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er seit Monaten keine europäische Zeitung gelesen hatte und von Paris und vom Kriege so gut wie nichts wußte.

      Bereits am vorigen Abend hatte er Awakian und Kristaphor mit all seinen Leuten auf den Damlajik geschickt, damit sie in Juliettens neuer Wohnstätte alles Erdenkliche mit größter Umsicht vorbereiteten. Für den Dreizeltplatz mußte eine eigene Küche und Waschküche sowie noch andre Notwendigkeiten errichtet werden. Gabriel bestimmte, daß Juliette über alle drei Zelte zu verfügen habe. Es blieb ihr allein die Wahl derer vorbehalten, die sie in ihre Wohnung aufzunehmen für gut befand. Unter großen Mühen wurden nicht nur Teppiche, Kohlenbecken, Diwans, Tische und Stühle auf den Damlajik geschleppt, sondern auch eine erstaunliche Menge mondäner Gepäckstücke, Schrankkoffer, funkelnde Ledertaschen, Kassetten für Geschirr und Tafelbesteck, eine ganze Sammlung von Toilette- und Arzneimitteln, von Wärm- und Thermosflaschen. Gabriel wünschte, daß der Anblick dieser abendländischen Gegenstände Julietten die Kraft gebe, ihr Los zu ertragen. Sie sollte wie eine Fürstin leben, die aus einer abenteuerlichen Neigung mit einem großen Troß unwirtliche Gegenden bereist. Gerade deshalb aber mußte Gabriels eigenes Leben vor den Augen des Volkes doppelt hart und dürftig sein. Er war fest entschlossen, weder in einem der Zelte zu schlafen, noch auch sich aus der Küche des Dreizeltplatzes zu verköstigen.

      Vom Kirchhof heimgekehrt, traten die Leute von Yoghonoluk nochmals in ihre Häuser, die nicht mehr die ihren waren. Auf jeden einzelnen warteten verschnürte Riesenlasten, die seine Kräfte überstiegen. In dumpfer Unentschiedenheit gingen sie, den Abend erwartend, in ihren Stuben hin und her. Da lag noch eine verstoßene Matte, da stand noch ein Leuchter, und hier, Christus Erlöser, das Bett, die teure Bettstelle, zusammengespart in fleißigen Jahren, damit man ein besserer Mensch sei und diese Ehe- und Familienfestung besitze. Und dieses Bett mußte an Ort und Stelle zurückbleiben, dem türkisch-arabischen Dorfgesindel zum Raub. Die Stunden zogen langsam. Und während der endlosen Zeit wurde immer wieder aus- und umgepackt, damit dies oder jenes überflüssige Unding noch Platz in den Bündeln finde. Auch in der baufälligsten Lehmhöhle spielte sich dieser herzzerreißende Abschied vom Gerümpel ab, das der Mensch in seinen Traum und seine Liebe hüllt.

      Wie alle anderen wanderte auch Gabriel Bagradian am späten Nachmittag durch die Räume seines Hauses. Sie waren tot und leer. Juliette hatte mit ihren Hausgenossen und Gonzague Maris den Weg auf den Berg schon vor Stunden angetreten. Da es ein unerträglich heißer Tag war, sehnte sie sich nach dem Schattenhauch der Bergeshöhe. Auch wollte sie nicht in das Gedränge der aufbrechenden Dorfbewohner geraten. Gabriel, der sonst das flüchtigst bewohnte Hotelzimmer mit einem leicht sentimentalen Bedauern verließ (denn überall läßt man sich selbst zurück wie einen geliebten Toten), blieb völlig gleichgültig und kalt. Das Haus seiner Väter, die Stätte der Kindheitserlebnisse, der Wohnort dieser letzten entscheidenden Monate sprach nicht zu ihm. Er wunderte sich über seine Gefühlsstumpfheit, aber es war so. Das einzige, worum es ihm ein wenig leid tat, waren seine Antiken, die Sammlerfreude der ersten glücklichen Wochen in Yoghonoluk. Immer wieder ging er von Apoll und Artemis zu dem schönen Mithras, die Götterköpfe mit weicher Hand berührend. Dann aber wandte er sich mit einem scharfen Ruck zur Tür des Selamliks und gab das Haus samt seinen Penaten auf, für immer. Er wollte nichts mehr sehen, sog all seine Sinne ein und trat aus dem Tor.

