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mir irgend etwas durch Missak heraufschicken. Ich darf keine Minute verlieren. Und dann, vor der Versammlung will ich keinen Menschen sehen, keinen, verstehen Sie, auch meine Frau nicht!«

      Der Zuzug des Volkes begann schon in den ersten Nachmittagsstunden. Die Muchtars bewachten, wie es verabredet war, die drei Eingänge in der Parkmauer persönlich, um jeden einzelnen Teilnehmer der Versammlung zu begutachten. Diese Vorsichtsmaßregel erwies sich aber als überflüssig, denn Ali Nassif war mit seinem Posten unauffällig, ohne von langjährigen Bekannten Abschied zu nehmen, bereits gegen Antakje aufgebrochen. Auch hatte sich weder die türkische Briefträgerfamilie noch jemand von den muslimischen Anrainern der Dörfer heimlich den nach Yoghonoluk wandernden Scharen angeschlossen. Lange vor der angesetzten Zeit sickerten die letzten Trupps durch das Sieb. Dann wurden die große Einfahrt und die beiden Gartentüren verrammelt. Das Volk drängte sich auf dem großen Freiplatz vor der Villa zusammen. Etwa dreitausend Menschen. Am linken Flügel des Hauses dehnte sich der geräumige Wirtschaftshof, der aber auf Wunsch Ter Haigasuns durch ein paar zusammengeknüpfte Wäscheschnüre abgegrenzt und freigehalten wurde. Auf der gehobenen Rampe des Hauses hatten sich die Notabeln zusammengefunden. Die kleine Treppe, die emporführte, bot eine hinreichende Rednerkanzel. Der Gemeindeschreiber von Yoghonoluk hatte am Fuß dieser Treppe sein Tischchen aufgestellt, um die wichtigsten Beschlüsse aufzuzeichnen. Gabriel Bagradian blieb so lange wie möglich in seinem Zimmer, dessen Fenster ja der Menge abgekehrt waren. Er wollte die innere Fülle, die ihn beherrschte, nicht vorzeitig durch unverbindliches Gerede verzetteln. Er trat erst aus dem Hause, als schon Ter Haigasun nach ihm gesandt hatte. Fahle, niedergebrannte Gesichter vor ihm, nicht dreitausend, sondern ein einziges. Das hoffnungslose Gesicht der Austreibung, hier wie an hundert anderen Orten zu dieser Stunde. Die Masse stand, ohne daß es nötig war, so qualvoll zusammengepreßt, daß sie kleiner wirkte, als es ihrer Zahl entsprach. Nur weit dahinten, wo alte Bäume die Freiung abschnitten, hockten, lagen, lehnten einige, von der Menge abgelöst, als gehe sie ihr eigenes Leben nichts mehr an.

      Als Gabriel dieses Volk, das sein eigenes Volk war, überschaute, wandelte ihn ein plötzliches Entsetzen an. Sein Herz kam angstvoll aus dem Takt. Wieder einmal war die Wirklichkeit völlig verschieden von dem Begriff, den er sich von ihr gemacht hatte. Dies waren nicht dieselben Menschen, die er täglich in den Dörfern sah, die den Gegenstand seiner kühnen Berechnungen bildeten. Tödliche Strenge und Bitterkeit starrte ihn aus aufgerissenen Augen an. Gesichter rings wie gedörrte Früchte. Selbst die Wangen der Jugend dünkten ihn gefurcht und faltig. War er auf seinen Forschergängen in den Bauern- und Handwerkerstuben gesessen, so hatte er die Wahrheit ebensowenig gesehen wie ein Reisender, der eine Ortschaft im Wagen durchquert. Jetzt erst in dieser mächtig aufhorchenden Stunde geschah die erste Berührung zwischen dem Entwurzelten und seinem Stamm. Alles, was er in seinem Zimmer durchdacht und ausgearbeitet hatte, kam ins Schwanken. So fremd, so unheimlich war der Anblick derer, die er mit sich reißen wollte. Frauen, die noch ihr Sonntagsgewand mit seidenen Kopftüchern trugen, Münzenschmuck um den Hals und klappernde Hülsen von Armbändern an den Gelenken. Manche waren auf türkische Art gekleidet. Ihre Beine steckten in weiten Pluderhosen und über die Stirn hatten sie den Feredjeh gezogen, obgleich sie fromme Christinnen waren. Die Nachbarschaft brachte solche Angleichungen mit sich, besonders in den äußeren Dörfern, wie Wakef und Kebussije. Gabriel sah die Männer in ihren dunkeln Entaris, auf den bartumrahmten Häuptern den Fez oder die Fellmütze. Da es warm war, hatten einige das Hemd geöffnet und zeigten die Brust. Sonderbar hell leuchtete die Haut unter den verbrannten, vogeldürren Bauernhälsen. Die weißen Prophetenköpfe blinder Bettler tauchten da und dort aus der Masse wie eine neugierige Schuldforderung an den Jüngsten Tag. Ganz vorne stand Kework, der Tänzer mit der Sonnenblume. Auch der Gesichtsausdruck des Kretins glich nicht mehr einem diensteifrigen Lallen, sondern einem Vorwurf, der von dieser zu jener Welt hinüberreichte. Gabriel fuhr mit eiskalter Hand über den englischen Stoff seines Anzugs. Wie Brennesseln rührte er sich an. Und zugleich wuchs die Frage: Warum gerade ich!? Wie soll ich zu ihnen sprechen!? Was maße ich mir an? Wie eine Sonnenfinsternis fuhr die Verantwortung, die er auf sich nahm, mit Fledermausschatten über ihn hin. Ein schäbiger Gedanke: Weg von hier! Noch heute! Gleichviel wohin! Ter Haigasun begann seine ersten Worte langsam in die Massen einzuschlagen. Immer vernehmlicher hafteten sie in Gabriels Ohr. Worte und Sätze gewannen Sinn. Die Sonnenfinsternis wich von seinem Himmel.

