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im Schnellgericht abgeurteilt und erhielt drei Jahre schweren Kerkers. Kaum also war er der russischen Katorga entkommen, als ihn die türkische gastfreundlich aufnahm. In dem Gefängnis von Erzerum legte der unerforschliche Bildhauer der Kreatur die letzte Hand an Sarkis Kilikian. Jene geheimnisvolle Gleichgültigkeit entstand, die Gabriel Bagradian schon an dem nächtlichen Gespenst verspürt hatte, eine Gleichgültigkeit, die mit diesem Wort nur angetastet und nicht erschöpft wird. Erst die Monate, die dem Ausbruch des großen Krieges vorangingen, setzten der Zuchthausstrafe ein Ende. Obgleich ihn der ausmusternde Arzt für mindertauglich erklärte, wurde Kilikian sofort unter die Rekruten eines Erzerumer Infanterieregimentes gesteckt. Das Leben, das er nun führte, glich wenigstens entfernt einem Menschenleben. Dabei zeigte es sich, daß sein äußerlich hinfälliger Körper über unverwüstliche Kraft und Zähigkeit verfügte. Auch schien das Soldatenwesen, trotz aller Gebundenheit, der Natur Sarkis Kilikians noch am ehesten zu entsprechen. Sein Regiment nahm im ersten Kriegswinter an dem denkwürdigen Kaukasus-Feldzug Enver Paschas teil, in dessen Verlaufe der zarte Kriegsgott nicht nur ein ganzes Armeekorps einbüßte, sondern selbst mitsamt seinem Hauptquartier beinahe in russische Gefangenschaft geriet. Die Abteilung, welche die Flucht des Stabes deckte und damit Envers Freiheit und Leben rettete, bestand fast durchwegs aus Armeniern, und ein Armenier war's, der den Generalissimus auf seinem Rücken aus der Linie trug. (Als Schatakhian den Sarkis unter diese Armenier versetzte, warf Gabriel, der eine legendarische Ausschmückung des Lehrers fürchtete, dem alten Tschausch Nurhan einen forschenden Blick zu. Dieser aber nickte mit ernster Gemessenheit.) Ob sich nun Kilikian unter diesen Tapferen geschlagen hatte oder nicht – der Dank Envers an die ganze Nation folgte der Rettung jedenfalls auf dem Fuße. Kaum waren die Erfrierungswunden des Soldaten Sarkis halbwegs geheilt, kaum hatte er sein Lager auf den Steinfliesen des überfüllten Hospitals mit seinem Lager auf den Steinfliesen der überfüllten Kaserne wieder vertauscht, als der Befehl des Kriegsministers verlesen wurde, der alle Armenier aus den Kompanien schmachvoll ausstieß, sie der Waffen beraubte und zu Inschaat Taburi, zu verächtlichen Armierungssoldaten, erniedrigte. Man hetzte sie aus allen Winkeln zusammen, nahm ihnen die Gewehre ab und trieb sie in elenden Rudeln nach Südosten, in die hüglige Gegend von Urfa. Dort mußten sie, hungernd und allstündlich von der Bastonnade bedroht, die Steine zum Bau einer Straße herbeischleppen, die in der Richtung auf Aleppo angelegt wurde. Ein eigener Befehl verbot ihnen, sich durch Tragpolster gegen die kantigen Lasten zu schützen, obgleich schon in den ersten glutheißen Arbeitsstunden ihre Schultern und Nacken blutig gescheuert waren. Während alle anderen stöhnten und jammerten, stapfte Sarkis Kilikian lautlos den Weg vom Steinbruch zum Straßenstück, vom Straßenstück zum Steinbruch, als habe sein Körper längst schon vergessen, was Schmerz sei. Eines Tages ließ der Hauptmann alle Mannschaften der Inschaat Taburi antreten. Unter diesen befanden sich zufalls- oder strafweise auch einige Mohammedaner. Sie wurden aus den Reihen gesondert. Die waffenlose Armenierschar aber marschierte unter Führung von zwei Offizieren ungefähr eine Stunde weit weg von ihren Quartieren, in ein liebliches Tal, das sich zwischen zwei Hügeln verengte. »Das sind die Hügel von Tscharmelik«, sang ein Argloser, der aus dieser Gegend stammte und sich des