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trotz Verschickung und Flucht dafür, daß sein Volk auch auf dem Damlajik nicht um eine der wenigen Lebensfreuden kommen sollte, die es besaß. Die Harisa-Freude lag aber nicht nur im Essen, sondern weit mehr noch in der Zeremonie der langwierigen Zubereitung. In den Tonirs mußte die ganze Nacht über ein mäßiges Feuer unterhalten werden, auf dem die Mischung langsam kochte. Am Morgen war dann das Wasser im Topfe verdunstet und nur mehr eine fest zusammengewachsene Masse blieb übrig. Jetzt aber begann erst das Vergnügen der Jugend. Lang vor der üblichen Zeit erhoben sich im Hause die jungen Burschen und Mädchen, um mit dem Klappstock Tentotz, der in jedem Gerätewinkel aufbewahrt wird, Harisa zu schlagen, denn die Masse mußte erst zurechtgeprügelt werden, wie in anderen Ländern der getrocknete Stockfisch. Dies alles war nur ein kleiner, blasser Teil der altberühmten und überlieferten Lustbarkeiten, die mit dem Harisa-Fest im Zusammenhang standen. Dank Ter Haigasuns Versprechungen hatte das Volk des Musa Dagh trotz allem ein solches Fest zu erwarten. Der Priester, Tatsachenmensch und Psychologe zugleich, verfolgte mehrere Absichten damit. Erstens: Er wußte, daß der Mensch zugrunde geht, wenn er sich nicht auf irgend etwas, und sei es auch das Geringste, freuen kann. Zweitens: Harisa ist keine reine Fleischspeise, da sie einen Mehlzusatz enthält. Sie hilft Brot sparen und befriedigt doch das Bedürfnis danach. Drittens: Harisa verdirbt nicht. Sie ist kalt und warm genießbar, äußerst sättigend und bedeutet folglich den besten Kriegsproviant. Viertens: Der armenische Bauer und Handwerker fühlt sich in einer Welt nicht zu Hause, wo es keinen Tonir gibt. Vielleicht kommt das daher, weil der Tonir einst der Altar der Feueranbetung gewesen ist, weshalb ihn auch heute noch die Gefühle eines göttlich gesicherten Heimwesens umschweben mögen. Ter Haigasun strebte nichts tatkräftiger an, als seinen Gemeinden hier in der Wildnis und Todesumschlungenheit das Bewußtsein zu schenken: Wir sind zu Hause. Dafür sollten trotz aller Opfer und Entbehrungen die Tonirs und Harisa sorgen. Dies plante der kluge Priester; und kaum hatte er die vertrauten Worte gesprochen, hellte eine Welle von Zufriedenheit die murrenden Gesichter auf.

      Ter Haigasun, Gabriel und der Führerrat rechneten ohne Selbstbetrug mit der Vernichtung, die den Musa Dagh von allen vier Weltrichtungen her bedrohte. Mit einer Richtung der Gefahr jedoch hatten sie bisher wenig gerechnet. Und gerade aus dieser Richtung brach noch vor Sonnenuntergang ein Unheil herein, das nie wieder gutzumachen war.