      Ter Haigasun stand regungslos auf der höchsten Stufe. Nur die Lippen und das Kreuz auf seiner Brust bewegten sich leicht, während er sprach. Die spitze Kapuze verdunkelte sein Wachsgesicht, aus dessen tiefen Backengruben der schwarze Bart mit den beiden grauen Strähnen drang. Die Augen, die er geschlossen hielt, bildeten zwei rätselhafte Schatten. Er sah aus, als erlebe er in dieser Stunde nicht den Beginn des Unausdenklichen, sondern habe es schon durch- und ausgekostet, und jetzt, ans Ziel gelangt, werde er sich endlich hinlegen dürfen. Obgleich das Armenische wie alle östlichen Sprachen zu Feierlichkeit und Bilderprunk verführt, redete er in knappen, beinahe trockenen Sätzen: Die Absicht der Regierung müsse genau erkannt werden. Unter den älteren Menschen hier gebe es wohl keinen, der nicht die Metzeleien der früheren Zeit verspürt habe, wenn nicht am eigenen Leib, so doch in dem Todesleiden von Anverwandten drüben in Anatolien. Dabei habe Christus mit unverdienter Huld über dem Musa Dagh gewacht. Gesegnete Jahre lang sei Frieden in den Dörfern gewesen, während zu gleicher Zeit die Volksgenossen in Adana und anderswo zu Zehntausenden abgeschlachtet wurden. Man müsse aber genau unterscheiden zwischen Massaker und Austreibung. Ersteres daure vier, fünf, schlimmstens sieben Tage. Der Tapfere finde immer Gelegenheit, sein Leben teuer zu verkaufen. Schlupfwinkel für Frauen und Kinder seien rasch vorbereitet, der Blutdurst des rasenden Militärs verrauche bald, selbst den tierischesten Saptieh ergreife nachher Ekel. Die Regierung habe diese Metzeleien zwar immer selbst veranstaltet, sich aber nie zu ihnen bekannt. Sie entstanden aus der Unordnung und gingen in der Unordnung unter. Die Unordnung sei aber noch der beste Teil dieser Schurkereien gewesen und das ärgste Schicksal der Tod. Nicht so die Austreibung! Hierbei könne sich noch derjenige beglückwünschen, der durch den Tod, auch den grausamsten, von ihr erlöst werde. Die Austreibung gehe nicht vorüber wie ein Erdbeben das immer noch einen Teil der Menschen und Häuser verschont. Die Austreibung werde so lange dauern, bis der Letzte des Volkes durch das Schwert getötet, auf der Landstraße verhungert, in der Wüste verdurstet, von Cholera und Flecktyphus hinweggerafft sei. Diesmal herrsche nicht regellose Willkür und aufgepeitschter Blutrausch, sondern etwas weit Entsetzlicheres – Ordnung. Alles verlaufe nach einem in den Ministerien von Stambul ausgearbeiteten Plan. Er, Ter Haigasun, wisse von diesem Plan seit Monaten, lange noch, bevor das Zeitun-Unglück ausbrach. Er wisse auch, daß alle Anstrengungen des Katholikos, des Patriarchen und der Bischöfe, die Bitten und Drohungen der Botschafter und Konsuln nichts gefruchtet hätten. Das einzige, was er, als armer kleiner Priester, habe tun können, war schweigen, unter Wissensqualen schweigen, damit die letzte gute Lebenszeit seiner armen Pfarrkinder nicht zerstört werde. Diese Zeit sei endgültig zu Ende. Nun müsse man der Wahrheit ohne Selbstbetrug ins Auge sehn. Niemand möge bei der Aussprache mit törichten Vorschlägen kommen, an die Behörden Bittgesandtschaften abzuschicken und dergleichen. Unsinnige Zeitvergeudung wäre das: »Menschliche Gnade gibt es nicht mehr. Christus, der Gekreuzigte, fordert die Nachfolge seines Leidens. Es bleibt für uns gar nichts anderes übrig, als zu sterben ...«

      Hier schaltete Ter Haigasun eine kaum merkliche Pause ein, ehe er mit verändertem Ausdruck schloß:

      »Es fragt sich nur, wie!«

      »Wie sterben?? ...«, schrie Pastor Aram Tomasian und schnellte neben Ter Haigasun vor, »ich weiß, wie ich sterben werde. Nicht wie ein wehrloser Hammel, nicht auf der Landstraße nach Deïr es Zor, nicht im Kot der Deportationslager, nicht am Hunger und nicht an der stinkenden Seuche, nein, auf der Schwelle meines Hauses werde ich sterben, mit der Waffe in der Hand, dazu wird mir Christus helfen, dessen Wort auch ich künde. Und mit mir soll mein Weib sterben und das Ungeborene in ihr! ...«

      Dieser Ausbruch hatte Arams Brust fast zersprengt. Er preßte die Hand aufs Zwerchfell, um seinen Atem zu sammeln. Ruhiger geworden, hob er nun an, das Schicksal der Ausgetriebenen zu beschreiben, wie er es selbst, wenn auch nur zum geringsten Teil und in mildester Form, erlebt hatte:

      »Was das ist, weiß niemand vorher, niemand kann es ausdenken. Man weiß es erst im letzten Augenblick, wenn der Offizier den Abmarsch befiehlt, wenn die Kirche und die Häuser, nach denen man

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