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zum erstenmal den betäubenden Pulverrauch. Er verstand anfangs gar nicht, was geschehen war, als sich sein Vater über das Tischchen wie zur Arbeit beugte, es aber sogleich mit sich zu Boden riß. Ohne einen Laut flitzte Sarkis ins Familienzimmer zurück. An der Wand wartete hoch aufgerichtet die blonde Mutter, ohne zu atmen. Ihre Hände umkrampften rechts und links das zweijährige und das vierjährige Mädchen. Ihre Augen hielten den Korb mit dem Säugling fest. Der siebenjährige Mesrop starrte verlangend nach dem herrlichen Hammelkebab, das auf dem Tische noch immer friedlich dampfte. Als aber die Bewaffneten in den Raum drangen, hatte Sarkis die Schüssel mit dem Hammelkebab schon gepackt und schleuderte sie dem Führer mit einem verzweifelten Schwung mitten ins dicke, rosige Gesicht. Aufschreiend duckte sich der tapfere Beamtenjüngling, als sei er von einer Granate getroffen. Der braune Saft der Speise rann ihm über den prächtigen Rock. Dem ersten Wurfgeschoß folgte der große Wasserkrug aus Ton, der schon eine bessere Wirkung erzielte. Der Truppführer blutete aus der Nase, trieb aber mit wehleidigem Gebrüll seine Mannschaft vor. Der kleine Sarkis stellte sich, mit dem Fleischmesser bewaffnet, schützend vor seine Mutter. Diese armselige Waffe in Händen eines Elfjährigen genügte, daß die unüberwindlichen Hamidijehs es auf einen Nahkampf nicht ankommen ließen, obgleich die Frau noch jung und hübsch war. Einer von ihnen warf sich mit einem feigen Schwung auf den Wiegenkorb, riß die quäkende Kreatur aus den Decken und zerschmetterte den Schädel des Kindchens an der Wand. Sarkis preßte sich dicht an den erstarrenden Leib der Mutter. Zwischen ihren festgeschlossenen Lippen wimmerte es sonderbar hervor. Und dann begann das donnernde Gekrache und Geknatter auf eine Frau und vier Kinder, ein Feuer, das genügt hätte, ein Regiment in die Flucht zu schlagen. Das Zimmer war von Qualm erfüllt, und die Bestien schossen schlecht. Es war wie eine abgekartete Teufelei des Schicksals, daß Sarkis von keiner einzigen Kugel getroffen wurde. Als erster starb der siebenjährige Mesrop. Die Leichen der beiden kleinen Mädchen hingen schlaff an den Händen der Mutter, die sie nicht losließ. Ihre große volle Gestalt stand straff und unbewegt. Ein Schuß traf sie in den rechten Arm. Sarkis fühlte mit seinem Rücken den kurzen Schlag, der sie durchzuckte. Zwei andre Schüsse zerschmetterten ihr die Schulter. Sie stand regungslos und ihre Hand ließ das Kind noch immer nicht. Erst als zwei weitere Kugeln ihr das halbe Gesicht wegrissen, schwankte sie vor, neigte sich über Sarkis, der sie festhalten wollte, überströmte sein Haar mit ihrem mütterlichen Blut und begrub ihn unter ihrem Leib. Still lag er unter der warmen, schweratmenden Last der Mutter und rührte sich nicht. Nur noch vier Schüsse klatschten in die Wand. Dann hielt der milchgesichtige Jüngling sein Werk für getan: »Die Türkei den Türken«, krähte er, aber niemand sonst fiel in diesen Triumphruf nach errungenem Sieg ein. Während Sarkis so in sicherer Mutterhut lag, waren seine Sinne zu übermäßiger Schärfe verdammt. Er hörte ein Gespräch, das darauf schließen ließ, daß sich der Truppführer in einem Stubenwinkel abscheulich benahm. »Warum tust du das«, tadelte ihn eine Stimme, »es liegen hier Tote.« Der nationale Überzeugungskämpfer aber ließ sich nicht stören und fauchte: »Noch als Tote sollen sie wissen, daß wir die Herren sind und sie nur Gestank.« Lange schon herrschte tiefe Stille, ehe der blutüberströmte Sarkis unter der Mutter hervorzukriechen wagte. Durch diese Bewegung schien Frau Kilikian aus ihrer Bewußtlosigkeit zu erwachen. Sie hatte kein Gesicht mehr. Aber ihre Stimme war die alte und so ruhig: »Hol mir Wasser, mein Kind.« Der Krug war zerbrochen. Sarkis schlich sich mit einem Glas zum Brunnen im Hof. Als er zurückkam, atmete die Mutter noch, doch sie konnte weder trinken mehr noch reden. – Der Knabe wurde zu reichen Verwandten nach Alexandrette gebracht. Nach einem Jahre schien er alles überwunden zu haben, wenn er auch kaum etwas aß und niemand, selbst die gütigen Zieheltern nicht, mehr als die notwendigsten Worte aus ihm herauspumpen konnten. Lehrer Schatakhian war über all diese Dinge genau unterrichtet, weil es dieselben Alexandretter Bürger waren, die ihm den Aufenthalt in der Schweiz ermöglicht hatten. Später wurde Sarkis nach Edschmiadsin in Rußland an das größte theologische Seminar des armenischen Volkes gesandt. Den Kandidaten dieser berühmten Hochschule stand der Weg zu den höchsten Würden der gregorianischen Kirche offen. Der geistliche Drill, in den sich die Studenten fügen mußten, war eher mild als hart zu nennen. Und dennoch floh Sarkis Kilikian, in dem sich langsam ein wilder, ja krankhafter Freiheitstrieb entwickelte, noch ehe er sein drittes Schuljahr vollendet hatte. Er stand vor seinem