freien Tages unbändig freute. Doch auf dem sanften Rasen dieses Tals empfing sie nicht nur Thymian und Rosmarin, Orchideen, Pimpernell und Melissen, sondern höchst merkwürdigerweise auch eine kriegsmäßig ausgerüstete Kompanie. Die Armenier ahnten nichts. Als man sie an der Hügellehne ein langes Glied bilden ließ, ahnten sie noch immer nichts. Dann ging ohne alle Umstände und Vorbereitung das Feuer urplötzlich am rechten Flügel los. Schreie durchschnitten die Luft, weniger Schreie der Todesangst als der Ausbruch eines unermeßlichen Erstaunens. (Eine Frau, die unter den Zuhörern saß, unterbrach hier den Lehrer Schatakhian: »Kann Gott unter seinen Engeln diese Schreie vergessen?« Dann packte sie selbst ein Weinkrampf, den sie nur mühsam ersticken konnte.) Sarkis Kilikian warf sich geistesgegenwärtig auf die Erde. Die Kugeln zirpten über ihn hinweg. Er entging ein zweites Mal dem türkischen Tod. Unter Leichen und hilflos Verreckenden blieb er liegen, um die Finsternis abzuwarten. Doch lange vor Abend noch bekam die blumige Mordstätte Enverscher Nationalpolitik neuerlichen Besuch. Die Leichenfledderer der Gegend wollten das ärarische Gut, das die »Hingerichteten« an sich trugen, nicht vorzeitig verkommen lassen. Auf die festen Militärstiefel hatten sie es besonders abgesehen. Während ihrer schwierigen Arbeit ächzten sie eines jener Lieder, welche die Austreibung hervorgebracht hatte. Es begann mit dem lautmalenden Vers: »Kessé, kessé sürür jarlara. – Mordend, mordend hetzt man sie.« Auch an Kilikians Stiefel kam die Reihe. Er spannte seine Muskeln zum Zerreißen an, um Leichenstarre zu simulieren. Die Totenräuber zerrten und zogen wütend an seinen Füßen, es fehlte nicht viel und sie hätten sie ihm mit einer Hacke abgeschlagen, um der Stiefel habhaft zu werden. Endlich aber empfahlen sich auch diese herzhaften Kunden, ein neues Lied auf den Lippen: »Hep gitdi, hep bitdi! – Alle fort, alle hin!« In dieser Nacht begann Sarkis Kilikians ungeheuerliche Irrfahrt. Die Tage brachte er in wilden Verstecken zu, die Nächte lief er auf unbekannten Pfaden durch Steppen und Sumpffelder. Er nährte sich von nichts, das heißt von dem, was überall aus der Erde wuchs. Nur selten wagte er sich in ein Dorf, um in tiefer Dunkelheit an eine armenische Tür zu klopfen. Wahrhaftig, nun zeigte es sich, daß Sarkis einen Teufelskörper mit übermenschlichen Kräften besaß. Das lederumspannte Gerippe, das er war, starb nicht am Wege, sondern erreichte in den ersten Apriltagen Dört Yol, die alte Heimat. Ohne der Gefahren zu achten, ging Kilikian auf sein Vaterhaus zu, aus dem ihn vor zwanzig Jahren weinende Menschen hinweggeführt hatten. Das Haus war dem Gewerbe seines Vaters treu geblieben; ein Uhrmacher und Goldschmied bewohnte es. Das wohlbekannte Feilen und Feingehämmer drang aus dem Laden. Sarkis trat ein. Der entsetzte Uhrmacher wollte ihn schon hinausjagen, als Sarkis seinen Namen nannte. Darauf beriet sich der neue Hausvater mit seiner Familie. Dem Flüchtling wurde eine Schlafstelle in dem großen Zimmer angewiesen, wo sich das Furchtbare ereignet hatte. Die Kugelspuren an der Wand waren nach zwanzig Jahren noch immer zu sehen. Kilikian hielt sich zwei Tage lang an dieser Zufluchtstätte auf. Der Uhrmacher verschaffte ihm inzwischen ein Gewehr und Munition. Auf die Frage, womit man ihm sonst noch helfen könne, bat er nur mehr um ein Rasiermesser, ehe er nach Einbruch der Dunkelheit verschwand. Schon in der übernächsten Nacht begegnete er im Dorfe Gomaidan zwei Deserteuren, die ihm mit der Miene von gewiegten und verläßlichen Kennern den Musa Dagh als wohlerprobten Aufenthaltsort anempfahlen.

