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um sie zu schützen. Es dauerte lange, ehe Kilikian die entscheidenden Worte eines Unterliegenden hervorwürgte:

      »Ich will bleiben!«

      Gabriel überlegte, ob er den Mann nicht völlig auf die Knie zwingen müsse, und zwar dergestalt, daß er ihn vor den versammelten Zehnerschaften zu flehentlicher Abbitte und einem verschärften Gehorsamsschwur verurteilte. Nicht nur Mitleid jedoch (das Bild des Elfjährigen), sondern ein innerster Instinkt rieten davon ab. Es wäre eines überlegenen Führers unwürdig gewesen, den Sieg über einen Schwachen voll auszukosten und die eigene Front mit einem ganz und gar erniedrigten Feind zu belasten. Daher nahm sein scharfer Offizierston eine Schwebung von Güte an:

      »Ich werde dich dieses erste und letzte Mal begnadigen, Kilikian, und will es eine kurze Zeit mit dir versuchen. Aber du bist nicht fähig, die geringste Verantwortung zu tragen, hüte dich, du bist beobachtet! Abtreten!«

      Der Triumph Gabriel Bagradians war so überwältigend, daß der Gemaßregelte militärisch grüßend an die Lammfellmütze griff, ehe er sich unauffällig davonmachte. Die Niederwerfung des aufsässigen Deserteurs, den alle fürchteten, begründete recht eigentlich erst die Machtstellung des Oberbefehlshabers. Tschausch Nurhan und die Gruppenführer nahmen unwillkürlich stramme Stellung. In manchem Auge stand zu lesen: Es zeigt sich doch, was ein geborener Herr ist. Dem peinlichen Auftritt hatte außer Aram Tomasian und Hapeth Schatakhian, die ja Mitglieder des Kriegskomitees waren, auch Lehrer Hrand Oskanian beigewohnt. Er sah nach seiner Art finster und mit erhabener Ablehnung der Umwelt drein. Gabriel Bagradian fiel das Gesicht des schwarzen Lehrers heute besonders auf. Hinter dieser selbstbewußten und alles verneinenden Miene schien sich Energie und Entschlossenheit zu verbergen. So klein Oskanian war, er verstand es wahrscheinlich, nicht nur Kindern Angst einzuflößen. Die Besatzung der Südbastion setzte sich zur Hälfte aus Deserteuren zusammen. Wie die Frechheit Kilikians gezeigt hatte, waren sie eines Erziehers und einer Aufsichtsperson bedürftig. Man mußte ihnen einen giftigen Stachel ins Fleisch bohren. Bagradian war überzeugt, in diesem von sich selbst besessenen Zwerg Oskanian den rechten Giftstachel gefunden zu haben. Auch bot sich ihm jetzt die Gelegenheit, die Kränkung wiedergutzumachen, die dem Schweiger dadurch widerfahren war, daß ihn Ter Haigasun in keinen der Unterausschüsse entsandt und keines besseren Amtes als nur des Schulehaltens für würdig befunden hatte. Bagradian bot deshalb dem finsteren Lehrer das Amt eines Kommissärs der Südstellung an. Er sollte in der Bastion für scharfe Ordnung und klaglosen Dienst sorgen, vor allem aber das kleinste Vergehen und die geringste Unbotsamkeit sogleich zur Anzeige bringen. Hrand Oskanian runzelte seine niedrige Stirn, so daß seine dicken schwarzen Augenbrauen zu einem Strich über der Nase zusammenwuchsen. Er schien mit Großartigkeit zu überlegen, ob diese teils erzieherische, teils büttelhafte Sendung seinem hohen Werte angemessen sei. Endlich stellte er seine Bedingung:

      »Wenn ich die Aufsicht über die Südbastion übernehmen soll, muß ich sehr gut bewaffnet sein, Bagradian Effendi, damit die Kerle sehen, daß mit mir nicht zu spaßen ist.«

      Lehrer Oskanian setzte es dann auch beim Waffenmeister Tschausch Nurhan durch, daß ihm nicht nur ein Karagewehr mit fünf Magazinen, sondern auch noch eine wuchtige Sattelpistole und ein breites Faschinenmesser ausgefolgt wurden. Dergestalt schwer bewaffnet, begab er sich unverzüglich auf den Dreizeltplatz, wo er mit gewichtigem Schritt auf Juliette zutrat, um ihr seinen neuen Rang zu melden. Gonzagues achtete er mit keinem Blick, von der Überzeugung erfüllt, daß der glatte Weichling vor ihm, dem Krieger, in nichts zerfließe.

      An diesem, dem ersten Tage des Musa Dagh flogen die Grabenarbeiten frisch von der Hand. Es bestand gute Aussicht, daß man noch vor Einbruch der Nacht mit den wichtigsten Befestigungswerken zu Ende kommen werde. Das Arbeitsfieber wirkte so begeisternd, daß unter Lachen und Gesang Vergangenheit und Zukunft vergessen schienen.

