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zur Menge, Aufstellung nahm. Die vom Weinen geschüttelte Frau folgte. Wiederum eine noch länger gedehnte und noch hohlere Frist, in der kein Wort fiel. Dann erst lösten, sich ein paar Menschen aus dem Kern der Menge, drängten sich durch und traten, den Zwischenraum mit demselben zaghaft versonnenen Schritt durchmessend, hinter Pastor Nokhudian. Erst waren es nur wenige, die Ältesten der protestantischen Gemeinde von Bitias mit ihren Frauen. Mit der Zeit aber wurden es immer mehr, die sich für die Verbannung entschieden, bis der Pastor am Ende fast seine ganze Herde beisammen hatte, Junge und Alte. Dieser schlossen sich überdies noch einige Personen aus den anderen Dörfern an; doch das waren ausschließlich alte und beladene Leute, denen die Kraft zum Widerstand schon fehlte oder die wirklich den Himmel am Abend ihres Lebens nicht wider sich aufbringen wollten. Die Hände wie zum Gebet vor die Brust gefaltet, taten sie jetzt den ersten Schritt auf dem großen Passionsweg. Das geschah alles so gemessen, so ganz inwendig, daß es nicht den Eindruck eines folgenschweren Entschlusses, sondern einer religiösen Zeremonie erweckte: als ob es den Menschen beschieden sei, ohne sich erst zum Sterben auszustrecken, schreitenden Fußes ins Grab zu steigen. Einer. Und wieder einer. Ein Paar. Und dann mehrere. Dann wieder ein Paar. Nokhudians Schar mochte zum Schluß etwa vierhundert Seelen umfassen, jene Mitglieder der protestantischen Gemeinde ungerechnet, die aus Krankheits- oder anderen Gründen hatten zu Hause bleiben müssen. In ihnen nahm der Pastor einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung von Bitias, dem zweitgrößten Ort des Tales, mit sich. Die große Masse verfolgte den stockenden Gang ihrer Landsleute, die sich zum Gehorsam entschieden, mit gebannten Augen. Kein Wort, kein Laut störte. Der letzte aber, der mit großer Verspätung zu Nokhudians Truppe stieß, war ein verhutzelter Mensch, der an seinem Stock wie ein Betrunkener schwankte und mit sich selbst sprach. Diese den Leuten wohlbekannte Spottgestalt aus Kebüssije, die wahrscheinlich gar nicht verstand, worum es ging, löste in der großen Menge eine häßliche und überhebliche Regung aus. Ursprünglich war's nur der Anblick des Verblödeten, der zum gewohnten Mutwillen reizte. Dann aber trat der Hochmut dazu: Hier sind die Tapferen und dort die Feigen! Hier stehen die Starken, die Vollgültigen, und dort die Krüppel. Es geschah weiter nichts, als daß ein Jugendlicher irgendein lautes Hohnwort ausstieß, von dem sich ein wellenförmiges Lachen über die ganze Versammlung verbreitete. Ter Haigasun aber sprang mit einem Satz in die festgekeilte Masse, die er mit beiden Armen zerteilte, als wolle er bis zu dem Kern der Gemeinheit, dem Spötter selbst vordringen, ihn herausholen und züchtigen. Sein Gesicht war dunkel vor Zorn. Die Kapuze fiel von dem kurzen eisengrauen Haar zurück. In seinen Augen funkelte Mord:

      »Welcher Hund wagt es? Welche Teufel lachen!?«

      Er schlug die Faust mehrmals heftig an seine Brust, um wenigstens für die Spötter sich selbst zu strafen und seine Wut zu beruhigen. Dann aber ging er in der neuen Stille auf Harutiun Nokhudian und seine Schar zu, blieb in einiger Entfernung stehn, verbeugte sich tief und sagte mit seiner schallenden Priesterstimme:

      »Ihr werdet für uns immer heilig sein. Mögen auch wir heilig sein für euch!«

      Bagradians Geist fieberte. Ein ungedämmter Strom von Einfällen riß ihn fort. Das große Verteidigungswerk arbeitete leidenschaftlich in ihm weiter. Da die Entscheidung gefallen war, folgte er den Vorgängen nur mit halbem Ohr. Sein aufgepeitschtes Hirn dachte und beobachtete zugleich. Welch ein ehrfurchtgebietender Riese konnte dieser Ter Haigasun sein, der sonst die Augen niederschlug, wenn man mit ihm sprach. Unschätzbar ist es, blitzte es in ihm auf, daß ich für den Kampf diese bodenständige Autorität in meinem Rücken haben werde. Auch daß der gute Nokhudian und ein paar hundert Kampfuntaugliche sich anders entschlossen haben, ist für uns ein Glücksfall. Sie haben die wichtige Aufgabe, vor den Saptiehs unsre Absichten und Bewegungen zu verschleiern, bis zum letzten Augenblick. Die Dörfer dürfen nicht leer sein. Die Türken sollen erst dann Verdacht fassen, bis wir für den Angriff gerüstet sind. Unaufhörlich verwoben sich die Dinge in Gabriels Plan. Der rechnende Verstand seiner Ahnen, Großvater Awetis' Klugheit kam nun auch in dem weltfremden Enkel zum Vorschein, in diesem ahnungslosen Idealisten, als welchen ihn die geriebenen Kaufleute der weiteren Verwandtschaft immer belächelt hatten. Jeder gedachten Tatsache entspann sich ein unentwirrbares Fadengespinst von Folgen, und nicht ein einziger Faden war unwesentlich. Ein ungestümer Ehrgeiz hatte sich Bagradians bemächtigt. Drei Tage nach dem heutigen Sonntag, am Mittwoch also, würde nach Ali Nassifs Geständnis der Müdir mit seinen Leuten kommen. Bis Mittwoch mußte mithin alles den Grundzügen nach fertig sein, um in den restlichen Tagen ausgebaut zu werden. Jetzt war die Stunde gekommen, den Glauben seines ganzen Lebens zu erproben, daß der Geist über den Stoff siegen müsse, auch über die gesteigerten Erscheinungsformen alles Stofflichen, über die Gewalt und den Zufall.

