihrer vollen Konkretion zu tun; von ihnen gehen wir bei unsern Beschreibungen aus, und wenn die Analyse uns zu Abstraktionen nötigt, so kehren wir doch immer wieder zu den vollen Phänomenen zurück, weil es uns darauf ankommt, sie in ihrem Aufbau zu verstehen.
Näher verwandt scheint unserm Verfahren das der beschreibenden Wissenschaften. Die Zoologie sucht ein möglichst getreues und umfassendes Bild der Tierspecies zu geben: ihrer äußeren Erscheinung, ihres Körperbaus, ihrer seelischen Funktionen, ihrer Lebensverhältnisse. Und sie hat Untersuchungsmethoden ausgebildet, die es ihr ermöglichen, Tatsachen zu ermitteln, zu denen die gewöhnliche sinnliche Erfahrung nicht vordringen kann (Mikroskop, physiologisches, psychologisches Experiment). Aber auch sie ist bei der Beschreibung der Tatsachen nicht stehengeblieben. Sie wollte die Tatsachen »erklären«, d. h. auf allgemeine Gesetze zurückführen, und lange Zeit ist es das Ideal gewesen, alle biologischen Tatsachen aus physikalischen und chemischen Gesetzen zu erklären. Da steht man auf einmal vor dem Ergebnis, daß die lebendige Welt gar keine lebendige sei: Die Wissenschaft vom Leben hat das Leben hinweginterpretiert, so wie der Physikus uns als Ergebnis der Farben- und Tonlehre erklärt, daß es keine Farben und Töne gibt, sondern nur Schwingungen. Der natürliche Verstand des naiven Menschen protestiert gegen dieses wissenschaftliche Weltbild. Und der Philosoph sieht sich aufgefordert, das Recht der vorwissenschaftlichen und der wissenschaftlichen Erfahrung nachzuprüfen. Das kann er nur, wenn er an den Ausgangspunkt des Erkenntnisweges zurückgeht, wenn er den ganzen Weg des forschenden Menschengeistes nachgeht und den Sinn seines Vorgehens zu ergründen sucht. Weil das aber Aufgabe der Philosophie ist, kann sie sich nicht auf die Ergebnisse der positiven Wissenschaften stützen, sie kann nicht, wie man es vielfach aufgefaßt hat, ein Sammelbecken sein, in dem alles Einzelwissen zusammengetragen wird, um daraus ein dem jeweiligen »Stand der Wissenschaft« entsprechendes Weltbild zu zeichnen. Andererseits kann sie nicht an dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaften vorbeigehen. Sie kann nicht als Typus der Physik die Physik des hl. Thomas und als Typus der Psychologie die Psychologie des Aristoteles nehmen. Aber diese für die moderne Wissenschaft »überwundenen Standpunkte« sind doch für sie nicht »erledigt«. Sie wird hier und dort Sinn und Ziel des Verfahrens prüfen und zu ergründen suchen, welche Berechtigung dem einen oder dem andern, am Ende gar beiden zukommt. Solche kritische Arbeit wird für den Philosophen nur möglich sein, wenn er auf der einen Seite mit der Methode der Wissenschaft vertraut ist, die er nachprüfen will, wenn er andererseits seinen Standort außerhalb hat, so daß er sie als Ganzes überschauen und beurteilen kann. Diese doppelte Arbeit zu leisten wird um so schwieriger, je mehr sich die Wissenschaften verzweigen. Praktisch wird dann auch für den Philosophen eine Spezialisierung nötig. Er wird zur philosophischen Problematik von dem Sachgebiet her Zugang finden, in das er sich auch fachwissenschaftlich einarbeiten kann (was in der persönlichen Veranlagung begründet ist); trotzdem wird er, wenn er radikal vorgeht, zur ganzen philosophischen Problematik kommen, weil sie etwas innerlich Zusammenhängendes ist. Das Eindringen in das Gebiet einer positiven Wissenschaft und ihr methodisches Verfahren ist aber für den Philosophen erst Vorarbeit. Um den Sinn dieses Verfahrens prüfen zu können, muß er den Blick auf das Verfahren selbst richten (was der Fachwissenschaftler im allgemeinen nicht tut), er muß »reflektieren«. Und dann muß er erwägen, ob das Verfahren sinngemäß, d. h. aber, ob es der Sache angemessen ist, die durch das Verfahren erschlossen werden soll. Das wird nur möglich sein, wenn der Philosoph einen andern Zugang zu den Sachen hat als der Fachwissenschaftler. Ob das Verfahren der Physik sinngemäß ist, wird man nur feststellen können, wenn man in die Grundstruktur der materiellen Natur einen Einblick hat, wie ihn die Physik selbst nicht gewinnen kann, der für ihr Verfahren vielmehr vorausgesetzt ist: sachlich vorausgesetzt, denn in der Regel folgt zeitlich die Kritik der Methode der praktischen Anwendung nach, nachdem einmal in den Anfängen einer Wissenschaft eine erste Besinnung stattgefunden hat. Nur wenn es möglich ist, eine Ontologie der Natur aus philosophischer Einsicht aufzubauen, kann eine Kritik der Naturwissenschaft und damit eine Rechtfertigung ihres Verfahrens geleistet werden. Diese allgemeinen Erwägungen sollen uns helfen, den Sinn einer naturwissenschaftlichen Theorie zu verstehen, die mit dem ganzen Fragenkomplex des organischen und animalischen Seins und dadurch mit den Problemen der Anthropologie aufs engste zusammenhängt.
II. Das Problem der Entstehung der Arten
Wir wollen versuchen, die Frage, die vor einigen Jahrzehnten die Gemüter so heftig bewegt hat, die Frage nach dem Ursprung der Arten, auf ihren Sinn hin zu prüfen.
1. Ausgangspunkt für die biologische und für die philosophische Betrachtung; Problem der »Species«: Verhältnis von Species – Individuum – Typus, Form – Materie
Ich möchte die Frage vorläufig auf die Tierspecies beschränken und die Abstammung des Menschen noch nicht mit hereinziehen. Das Phänomen, von dem philosophische wie empirisch-biologische Betrachtung ausgehen, ist die Mannigfaltigkeit der Species, in der sich die eine Idee des Tieres ausprägt. Die Biologie geht nun zunächst sammelnd und beschreibend vor. Sie sucht in möglichster Vollständigkeit festzustellen, welche Tierspecies auf der ganzen Erde vorkommen, und jede einzelne möglichst genau zu beschreiben. Der Vergleich der verschiedenen Formen ergibt die Möglichkeit, sie nach Einfachheit und Kompliziertheit in eine Reihe zu ordnen. Die Ähnlichkeit der einander in der Reihe nahestehenden Formen, sodann die Tatsache der Fortpflanzung innerhalb einer Species, der Erhaltung der Species durch Zeugung, wobei der Speciescharakter gewisse Modifikationen erleidet und sich in verschiedenen Spielarten ausprägt: Das alles führt zu der Fragestellung, ob die Reihe der Species sich als eine Deszendenzreihe auffassen lasse, ob die Species als auseinander und letztlich als aus einer Urform entstanden zu denken seien. Damit ist der Boden einer Beschreibung der Tatsachen verlassen, es ist eine Erklärungshypothese aufgestellt, die entweder aus allgemeinen Gesetzen bewiesen oder durch Experiment und Beobachtung gestützt werden muß. Das Erste würde über die Grenzen der Erfahrungswissenschaft hinaus, genauer: auf ihre Voraussetzungen zurückführen. Die Bemühungen, durch Züchtungsversuche