      Weit weniger zuversichtlich erwies sich der Gemütszustand in der Stadtmulde. Ter Haigasun und Pastor Aram hatten alle Hände voll zu tun, um mit den Problemen, die in jeder Minute verschwenderisch auftauchten, zur Not fertig zu werden. Bei der ersten Führerberatung schon hatte Gabriel Bagradian die große Eigentumsfrage zum Mißvergnügen Kebussjans und der anderen Muchtars und Reichen aufgeworfen. Jetzt sahen diese eingefleischten Besitzbauern selbst ein, daß es ein Leben auf dem Damlajik ohne Vergemeinschaftung des Herdeneigentums überhaupt nicht geben könne. Täglich mußten nach genauer Vorschrift soundso viel Schafe und Ziegen geschlachtet werden, wobei es ganz unmöglich war, auf die einzelnen Herdenbesitzer Rücksicht zu nehmen. Jeder Vernünftige sah ferner ein, daß die Schlachtung der Tiere von den Gemeindemetzgern auf einem hierfür bestimmten Platz vorgenommen werden müsse und daß eine Abordnung des Führerrates täglich die Verteilung des Fleisches an die Familien und Zehnerschaften zu beaufsichtigen habe, damit kein Unrecht geschehe und es nicht zu Unruhen komme. Da sich eines aus dem andern ergab, mußten die Muchtars schließlich sogar die Vorteile der gemeinschaftlichen Zubereitung des Fleisches einsehn. Doch nicht genug damit! Ihre Pflicht verlangte, daß sie das Notwendige nicht nur einsahen, sondern das Eingesehene dem Volke auch vermittelten und schmackhaft machten. Die Frischbekehrten hatten es nicht leicht, Vorkämpfer einer Ordnung zu sein, deren geborene Widersacher sie waren. In der Wohnungsfrage ließen sich die Gegensätze leichter vereinigen. Ter Haigasun hatte ja immer die Meinung vertreten, daß eine allzu harte und fugenlose Gemeinschaft dem Leben widerspreche und sich über kurz oder lang rächen müsse. So reibungslos wie möglich in einen neuen Alltag hereinwachsen, dies war die Formel, an die er glaubte. Das Wohngebiet wurde deshalb, soweit es nur ging, ausgedehnt. Morgen schon, wenn Arbeitskräfte und Werkzeuge in den Schanzwerken frei geworden waren, sollte Vater Tomasian nach einem Stadtplan Arams mit dem Bau der Laubhütten beginnen. Da es ungefähr tausend Familien auf dem Damlajik gab, waren auch tausend Wohnstätten vorgesehen, deren Größe von der Kopfzahl der Familie abhing. Holz und Zweigicht war in Überfülle vorhanden. Gabriel Bagradian hatte gestattet, daß ein Teil der Reserve schon am heutigen Tag die Bäume für die Siedlung fällen dürfe.

      Große Schwierigkeiten, doch die größte begann bei Brot und Mehl. Hier blieb Ter Haigasun angesichts der beklemmenden Sparnotwendigkeit unerbittlich. Alles, was die einzelnen Familien an Feldfrucht noch besaßen, Weizen, Bulgur, Mais, Kartoffeln, sowie alles, was sie in ihren Backtrögen gebacken und auf den Berg geschleppt hatten, mußte abgeliefert werden, ohne Pardon. Von diesem allgemeinen Vorrat sollte jede Familie bei der Fleischausgabe am Vormittag nur eine kleine Ration mitbekommen. Doch nicht allein das Mehl wurde dem freien Genuß entzogen, auch das Salz, der Kaffee, Tabak, Reis, Gewürz und alles sonstwie Kostbare, das die Sippen mit großer Mühe und weiser Berechnung heraufgeschafft hatten. Der Widerstand gegen diesen harten Beschluß währte stundenlang. Endlich drangen Aram Tomasian und die Muchtars mit Beschwörungen und Flüchen so weit durch, daß einige der tugendhafteren Familienväter mit ihrem Brot und Mehl, mit ihrem Kaffee und Tabak sich zögernd auf den Depotplatz begaben, wo das eingezogene Volksgut aufgeschichtet, geordnet und gebucht werden sollte. Diesen opferbereiten Helden folgten andre, und nach und nach die meisten, von Scham getrieben, denn auf den offenen Lagerstätten ließ sich das zurückbehaltene Eigentum nicht verheimlichen. Die Mehl- und Maissäcke häuften sich nebeneinander. Vater Tomasian bekam den Auftrag, schon in der ersten Frühe des nächsten Tages diese Vorratsstätte durch eine Speicherscheune vor dem Wetter zu schützen. Der Depotplatz bekam sogleich eine Wache von fünf Bewaffneten. Ter Haigasun bestimmte für diesen Dienst fünf Männer aus den ärmsten Dorffamilien. Nachdem all diese schwerwiegenden Fragen für den Augenblick geregelt waren, spürte der Priester, daß er die bedrückten und verstimmten Seelen des Lagervolkes aufrichten müsse. Er stellte daher nicht nur den baldigen Bau einer größeren Anzahl von Tonirs in Aussicht, sondern warf auch das Wort Harisa in die Menge, das seine beruhigende Wirkung nicht verfehlte.

      Harisa heißt eine Nationalspeise der Armenier schon seit undenklichen Zeiten. Wie alles Uralte, dem Gedächtnis der Generationen Entwachsene, ist auch diese Speise und ihre Zubereitung von einem Hauch des Religiösen und Feierlichen umwittert. Dies war auch der Grund, warum die bloße Erwähnung eines Harisa-Festes in dem verdüsterten Volke Traulichkeit verbreitete. Dabei bestand die Speise, gleich allen Abwandlungen der menschlichen Küche, nur aus wenigen und einfachen Bestandteilen, aus kleinen Lammfleischwürfeln, aus Fett, aus gehackten Knorpeln und Gorgod, grobgeschälten Weizengraupen, die dem Ganzen beigemischt waren. Doch die Materie war nicht das Wichtigste, handelte es sich doch bei Harisa um eine Festspeise,

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