      Die Arbeiten schritten heute immer besser vorwärts, schon deshalb, weil die Sonne bedeckt war. Sie schleuderte ihre Hochsommerstrahlen nicht auf die armen Rücken der Roboter, und niemand mußte sich vor ihr schützen. Obgleich aber die Sonne bedeckt war, standen doch keine Wolken am Himmel, und man konnte auch nicht sagen, daß es kühler geworden sei. Die Luft war von einer wolkig trüben Substanz durchdrungen, von einem spülichtfarbenen Bodensatz des Weltalls wie von unreiner Gesinnung; anstatt der offen brennenden Hitze lastete Schwüle bergschwer auf allen Dingen. Das Meer lag ganz glatt. Manchmal überlief es ein Gluthauch vom Westen, ohne seine feste Fläche zu ritzen. Doch trotz dieser schweren Bewegungslosigkeit der See umsprang vom Mittag an die Brandung mit unterdrücktem Zorn immer lebhafter die Klippen. Die Menschen, von ihren Sorgen und Mühen besessen, hatten des scheeläugigen Wetters nicht acht. Der plötzliche Überfall des Himmels gelang daher vollkommen. Vier, fünf einherratternde Sturmstöße wie ein kurzes Kriegsmanifest. Der ganze Damlajik, jeder Felsblock, jeder Baum, jeder Myrten- und Rhododendronstrauch ein einziger aufhorchender Schreck! Dann das Einsatzzeichen eines entsetzlichen Donnerschlags. Und schon ritt das blitzschnelle blitzreiche Südgewitter die rasselnde Attacke, alles in seinen dicht-erstickenden Staub hüllend. Die Matten, die Decken, die Betten, die Kissen, die Laken, die Tücher, die Töpfe, die Krüge, die Lampen, das Leichte, das Schwere, alles klirrte und wimmerte auf, wurde gestürzt, im Kreise gedreht oder davongetragen. Auch die Menschen schrien auf, begannen die boshaft entwischenden Sachen zu jagen, stießen einander an, zertraten das Gut des Nächsten. Den Schlachtlärm aber überbrüllte das jammernde Aufbegehren der kleinen Kinder, als verstünden sie die geheime Bedeutung dieser himmlischen Züchtigung am ersten Tage. Kurz darauf warf die wilde Jagd nach der fliegenden Habe ein Hagel nieder, wie ihn das Bergvolk noch niemals erlebt zu haben wähnte. Nach vergeblichem Widerstand legten sich viele platt auf die dampfende Erde hin und boten ihre Rücken der peitschenden Bastonnade dar. Sie bissen in die Erde. Sie wollten vergehn. Ein Ruf plötzlich: Die Munition! Glücklicherweise aber hatte Gabriel Bagradian die Patronenverschläge in das Scheichzelt bringen lassen und Tschausch Nurhan für die Trockenhaltung des unverarbeiteten Pulvers vorgesorgt. Der zweite Gedanke galt den Lebensmitteln. Die Männer stürzten schreiend zum Depotplatz. Zu spät! Die Fladen waren in klebrigen Teig verwandelt, die Brotlaibe in aufgebrochene Schwämme. Alle Mehlsäcke qualmten wie gelöschter Kalk. Und diese Vernichtung war das schwerste Unheil. Der größte Teil des Salzes verlief in der Erde. So mancher dachte der uralten Drohung, daß der Mensch dereinst am Jüngsten Tage alles durch seine Schuld vergossene Salz werde mit den Augenlidern aufsammeln müssen. Angesichts der Katastrophe gaben sie den Kampf auf. Naß bis auf die vom Hagelschlag gepeitschte Haut setzten sie sich auf den morastigen Boden, gleichgültig gegen den Wolkenbruch, der sie mit fingerdicken Strähnen traf. Nicht einmal die Frauen weinten und jammerten mehr. Stumm hüllte sich jeder in brütende Einsamkeit, einen unaussprechlichen Groll gegen Ter Haigasun und den Führerrat im Herzen hütend, die das Depot und den gottverfluchten Ablieferungsbefehl auf dem Gewissen hatten. Nichts erleichtert im Mißgeschick das menschliche Herz so wohltätig wie der Trieb, bestimmte Personen auch für ein elementares Unheil schuldig zu sprechen und mit Vorwürfen zu überhäufen. Auch das zürnende Volk des Damlajik bedachte erst viel später, daß jene von Ter Haigasun verfügte Ablieferung von Brot und Mehl mit dessen Untergang nichts zu schaffen hatte, da dieses im Privatbesitz ebensowenig wäre zu retten gewesen. In den Augen der Bauern aber schien sich der Himmel mit unerbittlicher Strafhärte gegen die Gemeinschaftsordnung und für das Einzeleigentum entschieden zu haben. Die bekehrten Muchtars mit dem schielenden Thomas Kebussjan an der Spitze fielen auch sogleich um und mischten ihre Knurrstimmen unter die Vorwürfe, Anklagen und Flüche, die auf den Priester einstürmten. Ter Haigasun hielt den wilden Anfeindungen mit gesenktem Haupte im abklingenden Regen stand, während ihm die Kutte am Leibe klebte und das Wasser aus dem Barte rann. Brot und Mehl waren für immer vernichtet. Der Priester konnte mit der entsetzlichen Frage nicht fertig werden, warum Gott die menschliche Vorausberechnung von unschuldig Verfolgten binnen zehn Minuten zuschanden gemacht hatte. Und dies, bevor noch der erste Tag des Musa Dagh zu Ende gegangen war. Eine einzige Persönlichkeit hatte sich gegen den Sturmangriff von oben mit energischer Umsicht zur Wehr gesetzt und ihr Brot verteidigt, das freilich geistiges Brot war. Die ersten Windstöße raubten dem alten Krikor sogleich ein paar Bände. Er aber war klug, ließ diese Opfer fahren und warf sich mit seinem ganzen Gewicht quer über die Mauer, die er aus Bücherziegeln errichtet hatte, sie mit Händen und Füßen umklammernd. Trotz dieser Zwangslage war der Apotheker geistesgegenwärtig genug, zwei Zeltbahnen und eine Decke herauszuzerren und damit den größten Teil seines Schatzes trockenzuhalten, bis ihn sein tauber Hausknecht erlöste. Noch bis zum letzten Schein der Dämmerung sah man ihn dann, wie er mit unbewegter Mandarinenwürde die sturmentführten Bücher hinter jedem Strauch und Stein hervorsuchte, bis er sie alle gerettet hatte.

      Die Sonne ging in farbig zerrissenen Himmelsgebirgen unter, die von nichts mehr wußten. Nur die Vögel lärmten wieder bis zum letzten Lichtaugenblick, als hätten sie etwas nachzuholen. Die Menschen waren überaus still geworden. Männer, Weiber und Kinder liefen halbnackt durcheinander. Die Hausfrauen spannten Hanfstricke zwischen den Bäumen und hängten das ganz und gar durchnäßte Zeug zum Trocknen auf. Nun wollte sich keiner mehr auf den Erdboden niederlassen. Doch ehe noch der Mond kam, hatte die durstige Sommererde die letzte Feuchtigkeit bereits in ihre Tiefen eingesaugt. Die Lagerfeuer aber wollten trotzdem nicht auflodern, denn an Holz und Reisig hing noch immer der dicke Regen. Die einzelnen Familien hockten dicht beisammen und kehrten den Nachbarsippen verstimmt und boshaft den Rücken zu. Später schliefen sie ohne Matten, Matratzen, Decken und Kissen, die bis zum nächsten Abend kaum trocken sein konnten, auf der nackten Erde ein. Die Menschen lagen zu einem Knäuel verwickelt, denn ein Körper wollte im Unglück den andern berühren, eine Trauer sich der andern versichern. Die Mannschaften des ersten Treffens schliefen in den Stellungen draußen, nachdem sie das Wasser aus den kaum fertiggebrachten Gräben hatten schöpfen müssen. Auch Gabriel ließ sich seine Matratze und seine Decken in die Nordstellung hinaustragen. So erschöpft er war, sein Entschluß stand fest, nicht um ein Haar anders und besser zu leben als seine Kämpfer. Juliette hatte er heute nur einen Augenblick

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