achtzehnten Geburtstag, als er in den schmutzigen Gassen von Baku umherirrte, mit nichts anderem ausgestattet als mit seiner alten Seminarkutte und einem vieltägigen Hunger. Es fiel ihm nicht ein, sich an seine Zieheltern um eine Geldsendung zu wenden. Vom Tage seiner Flucht aus Edschmiadsin an blieb der Schützling für jene braven Leute verschollen. Sarkis Kilikian hatte keine andere Wahl, als Arbeit zu suchen. Er fand auch die einzige Arbeit, die in Baku reichlich angeboten wurde, die Sklavenarbeit auf den weiten Ölfeldern, die sich längs der öden Küste des Kaspischen Meeres erstrecken. Dort wurde schon nach wenigen Monaten durch die Macht des Öls und der Erdgase seine Haut gelb und welk. Seine Gestalt dorrte aus wie ein abgestorbener Baum. In Anbetracht seiner Bildungsstufe und Wesensart kann es nicht wundernehmen, daß er in die sozialrevolutionäre Bewegung geriet, die damals die Arbeiterschaft des russischen Orients zu erobern begann, Georgier, Armenier, Tataren, Tjurken und Perser. Wohl hetzte die Zarenregierung die einzelnen Volksstämme immer wieder gegeneinander, konnte aber die einigende Bewegung gegen die Petroleumherren doch nicht brechen. Von Jahr zu Jahr wurden die Streiks umfassender und erfolgreicher. Bei einem dieser Aufstände kam es durch die Kosaken zu einem furchtbaren Blutvergießen. Als Antwort darauf wurde der Gouverneur des Bezirkes, ein Fürst Galitzin, während einer Spazierfahrt meuchlings ermordet. Unter den Angeklagten, denen Verschwörung und Attentat zur Last gelegt wurden, befand sich auch Sarkis Kilikian. In der Verhandlung konnte man ihm so gut wie nichts nachweisen. Kilikian schien ein sonderbarer Politiker gewesen zu sein. Er hatte weder jemals Reden gehalten noch sich in unterirdischen Organisationen hervorgetan. Keiner wußte etwas Bestimmtes über ihn auszusagen. Doch »entlaufener Priesterzögling«, das war eine Klasse für sich, aus ihr kamen die ganz hartgesottenen Empörer. Dies allein schon genügte. Sarkis wanderte auf Lebensdauer in die Katorga von Baku. In dieser Unrat- und Rattenburg wäre er heillos verwest, hätte die Bestimmung ihre Wohltaten für ihn nicht pfiffiger aufgespart. Der Nachfolger des ermordeten Galitzin war ein Fürst Woronzow. Dem neuen Gouverneur, einem unverheirateten Mann, folgte seine Schwester, auch sie unverheiratet, in das Regierungspalais von Baku. Prinzessin Woronzow trug ihre Altjungfernschaft mit großer Härte gegen sich selbst. Tatkräftig und von bestem Willen erfüllt, eröffnete sie in jedem Amtsbezirk, den ihr Bruder bezog, einen eigenartigen Seelenerlösungsbetrieb. Wer gegen sich selbst hart ist, wird es auch meist gegen andre sein, und so hatte sich die hohe Dame im Laufe der Zeit zu einer ausgesprochenen Sadistin der Nächstenliebe entwickelt. Ihr frommes Augenmerk richtete sie, wohin sie kam, zuerst auf die Gefängnisse. Die großen Dichter der russischen Erde hatten gelehrt, daß der Sündenpfuhl die allernächste Nachbarschaft des Gottesreiches bilde. In den Gefängnissen waren es hauptsächlich die jungen Intellektuellen und Politischen, die ihren Eifer weckten. Mit dieser ausgesuchten Schar wurde nun Sarkis Kilikian allmorgendlich in eine leere Kaserne geführt, wo nach Irene Woronzowas Lehrplan und unter ihrer tätigen Mitwirkung die Erlösungskur auch an ihm versucht wurde. Sie bestand teils aus scharfen Exerzierübungen, teils aus moralischem Unterricht. Die Prinzessin sah in dem jungen Armenier den reizvollen Sohn des Teufels selbst. Diese Seele war des Kampfes wert. Die Dame nahm deshalb Kilikian höchstpersönlich an die Kandare. Nachdem der dürre Teufelskörper durch mehrstündig hartes Exerzieren für die Zügelhilfen des Heiles zugeritten war, wurde die Seele an die Longe genommen. Zu ihrer größten Freude bemerkte Irene Woronzowa sehr bald die unglaublichen Fortschritte, die Kilikian auf dem guten Wege machte. Die Stunden mit diesem wortkargen Luzifer begannen sie selbst zu erleuchten. In der Nacht träumte sie oft das Frage-und-Antwort-Spiel des Unterrichtes weiter. Es war selbstverständlich, daß der gelehrige Schüler belohnt werden mußte. Die Prinzessin erwirkte immer mehr Freiheiten für ihn. Mit der Abnahme der Fesseln begann es und endete damit, daß Kilikian, anstatt im Gefängnis, in einem Kämmerchen der leeren Kaserne wohnen durfte. Leider machte er von der guten Freistatt nicht lange Gebrauch. Schon am dritten Morgen nach seiner Übersiedlung war er verschwunden und bereicherte damit die Prinzessin Woronzow um eine bittere Erfahrung im Kriege gegen den Teufel. Wohin kann man aus Russisch-Kaukasien fliehen? Nach Türkisch-Kaukasien! Einen Monat später mußte Sarkis bereits erkennen, daß er als Unzurechnungsfähiger gehandelt und ein Paradies mit der Hölle vertauscht hatte. Als der Halbverhungerte sich in Erzerum nach einer Arbeit umsehen wollte, schleppten ihn die Schergen

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