      Es war kein Wunder, daß er, von planender Phantasie umfangen, von trunkenem Selbstgefühl erfüllt, Frau und Kind vergaß und für das äußere Getriebe ringsum keine Sinne mehr hatte. Dies alles war nur mehr Zeitverlust. Es sprachen wohl noch einige Redner aus dem Volke. Doch was gingen ihn ihre leeren ungelenken Worte an, da der große Entschluß endgültig gefaßt war? Es wurde immer die gleiche kampfanfeuernde Rede gehalten, für die Gegenpartei erhob sich keine Stimme mehr. Ter Haigasun ließ die Leute eine geraume Zeit gewähren, damit sich der tapfere Geist der Entscheidung in der Masse tiefer verankere und auch die Zaghaften und Bedenklichen mitreiße. Bevor aber noch die erste Ermüdung drohte, trat er vor, unterbrach den Redereigen und ordnete an, daß die Wahl der Führer vollzogen werde. Der Gemeindeschreiber von Yoghonoluk ging mit einem Korb herum und sammelte die Stimmzettel. Unverzüglich nahmen dann die Lehrer mit Hilfe Awakians im Hause die Zählung vor. Naturgemäß fielen die meisten Stimmen auf Ter Haigasun. Gleich hinter ihm kam Doktor Altouni, dann die sieben Muchtars und drei Dorfpriester mit den Stimmen ihrer Gemeinden. Dann folgten in einem gewissen Abstand Apotheker Krikor und einige Lehrer, darunter natürlich Schatakhian und Oskanian. Gabriel Bagradian erhielt ungefähr ebensoviel Stimmen wie Pastor Aram Tomasian. Von unbeamteten Dorfbürgern waren es der alte Tomasian und Tschausch Nurhan, der längerdienende Unteroffizier, die in den Führerrat entsandt wurden. Auch eine Frau, Mairik Antaram, erhielt eine große Anzahl von Stimmen, was wahrlich hierzulande eine Neuerung war. Sie lehnte aber die Wahl mit Entschiedenheit ab. Lehrer Schatakhian verlas das Ergebnis. Die Gewählten zogen sich daraufhin in das Haus zurück, um ihre Körperschaft zu konstituieren. Gabriel hatte durch Kristaphor und Missak im großen Selamlik für die Sitzung alles Nötige vorbereiten lassen, einen Imbiß, Wein und Kaffee. Die Menge – bis auf jene Mütter, die für kleine Kinder daheim zu sorgen hatten – blieb auf dem Platz und lagerte sich weithin in dem großen Garten. Man schickte nach Yoghonoluk um Eßwaren. Der Hausherr ließ Wasser, Wein, Früchte und Tabak verteilen. Bald stieg mit dem allgemeinen Geschwätz der Rauch von Zigaretten und gemächlichen Tschibuks in die Abendluft, als wäre nichts geschehen. Die Anhänger Pastor Nokhudians brachen mit ihrem Führer auf, um nach Bitias heimzukehren. Dies war ein schweigsames und trauriges Sichhinwegstehlen. Einige jüngere Leute aus dieser Schar kehrten am Gartenausgang wieder um und gesellten sich zu dem großen, lagernden Volk, dessen Lebenslust nach Wochen der Betäubung zum erstenmal wieder zu erwachen schien. Jetzt, in der knappen Frist zwischen dem Gewohnten und dem namenlosen Wagnis, erfüllte ein unbegreifliches Behagen alle Seelen. Warum? Weil vor ihnen nicht mehr das Leiden allein lag, sondern in und über dem Leiden die Tat.

      Die Nacht des Musa Dagh saugte schnell die Julidämmerung auf. Der waagrechte Halbmond stieß sich von den Gipfelschroffen des Amanus im Osten ab und fuhr frei in den Raum hinaus. Das Tor der Villa Bagradian stand weit offen. Neugierige gingen ungehindert ein und aus. Im großen Empfangszimmer hatten sich die Führer des Volkes versammelt. Dieser Führerrat, eine Runde von etwa zwanzig Männern, machte zunächst selbst einen ratlosen Eindruck. Die fremden Dorfschulzen, Priester und Lehrer, die zum erstenmal in diesem Hause waren, saßen und standen wortlos umher. Manchem unter ihnen mochte jetzt erst die ganze Tollheit bewußt werden, in die sie durch den unerwarteten Verlauf der großen Versammlung gedrängt worden waren. Gabriel Bagradian spürte sofort die brenzlige Luft der Mutlosigkeit, die von einem Teil dieser Gemeinschaft ausging. Es durfte nicht geduldet werden, daß die Lauen »zur Besinnung« kamen, daß grundsätzliche Wenn und Aber laut wurden. Das Volk hatte seine rechtmäßige Entscheidung getroffen, ein Schwanken gab es nicht mehr, die Glut des Verteidigungswillens mußte zur steilen Flamme angefacht werden. Es war Bagradians Pflicht, als Herr des Hauses, dem formlosen Zusammenstehn dieser erkalteten Männer ein Ende zu setzen, die Beratung in Gang zu bringen und für fruchtbare Arbeit

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