      Das ist die Geschichte Sarkis Kilikians, des Russen, wie sie sich aus Lehrer Schatakhians Erzählung, aus Tschausch Nurhans zustimmendem Schweigen, aus den Einwürfen und Beifügungen andrer Zuhörer in Gabriel Bagradians empfindsam mitformendem Geiste spiegelte. Der abendländische Mensch erschauerte in Ehrfurcht vor der Schicksalswucht eines solchen Lebens und vor der Kraft, die unter ihm nicht zusammenbrach. In die Ehrfurcht aber mischte sich auch Grauen und der Wunsch, diesem Opfer der Kerker und Kasernen möglichst aus dem Wege zu gehen. Nach langer nächtlicher Beratung mit Tschausch Nurhan beschloß Bagradian, den Russen und die übrigen Deserteure unter die Besatzung der Südbastion zu verteilen. Sie war der sicherste Punkt der gesamten Verteidigung und lag überdies am weitesten vom Volkslager entfernt.

      Am dritten Morgen kehrte alles in die Dörfer zurück. Nur einige verläßliche Wachen blieben bei den Vorräten und Waffen auf dem Damlajik zurück. Ter Haigasun selbst hatte diese Anordnung getroffen. Die Saptiehs durften bei der Waffensuche keine leeren oder halbleeren Häuser vorfinden. Das auffällige Fehlen der Jugend hätte sich weder durch die gottergebene Schar Pastor Nokhudians in Bitias noch auch durch den gesetzten Volksteil in den anderen Dörfern verschleiern lassen. Gabriel Bagradian hatte die Anordnung des Priesters erwartet. Vermutlich steckte noch eine erzieherische Absicht hinter ihr. Die Jugend des Musa Dagh, die bisher alle Greuel nur vom Hörensagen kannte, sollte der lebendigen Wirklichkeit in die Augen sehen, um dann den Kampf mit der allerletzten Verzweiflung zu führen.

      Genau zur Stunde, die Ali Nassif vorausgesagt hatte, trafen die Saptiehs in Yoghonoluk ein, etwa hundert an Zahl. Es lag offensichtliche Geringschätzung darin, daß die Behörde mit so wenig Bewaffneten den großen Bezirk auszuheben gedachte: Die armenischen Hammel leisten keinen Widerstand, wenn man sie zur Schlachtbank führt. Die wenigen, der Regierung hochwillkommenen Gegenbeispiele beweisen nichts. Wie könnte sich ein schwaches Handelsvolk mit einem heroischen Wehrvolk messen?! Die Antwort auf diese Frage bildeten die hundert nach Yoghonoluk entsandten Gendarmen. Dies aber waren nicht mehr die gemütlichen Mordgesellen von Anno Abdul Hamid. Keine von Pockennarben entstellten Gesichter, deren treuherzig-grausames Zwinkern anzeigte,

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