      Auf dem Wirtschaftshof linker Hand vom Hause spielte sich gerade eine ungewöhnliche Szene ab. Der Abschaum Yoghonoluks, der ins Berglager nicht mitziehen durfte, hatte sich hier zusammengerottet. Die Klageweiber, die prophetenhäuptigen Bettler und ein paar verwahrloste Rotznasen, die ihren Eltern durchgegangen waren, bildeten eine erregte Gruppe. Daß sich Sato, die Waise von Zeitun, unter ihnen befand, ist selbstverständlich. Die kleine Gruppe wurde von einer Persönlichkeit überragt, deren eindrucksvoller Macht sich auch Gabriel nicht entziehen konnte. Nunik, die Alte, war's, die Oberste der Heilkünstlerinnen und Beschwörungsfrauen. Das dunkle Gesicht dieses weiblichen Ahasver, dessen Anfänge sich im Grau der Vorzeit verloren, war nicht nur durch eine halbzerfressene Nase gekennzeichnet, sondern auch durch schreckliche Energie, die Nunik zur unwiderstehlichen Herrscherin ihrer Kaste erhob. Die Geschichte mit ihren hundert und mehr Jahren mochte ein platter Schwindel sein, für den sie aus Geschäftsgründen selbst sorgte, dennoch aber schien ihre zeitlose Greisengestalt für den Wert ihrer Kuren und die Heilsamkeit eines entbehrungsvollen Lebens unverwüstlich zu zeugen. Nunik hielt ein kleines schwarzes Lamm zwischen ihren stockdürren Schenkeln und schnitt dem Tier, das sich wohl verlaufen hatte, von unten her mit einem Messer die Kehle durch. Es schien ein besonderer fachgerechter Schnitt zu sein, den sie mit ruhiger Hand führte, während ihre Lippen ein blendend unversehrtes Jugendgebiß unter der greulichen Lupusnase freiließen. Dadurch entstand ein Ausdruck grinsenden Wohlbehagens, der Bagradian so empörte, daß er die Gesellschaft anfuhr:

      »Was tut ihr da, ihr niederträchtigen Diebe?«

      Einer der Propheten tastete sich vor, um Gabriel voll großer Würde zu belehren:

      »Es ist die Blutprobe, Effendi, und sie geschieht für euch.«

      Bagradian war nahe daran, sich auf das Gesindel zu stürzen:

      »Wem habt ihr das Tier gestohlen? Wißt ihr nicht, daß jeder, der sich am Gut des Volkes vergreift, erschossen oder aufgehängt wird?«

      Der Prophet überhörte mit hoheitsvoller Nachsicht diese kränkende Drohung:

      »Gib lieber acht, Effendi, wohin das Blut fließen wird, ob zum Berg, ob zum Haus.«

      Gabriel Bagradian sah, wie das schwarze Blut des Lämmchens, das pulsend hervorstürzte, sich auf der völlig ebenen Bodenstelle zu einer dicken Pfütze sammelte, die kreisförmig so lange wuchs, bis die letzten großen Tropfen niederfielen. Dann verblieb die Lache bewegungslos, ja unentschlossen, als müsse sie erst eine geheimnisvolle Weisung abwarten. Nun wagten sich zaghaft drei kleine Zungen vor, die aber sogleich wie zurückgerufen erstarrten, bis plötzlich ein nervöses Rinnsal sich eilig schlängelnd auf das Haus zu bewegte. Der Haufen geriet in wilde Erregung:

      »Koh jem! Das Blut geht zum Haus!«

      Nunik beugte sich tief über die Lache, als könne sie aus Art und Zeitmaß der Blutbewegung mit größter Genauigkeit das Wissenswerte erfahren. Als sie den Kopf wieder hob, erkannte Gabriel, daß ihr entstelltes Gesicht keinen andern Ausdruck besaß als jenen grinsenden, der ihn empört hatte. Sonderbarerweise aber sprach sie mit einer weichen Altstimme, die gar nicht zu ihr gehörte:

      »Das Volk des Berges wird gerettet werden, Effendi.«

      Im selben Augenblick fielen Bagradian die beiden Münzen ein, die er vom Agha Rifaat Bereket zum Geschenk erhalten und im Hause zurückgelassen hatte. Ich muß sie unbedingt mitnehmen, dachte er, es wäre schade darum. Er ging noch einmal in die Villa zurück, zögerte an der Tür – man soll vor Antritt einer Reise nicht wieder zurückkehren –, lief dann mit langen Schritten über die Treppe in sein Schlafzimmer und holte die goldene und die silberne Münze aus ihrer Kassette. Er hielt die goldene gegen das Licht. In erhabener Arbeit hob sich der Armenierkopf Aschot Bagratunis ab. Auf der silbernen zog die griechische Inschrift fast unentzifferbar ohne Worteinschnitte ihren Kreis:

      »Dem Unerklärlichen in uns und über uns.«

      Gabriel steckte beide Münzen in die Tasche. Dann verließ er den Garten durch die westliche Tür der Umfassungsmauer, ohne sich nach der Villa umzusehen. Nach einigen Schritten blieb er stehen und zog seine Uhr auf, die eigensinnigerweise noch immer europäische Zeit zeigte. Die Sonne stand bereits über dem Damlajik. Gabriel Bagradian merkte sich genau die Stunde und Minute, in der das neue Leben begann.

      Kurz nach Sonnenuntergang war das Volk der sieben Dörfer sippen- und familienweise aufgebrochen, um schwerbeladen auf den verschiedenen, jeweils nächstgelegenen Zuwegen den Berg emporzustreben. Obgleich die Bewohner dieses Tales nicht arm waren, so besaß doch nur der kleinere Teil der Familien einen eigenen Reit- oder Packesel. Oft hielten zwei Familien ein Tier gemeinsam. An Markttagen in Suedja oder Antakje erboten sich die Besitzer eines Packesels, auch die Ware der ärmeren Landsleute aufzuladen. Es war ein alter Brauch, daß einer dem andern in diesen Dingen aushalf. Einsam und abgesondert am Rande des Meers, am Rande des Islams lebend, leichtwiegende Artikel wie Seidengespinst, Holzschnitzerei und Honig ausführend, bedurften die Menschen des Musa Dagh keiner reicheren Verkehrsmittel.

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